Die Hoschköppe / Prolog - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / Prolog

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Prolog


Mittwochmorgen, kurz nach 7 Uhr. Ich stehe am offenen Fenster und knöpfe mir das Hemd zu. Es ist leicht und bunt, denn der Tag soll heiß werden. Ich kann mir Zeit lassen, muss erst um 9.45 Uhr in Warnemünde sein. Die Sträucher unterm Fenster sind in den vergangenen Jahren maßlos geworden. Im Grün lärmt das Vogelvolk. Eine Beschneidung täte not, dann wäre Ruhe. Bliebe nur noch das ohrenbetäubende Gekreische und Gejohle der ausgelassenen Gören im Kindergarten da drüben. Ein verirrter Schwarm wilder Tauben kreist im Tiefflug über den großflächigen Innenhof. Vom Lärm der Kinder fortgejagt, erhebt er sich bis über die Dächer und verschwindet irgendwo im Hellblau des Himmels. Die Fenster des gegenüberstehenden Häuserblocks werden von der bereits hochstehenden Morgensonne vergoldet. Unwillkürlich suchen meine Augen immer wieder ein ganz bestimmtes Fenster, das sich aber hinter den ausladenden Zweigen eines Sanddornstrauches, der aus der Kindergartenhecke weit herausragt, zu verstecken sucht. Mei-ne Blicke verweilen auf diesem Fenster, das von den Zweigen und Blättern in ein unvollständiges Puzzle zerlegt ist, schweifen davon ab, um wenig später zurückzukehren. Dieses verdammte Fenster, das zum Fluchtpunkt meiner Sehnsucht geworden war, hatte mich in all den vergangenen Jahren nicht losgelassen und wird es auch in Zukunft nicht tun. Jeden Frühling hatte sich die Hecke aufs Neue begrünt, hatte im Herbst die Farbe gewechselt und schließlich, als es kalt geworden war, ihr welkes Kleid abgeworfen. Ich habe viel Zeit damit vertan, ihr dabei zuzusehen, zu beobachten, wie sie sich langsam in die Höhe gearbeitet hat. Es steht nicht in meiner Macht, mich von diesem Fenster für immer abzuwenden, obwohl schon lange fremde Leute dahinter wohnen. Nur aus Liebe zu dir war ich dir damals aus dem Weg gegangen. Du solltest mich nicht hassen lernen.
Ich trete näher ans Fenster heran, lege beide Hände aufs Fensterbrett und beuge mich etwas hinaus. Unten blüht es noch vereinzelt in mattem Gelb, an einigen Zweigen hängen bereits papierdünne, halbseidene Schoten. Jemand hat bereits in aller Frühe bunte Wäsche zum Trocknen auf die Leine gehängt. Im kniehohen Gras zeichnen sich noch die Spuren ab. Von den beiden angerosteten Wäschestangen, die sich parallel zum Haus erstrecken und zwischen denen die Leinen gespannt werden, ist die hintere von der Kindergartenhecke gänzlich vereinnahmt worden. Die Leinen endeten auf der Seite in einem dunkelgrünen Urwald, in dem vorpubertäre Buben eine schummrige und gut besuchte Raucherinsel unterhalten. Links steht hinter dem betonierten Weg noch immer die Teppichstange. Die Jahre haben auch sie von unten her angefressen und anschließend mit feinporigem Rost überzogen. Sie ist nur noch von einer Seite zugänglich, denn auch dort ist das Strauchwerk zu einem wahren Dickicht herangewachsen. Ich drehe mich zurück ins Zimmer und betrachte das Buch, das ich dir verdanke und nun fertig auf dem Tisch liegt. Wir sind wie Bücher, hast du gesagt, glaube ich mich zu erinnern, in denen wir je nach Belieben herumblättern oder sie angeödet in die Ecke werfen. Oft hast du davon gesprochen, in diesem Buch zwar gelesen, es aber nie wirklich in deinen Händen gehabt zu haben. Ich betrachte den billigen Umschlag.
Dieses Buch enthält zwischen seinen weichen Einbanddeckeln unsere ganze, einzige und wahre Geschichte. Wer will, kann sie als eine Art Krankenbericht lesen. Alles fing mit einem geilen Jucken an und endete mit heftigen Schmerzen.



Es ist jetzt gegen 19 Uhr. Jochen und ich sitzen vor der Flimmerkiste, in der gerade ein aufgezeichneter Film läuft. Wir sehen uns aber an, denn es klingelt an der Wohnungstür. Dirk überrascht uns mit seinem mehr oder weniger regelmäßigen Besuch. Mitunter bleibt er wochenlang fern, ohne auch nur das Geringste von sich hören oder sehen zu lassen, und dann gibt es Zeiten, in denen er uns jeden Abend aufsucht. Dann erzählt er immer, er habe nach Schulschluss den halben Nachmittag mit einem Mädchen in Warnemünde verbracht. Angeblich seine Freundin! Arm in Arm und eng umschlungen. Aber wenn er dann vor unserer Tür steht, hat er immer das Funkeln einer läufigen Wölfin in den Augen, die um einen Hundezwinger schleicht, willens, alles zu verschlingen. Außer Nahrung!
Dirk pflanzt sich vorerst in den Sessel am Fenster und sieht uninteressiert, aber schweigend auf das grobkörnige Fernsehbild.
„Habt ihr nun das Tanzstudio gewechselt?“ Ich bemühe mich, ein Gespräch einzufädeln.
„Ja.“
Dirks Veranlagung ist durchaus nicht die der Einsilbigkeit. Er will sich nur nicht auf eine langwierige und die Zweckerfüllung seines Besuches unnötig hinausschiebende Konversation einlassen, denn seine Eltern legen altmodischerweise großen Wert darauf, dass ihr Sohn abends frühzeitig nach Hause kommt.
„Und an welchen Tagen habt ihr jetzt Training?“, bohrte ich weiter, während Jochen, rechts neben mir sitzend, schweigsam und abwartend bleibt.
„Dienstags und donnerstags.“
Nach einer kurzen Atempause steht Dirk auf, geht zum Fernseher und setzt sich davor auf den Boden, um den Giftschrank zu öffnen und sehr wählerisch zwischen den dort verstauten Videoschachteln zu wühlen. Sein Geschmack ist nur schwer zufriedenzustellen, denn er bevorzugt, im Gegensatz zu seinen Gastgebern, starke, muskulöse Körper. Und die kann er in dieser Wohnung, wenn überhaupt, nur hier finden.
Nachdem er seine Wahl getroffen hat, fragt er, mit einer Schachtel wedelnd und auf den Fernseher deutend: „Wollt ihr den Film noch zu Ende sehen oder kann ich ein anderes Video einlegen?“
Er tut es einfach, ohne die Antwort abzuwarten, denn er kann Gedanken lesen, nimmt die Fernbedienung und setzt sich links neben mich auf die Couch. Ungeduldig überspringt er den aufklärenden Vorspann, um möglichst schnell an die erste entscheidende Szene des Videos vorzudringen. Er weiß auch seit seinen ersten Besuchen, wo in diesem Haushalt der relativ bescheidene Vorrat an einschlägigen Heften aufbewahrt wird. Aus den Lautsprechern des Fernsehers tönt indessen ein lauteres Schmatzen und Stöhnen. Es füllt das ganze Zimmer und dring bis ins Treppenhaus, will aber nicht so recht zum Video passen. Dirk blättert ungeduldig ein Heft nach dem anderen durch, wobei er gleichzeitig wie ein Chamäleon das eine Auge auf den Bildschirm und das andere auf die Seiten des Heftes gerichtet hält. Da seine Besuche stets in gleicher Reihenfolge ablaufen, ist es nur noch eine Sekundensache, bis er aufsteht, ins Bad geht und dort erst den Wasserhahn über dem Waschbecken und dann vollkommen überflüssigerweise auch noch die Toilettenspülung in Gang setzt. Diese kleine, aber nicht unbedeutende Geste macht ihn aus hygienischer Sicht nur noch liebenswerter. Wir sind längst von der inneren Unruhe überwältigt, die Dirks Nähe stets verbreitet und ihn wie ein Kraftfeld umgibt, was sich bei mir auch äußerlich sichtbar macht, denn nach dem Duschen hatte ich mir nur eine Jogginghose angezogen. Wie erwartet legt Dirk die Hefte aus der Hand und geht ins Bad, um das eben beschriebene Ritual ablaufen zu lassen. Wenig später kommt er ins Zimmer zurück. Er ist noch immer bemüht, seinen bockenden Hosenstall zuzumachen. Und weil es ihm bis zur Couch nicht gelingen will, gibt er es ganz auf. Auch dies gehört noch zum Zeremoniell. Sein schlanker Körper steckt bis zum Bauchnabel in einer schlapprigen Jeans. Sie ist ihm über den Hüften etwas zu weit, sodass der schwache Gürtel Mühe hat, alle Falten des Hosenbundes zusammenzuhalten. Nichts, aber auch absolut nichts verrät dem Außenstehenden von dem großen und sündigen Geheimnis, das sich darin verbirgt. Es ist die Erfahrung, die den Taucher zur hässlichen Auster greifen lässt, um dann eine Perle darin zu finden. Ich spreche jetzt wohlgemerkt von der rauhschaligen Jeans, in deren Kern die schönste Perle ruht, die wir beiden Juweliere je gesehen haben. Dirk selbst muss man mit einer langstieligen und edlen Calla vergleichen, will man ihm gerecht werden.
Dirk setzt sich auf die vordere Kante des hellgrünen Polsters, spreizt die Beine und lehnt sich so weit wie möglich zurück. Er wartet. Jede zeitraubende Zurückhaltung aufgebend, Jochen sitzt noch immer unbeteiligt in der anderen Ecke, greife ich beherzt zu.
Ich ziehe den inzwischen nackten Jungen auf meinen Schoß und erkläre: „Damit Joschi besser rankommt!“
„So ist es aber unbequemer für mich“, stellt Dirk sogleich fest.
Jochens Gefühlsäußerung beschränkt sich aufs Händchenhalten.
„Wir legen uns lieber hin“, empfiehlt Dirk und geht zur Liege. Er schiebt sich einen Stapel Kissen unter den Kopf, um den Fernseher besser im Auge behalten zu können, und erwartet neuerlich, dass man sich um ihn kümmern wird.
Nun nimmt sich Jochen seiner an. Er hat zwar nicht grundsätzlich etwas dagegen, dass ich hin und wieder Hand an ihn lege, aber er legt Wert auf die Feststellung, wer in diesem Fall die Priorität besitzt. Dirk ist es einerlei, wer ihn zum Ziel führt, geschieht es nur intensiv genug und in der vorgegebenen Zeit, was sich mit Jochens unersättlicher Lust immer sehr gut vereinbaren lässt. Dem ist es allerdings lieber, wir hätten die große Freiheit, dem ersten Höhepunkt weitere folgen zu lassen oder eine ganze Nacht anzuhängen. Ich will es sanfter, wenn auch nicht kürzer. Jochen möchte ihm aber nicht nur billige Befriedigung verschaffen, die vielleicht bei dem jungen Dirk noch im Vordergrund stehen mag, sondern ihm auch etwas von seiner unerschöpflichen Liebe abgeben. Aber für die Liebe hat sich bisher weder eine Gelegenheit, noch haben wir die dafür notwendige Zeit gefunden. Beides wird sich vielleicht erst später ergeben.
Dirk und Jochen waschen im Bad die Spuren ihres Treibens fort. Brust und Bauch sind wieder glattgeleckt wie das Warnemünder Ostseeufer, über das gerade eine sanfte Welle verspielt hinweg gerollt ist. Unser Besuch verabschiedet sich: Das erste Mal, ohne nach ein paar Zigaretten oder ein paar Mark für die ihm erwiesene Wohltat zu fragen. Das Geld wäre natürlich, wie immer, nur geborgt gewesen. So bleibt stets der Anschein gewahrt und wir verschmerzen den winzigen Verlust gern. Schließlich befinden wir uns nicht im freien Wettbewerb, wo sich Käufer und Verkäufer unerbittlich gegenüberstehen. Wir verbuchen dies als einen ersten kleinen Erfolg unserer Erziehungsbemühungen, denn wir haben abwechselnd und mit penetranter Stetigkeit versucht, ihm den Genuss von Zigarettenqualm zu verleiden. Wir selbst rauchen schließlich auch nicht.
„Na, Mäuschen …“, meine ich vielsagend, als sich Jochen wieder zu mir gesellt.
„Ja, was gibt es?“, fragt er und beginnt, sein Bett vorzubereiten.
„Hast du schon eine Idee, was du ihm zum Geburtstag schenken willst?“
„Nein.“
„Es wird aber langsam Zeit! Wie wäre es mit Jeff? Das unnütze Ding ist hier nur im Wege und er bekäme endlich was Ordentliches in die Finger.“
„In die Finger?“ Jochen muss lachen.
„Wir binden da eine hübsche Schleife drum und fertig. Was will er mehr?“
„Meinst du nicht, das wäre gewaltig übertrieben?“ Jochen grinst.
„Die Schleife?“, frage ich.
„Nein, das Stück Gummi. Ist das nicht zu viel für den Kleinen?“
„Ach, du hast das schon ausprobiert?“
„Nein, natürlich nicht! Ich dachte nur …“
„Ich denke nicht. Auf so was steht er doch gerade. Und außerdem, wie sieht das aus, wenn wir davon ein Kilo wegschneiden würden. Blöd! Ganz einfach blöd. Blöd und böse. Sei doch mal großzügig und nicht so pingelig.“
„Raymond hat übrigens auch Geburtstag. Auch am Ende des Monats. Ich glaube beinahe am selben Tag. Da liegt ein Brief von ihm, der ist heute gekommen.“ Jochen weist auf die Korkschnitzerei aus China, neben der der Brief steht.
„Das sagst du mir erst jetzt?“, beschwere ich mich.
„Hatte ich total vergessen.“
„Du hast nur noch Dirks Lanze im Kopf. Für mehr, scheint darin kein Platz zu sein.“ Ich nehme Raymonds Brief und lese.

Hallo Joschi + Friedel!
Nun melde ich mich auch mal wieder, diesmal aus Schwerin, von da, wo
einen die Wege so hinführen. Habe in letzter Zeit schon öfter versucht,
Euch zu erreichen. So auch vorletztes Wochenende. Da habe ich meine
Eltern besucht. Ihr zwei ward leider nicht zu Hause. Habe mich ja schon
echt lange nicht mehr bei Euch blicken lassen, Euch aber nicht vergessen.
Das ich bei Euch nicht vorbeikommen konnte hat seinen Grund darin, daß  ich jetzt in Schwerin bin. Und der Grund dafür ist Olaf, mein neuer Freund.
Er will, daß ich in Schwerin bleibe. Und ich selber natürlich auch. Suchen  jetzt 'ne eigene Wohnung für uns, haben schon Annoncen aufgegeben
usw. WBS für Schwerin habe ich auch schon. Ist echt ein ganz schönes
Gerenne, habe schon alle möglichen Ämter abgeklappert. Muß mich noch
ummelden. Mit dem Arbeitsamt ist schon alles klar. Meine Akten aus Ros-
tock sind schon hier. Jetzt fange ich vielleicht an, auf'm Markt zu arbeiten
wie in Groß Klein. Versuche nebenbei entweder feste Arbeit zu finden oder
fange übers Arbeitsamt 'ne neue Lehre an, als Rechtsanwaltsgehilfe, dau-
ert 20 Monate mit Praktikum. Zur Zeit wohne ich bei einer Freundin. Ihr
könnt mir ruhig mal schreiben, würde mich echt freuen. Wenn ich wieder
in Rostock bin, versuche ich natürlich, Euch zu erreichen.
Ich hoffe bis dann                 Euer Raymond

„Ich dachte, den gibt es gar nicht mehr. Olaf: Das hört sich gut an oder? Ich kannte auch mal einen Olaf in Prenzlau“, sage ich. „Genau genommen sogar zwei.“
„Der hat uns wenigstens nicht vergessen! … nicht so, wie gewisse andere Leute.“
„Wen meinst du mit ‘gewisse andere Leute’?“, frage ich.
„Du weißt schon, wen ich meine. Du brauchst nur zum Fenster hinaussehen. … deinen Thomas natürlich.“ Jochen liegt bereits in der Falle und kehrt mir den Rücken zu. Damit deutet er an, dass der Abend, und damit auch das Gespräch, beendet ist.
„Was heißt hier mein Thomas? Er war ebenso gut dein Thomas.“
„Mein Thomas, dein Thomas: Thomas war vielleicht für alle da!“
„Er wäre bestimmt verletzt, wenn er das gehört hätte“, sage ich und lächle in mich hinein, was Jochen nicht sehen kann. War er wirklich für alle da gewesen? Vergessen hat er uns aber ganz sicher nicht!



Unerbittlich ist der Freitag herangerückt. Die Wochenendsonne, die brennend am Himmel steht, fordert uns auf, die Strandsachen einzupacken und an den Strand zu fahren. Es ist Nachmittag. Jochen hat bereits um halb 3 Feierabend, mein Unterricht endet 30 Minuten später. Wir haben verabredet, uns am Strand zu treffen. Jochen will vorfahren und dort auf mich warten.
Ich fahre mit meinem alten Fahrrad den grasbewachsenen Weg hinter der Steilküste hinauf, vorbei an den von Tarzan II und Goldbrille belegten Liegeplätzen. Der durchschnittlich fünf Meter breite Streifen zwischen Steilufer und Weg ist mit Sträuchern und Bäumen dicht bewachsen. Darin gibt es eine begrenzte Anzahl handtuchgroßer Lichtungen, die gern von ausschließlich männlichen Badegästen benutzt werden. Da der Weg von dort nicht einsehbar ist, muss deren Bewohner, will er, einem bedingten Reflex folgend, wissen, was draußen auf dem Weg vor sich geht, ans Licht kommen. Das Klappern meines Fahrrades lässt darum hier und da bekannte Köpfe auftauchen und gleich wieder enttäuscht verschwinden, wenn sie mich sehen. Ich fahre weiter bis zum Beginn des ehemaligen Sperrgebietes, wo sich in strategisch günstiger Lage und in unmittelbarer Nachbarschaft des steil abfallenden Hanges unsere bevorzugte Liegestelle befindet. Sie ist durch einen vorgeschobenen Keil aus Kartoffelrosen vor den meisten Aufwinden geschützt. Jochen liegt auf seiner hellblau-weiß-gestreiften Unterlage und liest in der Tageszeitung, deren Werbeseiten so unvorstellbar interessant sind, dass er mein Kommen gar nicht bemerkt. Erst als ich mein Rad gegen die aufschreienden Kartoffelrosen werfe, hebt Jochen den Kopf, blinzelt in die Sonne und begrüßt mich mit den Worten: „Rate mal, wer nebenan liegt.“
Mir schießen sofort ein paar klangvolle Namen durch den Kopf, aber dann graust es mir bei der Vorstellung, dass es womöglich … „Eddi?“, frage ich vorsichtig.
„Nein, der doch nicht. Da kommst du nie drauf.“
„Fernglas?“ Natürlich, wer soll es sonst sein, schließlich ist es seine Stelle.
„Nein“, sagt Jochen wieder und freut sich.
„Wer kann es sein? Überlegen wir mal: Fernglas ist es also nicht. Wikolf? … auch nicht. Norbert? Detlef? Frank?“ Jochen schüttelt immer wieder den Kopf. „Raymond? Andreas?“ Andreas wäre toll gewesen. Ich sehe es Jochens strahlendes Gesicht an, dass ich noch nicht ins Schwarze getroffen habe. Ich grüble weiter. Aber alle, die mir jetzt noch einfallen, würden sich nie hierher verirren. Obwohl ich es kaum zu glauben und hoffen wage, frage ich vorsichtig: „Thomas?“
„Na der schon gar nicht! Du kommst sowieso nicht drauf. Geh und sieh selber nach.“
Ich schmeiß mein Liegetuch ins Gras und kehre mit einem komischen Gefühl im Magen zurück auf den Weg, wo ich nach ungefähr zehn Metern links verschwinde. Behutsam schiebe ich mich in den schmalen Gang zwischen den Sträuchern, die sich über mir wie ein Tunnel schließen. Ich will ungehört bleiben, was mir auch ohne alle diese aus der Erde wuchernden Hindernisse schwer genug fällt. Eine ganze Reihe meiner alten Gelenke, besonders die der Knie, knarren und quietschen beim Gehen fürchterlich. Es hört sich an, als würde jemand eine noch ältere verstaubte Gliederpuppe mit verrosteten Scharnieren gegen ihren Willen über eine Bühne zerren. Ich habe mich schon vor geraumer Zeit so gut wie möglich mit dem Knacken angefreundet, denn meine Ärztin hat mir jegliche Hoffnung auf Besserung genommen. In meinem Alter sei das völlig normal und durchaus legitim. Ich fürchte nun, mit den Jahren immer normaler zu werden. Eine grausige Vorstellung! Rechts von mir schreckt ein Vogel auf und fliegt entsetzlich laut davon. Ich drücke die Brennnesseln mit dem Fuß beiseite, die sich mir frech in den Weg stellen, und gelange unbemerkt bis fast an den Rand des Abgrunds, der sich sechs oder fünf Meter über dem Strand erhebt. Hier lichtet sich das Strauchwerk, denn Fernglas hatte sich allen Landschaftsschutzbestimmungen zuwider zwei mehr oder weniger geräumige Abteilungen geschaffen. Eine für sein Klapprad und eine für sich. Von hier oben hat er einen verdeckten und weitläufigen Überblick über alles, was sich unten regt. Auf seinem Platz liegt nun ein hübscher Jüngling, der gerade der griechischen Mythologie entsprungen scheint. Der schlanke braune Körper, über den vereinzelte Schatten streicheln, gleicht einer schwach gebogenen Haselnussrute, aus deren Mitte ein lieblicher Zweig herausragt. Darüber liegt ein Nest aus wenigen, scharf abgegrenzten schwarzen Haaren. Ich stehe hinter seinem auf einer Decke ruhenden und von ein paar Grasbüscheln beschatteten Kopf und betrachte eingehend dieses schöne und seltene Exemplar eines Epheben, kann mich aber nicht daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Der geschmeidige Körper hat die Augen geschlossen und liegt ruhig und ohne jegliche Muskelbewegung, selbst jetzt noch, da ich mich von ihm abwende und zurück zu Jochen gehe.
„Wieso meinst du, dass ich den kennen müsste?“, frage ich ihn.
Jochen legt verwundert die Zeitung beiseite und setzt sich auf. „Liegen da nicht zwei?“, will er wissen.
„Nein, da liegt nur einer. Aber der ist auch alleine schön genug.“
„Und du hast ihn wirklich nicht erkannt?“
„Nun sag schon, wer es ist!“
„Wenn da nur einer liegt, dann ist es entweder Thomas der Geile oder Ulf. Mit Thomas habe ich vorhin, als ich ankam, gesprochen. Ich habe ihn jedenfalls sofort wiedererkannt. Der hat sich nicht ein bisschen verändert. Er sagte mir, dass er zusammen mit Ulf hier ist und wo sie liegen. Ulf selbst habe ich noch nicht gesehen.“
„Da muss ich gleich noch einmal hin. Das gibt es einfach nicht. Die hier!“
Jochen hält mir die Tube mit der Sonnenschutzcreme entgegen und sagt: „Cremst du mich vorher noch ein.“ Er legt sich dazu flach auf den Bauch.
Hastig massiere ich kleine Portionen der weißen Creme in seinen Rücken ein, geb ihm die Tube zurück und meine: „An den Rest kommst du ja selber ran“, und verschwinde.
Da ich mich diesmal meinem Ziel ohne jede Vorsicht nähern kann, ist der Schläfer aufmerksam geworden und hat sich vorsichtshalber aufgesetzt, als ich bei ihm erscheine. Es ist ganz ohne Zweifel Ulf. Es ist dasselbe sanfte und liebenswerte Lächeln, dasselbe zart geschnittene Antlitz, das mir vor so vielen Jahren das letzte Mal auf einem Bahnsteig entgegen geleuchtet hatte. Auch in meinem Gesicht muss sich Freude widerspiegeln. Ulf streckt mir seine Hand zur Begrüßung entgegen und lädt mich ein, mich neben ihn zu setzen.
„Hallo Ulf, grüß dich! Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, euch wieder zu sehen.“ Am liebsten möchte ich ihm um den Hals fallen oder ihn zumindest in die Arme nehmen oder etwas in der Art, um meine unbändige Freude wenigstens annähernd zum Ausdruck zu bringen. Es gibt viel zu sagen und zu fragen, so vieles hat sich in den Jahren, die nach ihrem Abschiedsbesuch vergangen sind, aufgestaut, aber ich weiß nicht, womit ich anfangen soll. Ich sage nur: „Das es euch noch mal hierher getrieben hat! Ich freue mich ja so. Ich hatte gehofft, ich habe es gewusst, dass wir uns wieder sehen würden, denn man sieht sich im Leben immer zweimal.“
„Du hast also schon mit Thomas gesprochen? Bist du allein hier?“, fragt Ulf.
„Nein, ich bin gerade erst gekommen, aber Jochen hat mit Thomas gesprochen und er sagte mir auch, dass du hier bist.“
„Wo ist Jochen, warum ist er nicht mit hergekommen?“
„Wir liegen eine Stelle weiter. Er will unsere Sachen nicht alleine lassen. Ob du's glaubst oder nicht, ich war vorhin schon mal hier drin. Hab dich aber nicht erkannt. Wie du hier so ausgebreitet lagst, hab ich nur gedacht, ist das ein geiles Stück. Jochen hatte mich hergeschickt, aber nicht gesagt, dass du das bist. Da bin ich wieder gegangen. Dann hat er erzählt, dass er Thomas getroffen hat und das du hier liegst. Wo ist denn unser Tommy eigentlich?“
„Du kennst ihn doch. Der ist bestimmt das alte Revier abgrasen. Er kann es einfach nicht lassen, Junghasen zu jagen.“
„Er kann ebenso wenig aus seiner Haut, wie manch anderer. Läuft er dir zu Hause auch immer weg?“
„Zum Glück hat er dort nicht so die Möglichkeit dazu wie hier. So einen schönen Strand gibt es im ganzen Einzugsbereich von Hamburg nicht. Und glaub ja nicht, dass es da so locker zugeht, wie du vielleicht denkst. Die lieben Mitbürger haben einen großen Haufen Scheiße im Kopf.“
„Und wir dachten immer, im Westen wäre alles viel lockerer.“
„Alles Quatsch!“ Ulf kramt in seinem Rucksack herum und bringt eine Schachtel Zigaretten zum Vorschein. „Was meinst du, was wir da schon alles erlebt haben. Nun kuck dir das an, der Kerl hat mir alle Zigaretten weggenommen! Nur noch eine Einzige hat er drin gelassen.“ Er klemmt sie sich zwischen die schmalen Lippen, schüttelt das billige Feuerzeug und zündet sie an. „Ich hatte heute schon einen Besuch.“
„Wie lange seid ihr denn schon hier?“, frage ich.
„Seit Mittag.“
„Mit dem Auto?“
„Ja.“
„Was für eins habt ihr denn?“
„Ach, das ist nur geborgt. Wir haben unseres wieder verkauft. Wurde zu teuer.“
„Du hattest Besuch? Wen denn?“
„Ja. So ein fetter Kloß. Noch nie gesehen. Der wollte mich unbedingt anmachen. Stellt sich da hin und fängt an zu wichsen. Keult und keult! Solche Schenkel hat der!“ Ulf beschreibt mit seinen Armen einen Hula-Hoop-Reifen. „Hab ihn gefragt, ob er nicht einen anderen Platz dafür finden kann, der Strand ist doch groß genug. Ist doch wahr oder nicht! Steht vor der Sonne und verdunkelt die Gegend.“
Wir sitzen noch gute 15 Minuten beieinander und erinnern uns an alte Zeiten.
„Werde mal wieder zu Jochen gehen.“ Ich stehe auf.
„Warte“, sagt Ulf, „ich komme mit.“ Er zieht sich an, ramscht die wenigen Sachen zusammen und geht mit mir zu Jochen.
Die Begrüßung fällt hier nicht weniger herzlich aus. Wir drei machen es uns in dem zeckenverseuchten Gras gemütlich. Kaum ist die Unterhaltung in Gang gekommen, da stampft Eddi gewaltig um die Ecke. Wie ein überdimensionaler Poltergeist segelt er mit ausgebreiteten Armen auf uns Wehrlose zu. Nicht hinzukucken, ist kein geeigneter Schutz vor ihm. Er reißt erst Jochen, dann mich in die Höhe und an seinen wabbeligen Busen, der in mehreren Wellen in seinen noch wabbeligeren Bauch übergeht. Wie ein auf seinen Hinterbeinen stehender Hund besabbert er uns möglichst beide Wangen, wobei er seine kribbeligen Finger keineswegs auf unserem Rücken belässt. Ihn stört weder die Anwesenheit Ulfs, eines für ihn Fremden, der ob der drohenden Gefahr etwas zurückschreckt, noch die weite Öffentlichkeit nicht im Mindesten. Im Gegenteil: Eddi liebt Publikum. Er gibt auch Ulf die Hand, verzichtet aber auf weitere Maßnahmen, die den Jungen vermutlich in die Flucht schlagen würden. Jochen versäumt keinen Augenblick, ihm deutlich zu machen, was er von seinem Zirkusauftritt hält. Er möchte gefälligst Rücksicht auf unseren Gast nehmen, mit dem, und nur mit dem, wir im Begriff sind, uns zu unterhalten. Jochen würdigt Eddi keines weiteren Blickes, sondern wendet sich wieder Ulf zu. Eddi holt zwar verdutzt Luft, sieht aber keine Veranlassung, sich nicht zu setzen und auch ein Wörtchen mitzureden. Er besitzt ein überragendes Talent darin, in den unpassendsten Augenblicken wie ein Phallus impudicus aus dem Boden zu wachsen. Er ist sich durchaus bewusst, dass er nicht von allen bedingungslos geliebt wird, denn er äußert gelegentlich sein Unverständnis darüber. Nach einer Weile bittet er um Entschuldigung dafür, dass er nicht länger bleiben kann, er muss wieder los, denn der Strand ruft ihn. Er erhebt sich ohne fremde Hilfe und keineswegs schwerfällig und rollt davon. Viel später erst wird Jochen mit ihm darüber einen weitaus ernsteren Disput führen.
„Das war der, der vorhin bei mir drin war“, sagt Ulf.
Jochen sieht ihn erschreckt an.
„Soso! Davon hast du aber vorhin nichts erzählt“, meine ich und ziehe die Stirn in Falten.
„So doch nicht!“, stellt Ulf die Sache richtig und schüttelt sich vor Ekel. Wir sehen einen eisigen Schauer seinen Rücken hinunter rinnen.
„Das ist Eddi, wie er leibt und lebt!“, sage ich. „Der ist harmlos. Da ist er ja endlich: Thomas der Geile!“, rufe ich und springe auf, um ihm ein paar Schritte entgegenzugehen.
„Hallo Alter, wie geht’s dir?“, fragt Thomas, der so aussieht, als sei er keine Woche weg gewesen. Gewiss, er trägt die Haare jetzt kürzer, hat aber noch immer das Spitzbübische in seinen Zügen wie damals. Als wir ihn kennenlernten, ging er in die zehnte Klasse. Er scheint inzwischen kein Gramm Fett angesetzt zu haben, was mich etwas verunsichert. Thomas ist jetzt kurz vor 31, wie sich herausstellt, und Ulf 27.
„Mir geht es hervorragend. Schön, dich zu sehen. Und wie geht’s dir? Wie lange ist es her, dass wir uns zuletzt gesehen haben?“ frage ich freudestrahlend.
„Es war ein paar Tage vor dem 18. März 84“, sagt Thomas.
„Und wann bist du rüber gegangen?“, will Jochen von Ulf wissen.
„Am 1. 6. 89“, antwortet Ulf. „Wo warst du solange?“, fragt er seinen Thomas. Er wirkt kein bisschen böse.
„Ich war unten am Bach und rauf bis dahin, wo damals der Wachturm gestanden hat. Wo ist der eigentlich geblieben?“ Thomas setzt sich auf den schon lange mit Gras bewachsenen kleinen Erdhügel, der sich inmitten dieses Platzes und neben dem Ende eines schmalen Grabens befindet, der bis auf diesen Rest zugeschüttet ist. In dem Loch ist zwischen verschiedenen Kräutern, die hier Schutz gefunden haben, und den Abfällen irgendwelcher Naturliebhaber ein sehr dickes, schwarz ummanteltes Stromkabel sichtbar. Vor ein paar Jahren haben zum Teil sehr smarte Grenzer entlang der Küste Gräben ausgehoben und diese schwarzen Kabel verlegt. Die darauf folgenden Ereignisse erübrigten die Vollendung dieses Projektes, dessen Zweck uns nun für immer ein Geheimnis bleiben wird.
„Wenn auch nicht viel, ein wenig hat sich hier schon geändert“, erklärt Jochen. „Nachdem die Grenzer abgezogen sind und die Gören den Turm so ziemlich demoliert haben, wurde er kurzerhand abgerissen. Das Objekt hier hinten ist auch leer, du kannst da jetzt durchgehen.“
„Du glaubst gar nicht, wie beschissen das jetzt ist. Alle Augenblicke kommen hier irgendwelche Wanderer des Weges. Die trampeln um unsere Decke rum und bewundern die schöne Aussicht. Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte.“ Ich erhob mich, um die Limoflasche zu holen, die Jochen im Schatten abgestellt hatte.
„Dass die Radaranlagen weg sind, haben wir schon vom Auto aus gesehen, als wir herkamen“, sagt Ulf und nimmt die Flasche entgegen, die nun die Runde macht.
Auch Thomas steht auf und sagt zu mir: „Los, wir gehen ein Stück!“
Ich stelle die Flasche wieder in den Schatten und gehe mit ihm zum Weg zurück, dann nach rechts. Hier legt sich uns ein Graben in den Weg, der sich damals weitgehend unter verfilztem Schlehengestrüpp verborgen und für alle Wanderer den Beginn des Sperrgebiets angedeutet hatte. In ihm sammelt sich das überschüssige Wasser von den Feldern, das leise zum Abhang der Steilküste vordringt, wo es in mehreren ausgewaschenen Rinnen in die Tiefe fließt. Jetzt, Ende Mai, fließt es recht munter, denn die Felder sind noch sehr nass. Beide springen wir mit einem leichten Satz hinüber, wobei wir eine Wolke unscheinbarer Fliegen aus dem vom Sonnenschein erwärmten Schlamm aufschrecken, die sich aber sogleich wieder setzen. Wir gehen auf dem relativ breiten Trampelpfad hintereinander, denn die hohen Brennnesseln reichen auch hier bis weit in den Weg hinein, und gelangen nach wenigen Schritten an die übermannshohe Betonmauer, die mit einem dauerhaften Tarnmuster geschmückt ist.
„Na, hast du wieder den Junghasen nachgestellt, während Ulf eure Stelle bewachen musste?“, frage ich scherzhaft, aber nicht grundlos.
„War eigentlich nichts unterwegs. Nur unten am Bach hüpfte einer rum. Der war aber nicht allein. Sonst tote Hose. Auf dem Weg stand so ein behaarter Kerl, den habe ich früher schon hier gesehen.“
„Ach, das war bestimmt Goldbrille. Der wohnt übrigens bei uns im Haus. Und, außer dem mindestens noch zwei weitere.“
„Das ist ja ein richtiges Schwesternheim!“, stellt Thomas lachend fest und legt beide Hände auf die Mauerkrone. Er zieht sich so weit hoch, dass er einen kurzen Blick in den Dschungel dahinter werfen kann, lässt sich fallen und sagt: „Hier scheint überhaupt nichts mehr los zu sein.“
„Es ist nicht mehr wie früher!“, wehklage ich über die verlorene Zeit, die ich hätte festhalten sollen. „Damals, als du noch hier warst, da war’s noch ganz anders. Aber dann haben sie die ganzen Sträucher abgehackt und seit dem ist es vorbei. Ist ja inzwischen schon wieder ganz schön zugewachsen, aber die Schnullis sind noch nicht wieder zurückgekommen.“
Wir gehen den Weg noch ein Stückchen weiter und kehren dann um, denn auch hier ist der Kabelgraben zum Teil noch offen und der Weg deshalb nur schlecht begehbar. Beide nutzen wir die Gelegenheit, wozu sonst haben wir uns von der Truppe abgesetzt, ältere und neuere Geschichten auszutauschen, die den Ohren von Ulf und Jochen bestimmt langweilig geworden wären.
„Habt ihr euch zwischendurch gesehen?“, fragt Jochen und blickt abwechselnd Ulf und Thomas an. „Habt ihr euch geschrieben? Wie habt ihr es gemacht, dass eure Liebe die Jahre der Trennung überdauert hat? Es waren immerhin fünf Jahre! Bei manchen Leuten scheitert die Liebe doch schon, wenn sie sich zwei Wochen lang nicht sehen.“
„Natürlich haben wir uns geschrieben“, antwortet Thomas. „Wir haben auch telefoniert. Aber das war alles so eine Sache. Wir wussten ja nie …“
„Wir haben auch so sehr auf Post von dir gewartet“, fiel ich ihm ins Wort. „Aber es ist nichts bei uns angekommen. Kein Brief, keine Karte, nichts!“
„Ich habe nicht geschrieben“, sagt Thomas emotionslos und sieht aufs Meer hinaus.
„Du hast gar nicht geschrieben? Und wir dachten, dass …“ Jochen schluckt. Er will Thomas verstehen. „… dass deine Post irgendwo hängen geblieben ist. Du wolltest uns keine Schwierigkeiten machen.“
Auch ich bin enttäuscht, dass Thomas nicht einmal den Versuch gemacht hatte. Ahnte er wenigstens, wie sehr wir auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet hatten.
„Nein, das ist es nicht. Hätte ich allen schreiben müssen, die ich hier zurückgelassen hatte, dann wäre ich zu nichts anderem gekommen. Ich hatte einfach keine Lust dazu.“
Pause. Schweigen. Ich ärgere mich. Wie waren wir auch nur auf die Idee gekommen, dass wir die einzigen Freunde von Thomas sein könnten. Aber das ist lange her und jetzt haben wir uns doch wieder gesehen. Wenn auch nur aus Zufall, denn sie wären uns nicht besuchen gekommen, vermute ich.
„Gesehen haben wir uns öfter.“ Ulf nimmt rasch den Faden auf. „Mal in Prag, mal in Budapest. Das hat immer ganz gut geklappt.“
„Los, Fienchen, wir müssen gehen!“, drängelt Thomas plötzlich.
„Wisst ihr übrigens, dass Dieter nicht mehr lebt?“, frage ich.
„Ja, der hat sich totgesoffen“, meint Thomas kalt.
„Ich habe auch schon mit Ulf darüber gesprochen“, sagt Jochen, während sich Thomas und Ulf erheben und Anstalten treffen, sich tatsächlich davonzumachen.
„Wir hatten uns fest vorgenommen, sein Grab zu suchen, aber bis heute sind wir noch nicht dazu gekommen. Wollt ihr uns nicht besuchen kommen?“, frage ich schnell, bevor sie verschwinden können. „Wie lange seid ihr noch da?“
„Bis Mitte nächster Woche. So ungefähr. Was meinst du, Törtchen?“
Ulf nickt zustimmend.
„Wie wäre es mit morgen Abend?“, fragt Jochen mit einem Seitenblick auf mich.
„Okay. Das geht klar. Und bei wem?“ fragt Thomas.
„Bei mir“, sagt Jochen. „Ihr wisst doch noch, wo ich wohne!“
„Klar!“ Ulf und Thomas verabschieden sich. „Bis dann. Bei dir.“ Thomas legt den Arm um Ulf und geht mit ihm davon. Wie damals. Fast wie damals.
Jochen und ich bleiben wieder zurück. Wir sitzen erst eine Weile schweigend nebeneinander. Von unten trägt der Aufwind ein fernes Klimpern herauf. Die Wellen spielen am Ufer mit den Kieseln. Jeder verarbeitet für sich die Begegnung.
„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass wir die beiden gesehen haben“, beginne ich nach einer Weile.
„Na, denkst du, ich nicht! … weißt du, wen ich noch gesehen habe?“
„Sag schon!“
„Andreas!“
„Welchen?“
„Na, den Langschwänzigen.“
„Ach ja? Wo denn?“ An den hatte ich ja bereits vorhin gedacht.
„Er ist hier unten vorbeigegangen, als du mit Thomas unterwegs warst.“
„Hat er dich gesehen?“
„Ja, er hat sogar gewunken.“
„Wenn es kommt, dann kommt immer alles auf einmal! Fehlt bloß noch, dass wir auch den anderen Thomas zu Gesicht bekommen, dann sind wir wieder komplett“, sage ich.



Wir stellen die beiden Räder in den zu engen Kellerverschlag und gehen nach oben. Am Knauf der Wohnungstür ist ein weißer Briefumschlag befestigt. Wir sehen uns beide an und bekommen gleichzeitig Herzklopfen.
„Wird das denn nie enden?“, fragt Jochen und öffnet die Tür, wobei der Um-schlag auf den kalten Terrazzo fällt. Drinnen reißt er ihn auf. Der Umschlag war nur flüchtig verschlossen. Die Gummierung klebte nur an zwei winzigen Stellen.

                 Hallo Friedel + Joschi! Hallo Ihr beiden
Da wir Euch ja telefonisch nicht erreicht haben, schreiben wir jetzt
wieder. Wir wollten anfragen, ob es Euch passen würde, wenn wir
morgen Abend zu Euch rüberkommen würden. Falls es Euch nicht
passen sollte, gebt uns Nachricht mit einem Termin, der Euch passt.
Wir sind noch bis Sonntag, d. 24. Mai hier in Rostock
Seid ganz lieb gegrüßt von Raymond und Olaf


„Er ist von Raymond und Olaf“, erklärt Jochen.
„Und was wollen die? Die haben doch gerade erst geschrieben.“
„Sie wollen morgen Abend rumkommen. Raymond will uns wohl seinen Neuen vorstellen.“
„Ich sag es ja, wenn es kommt, dann …“
„Na und, es ist ein Abwasch!“
„Ach, hast du vor, unseren Gästen etwas anzubieten?“, frage ich spitz. „Aber du hast recht, dann brauche ich nur einmal abwaschen. Wie praktisch du sein kannst, wenn es darum geht, dass ich abwaschen muss. Oh, wie ich das liebe, mit den Händen in der heißen Pflegelotion rum zu panschen, bis mir das Wasser von der Glatze dazwischen tropft.“



Nicht etwa weil heute Abend die Party steigen soll, wird gewischt, gewedelt und gepuschelt, nein, sondern weil ganz einfach ein Sonnabendvormittag ist. Vor einer Party sauber zu machen, halten wir beide für unzweckmäßig und höchst pervers.
„Hier ist noch immer der Brief deiner Schwester“, ruft Jochen, denn ich bin im Bad und stecke gerade bis an den Ellenbogen in dem weißen Designerporzellan mit dem schlichten, aber praktischen, weil zweigeteilten schwarzen Deckel. „Kann der weg oder willst du ihn noch mal lesen?“
„Ich komme sofort.“ Ich trockne mir die Arme und Hände ab, betätige den robusten Spülmechanismus. Die Industrie und der Handel haben für die keimtötende Reinigung dieses Sitzmöbels eine ganze Reihe von umweltschonenden Chemikalien vorgesehen, die jetzt alle den Bach runtergehen. Ich betrete das Chaos in der Stube und frage: „Wo ist er?“
Jochen blickt auf die Liege, wo der Brief zwischen den beiden Sesseln liegt, die er darauf gestellt hat. Ich entnehme dem gelblichen Umschlag zwei gelbliche Blätter und lese.


                                                    Neustrelitz, d. 2.1.92         
 Lieber Friedemann, lieber Jochen!
Heute am Donnerstagabend werde ich nun endlich versuchen, diesen Brief an Euch zu       schreiben. Ich hoffe, daß Ihr gesund u. erholt aus dem Urlaub zurück seid. Die Karte aus   Istanbul habe ich erhalten, da habt Ihr wenigstens über Weihnachten etwas vom Winter gesehen u. gespürt. Bei uns war ja nur alles grau in grau: das Wetter und auch die Stimmung. Ich hatte ziemlich große Probleme über Weihnachten u. auch zum Jahreswechsel. Ich war zwar kaum allein, aber trotz allem doch allein. Da kann einem auch keiner helfen. Es gibt Stunden u. Tage, da geht es, aber dann könnte ich wieder die Wände einlaufen. Aber ich werde lieber damit aufhören, sonst kann ich wieder andauernd die Brille putzen u. stehe wieder im Dunkeln u. mit dem Schreiben ist es vorbei.
Also meine Lieben, ich wünsche Euch alles Gute für das neue Jahr, Gesundheit, Arbeit, etwas Geld, aber vor allem Zweisamkeit, denn dann ist alles nur halb so schlimm u. zu ertragen. Heute hatte ich Alex‘ Wirbelwind hier u. Volkmar u. Gudrun waren auch zum Kaffee hier. Wir brauchen alle erst am 6.1. wieder arbeiten. Morgen habe ich auch zu tun, da kommt Alex mit den Kindern zum Mittagessen. Es gibt Kaninchenbraten. Den habe ich vom Gartennachbarn zum Fest bekommen. Am 24. war Susanne + Fam. nachmittags zum Kaffee bei mir. Abends u. am 1. Feiertag bis zum Frühstück war ich bei Alex. Ab Mittag bis zum Kaffee bei Udo, Abendbrot bei Volkmar. Ich kam mir wie ein Wandervogel vor, aber es ging ganz gut. Zumindest solange ich unterwegs war. Das dicke Ende haben nur meine vier Wände gesehen. Am 2. Weihng. waren dann alle zum Kaffee + Abendbrot bei mir. Am 27. waren wir dann alle bei Volkmar zum Geburtstag u. am 29. war ich dann mit Susanne bei Mutti u. Papa auf dem Friedhof. Es ist auch noch gar nicht so lange her, daß wir am 29. immer mit Bratpfanne + Kuchen nach Hause gefahren sind. Alles vorbei! Und nichts kommt wieder. Wenn ich so bedenke, 87 - 89 - 91: immer wieder ein Abschied.
Silvester war ich in der Mühlenstraße bei Susanne. Es war auch schön. Abends hat Wolfram sich kurz entschlossen u. noch Alex + Fam. geholt, sonst wären die vier allein gewesen. Platz zum Schlafen war genug.
So, nun wißt Ihr, wie u. wo wir alle das Fest verbracht haben. Mit Essen + Trinken war es bei mir nicht so doll, da ich mir eine anständige Grippe eingefangen hatte. Aber nun geht es schon wieder. - Unseren Garten dürfen wir behalten, aber über die Höhe der neuen Pacht ist noch nicht entschieden. - Was gibt es so bei Euch Neues? Ich hoffe bald mal etwas von Euch zu hören. Von Arnoldine hatte ich auch Post + 100,-M. Dafür habe ich mir ein schwarzes Kleid gekauft. Ich hatte nämlich Angst, daß das Geld schlecht wird.
So, meine Lieben, für heute soll es genug sein.
Viele liebe Grüße aus Neustrelitz von Eurer Edeltraud


„Lass ihn ruhig noch 'ne Weile liegen, der frisst ja kein Brot“, sage ich und lege ihn zu einem noch älteren Brief in ein Schubfach der Anbauwand.
Niemand soll glauben, dass ich der Meinung bin, es gehört sich ganz einfach, den Inhalt sämtlicher Schubfächer preiszugeben. Ich denke viel mehr, es ist für den Fortgang der Geschichte, die hier erzählt wird, von Vorteil, wenn ich dem Leser diesen, viele Jahre älteren Brief, nicht vorenthalten.



                                                                                                                                                 Neustrelitz, d. 22.1.87
Lieber Friedemann!
Nach mehrmaligen Versuchen Dich telefon. zu erreichen, habe ich heute nun endlich erfahren, daß Du nicht im Dienst bist, sondern krank zu Hause bleiben mußt. Ich hoffe, daß es nicht so doll ist u. Du bald wieder auf dem Posten bist.
Nun zu uns. Genau wie bei Euch ist es bei uns bitter kalt. Und noch viel kälter u. trostloser sah es in Fürstenwerder aus. Vorige Woche Mittwoch waren wir das erste Mal dort. Papa lag im Bett u. war kaum zu sehen, das Schlafzimmer kalt, der Ofen im Wohnzimmer lauwarm u. in der Küche war das Trinkwasser im Eimer eingefroren, kein Strom u. was an Eßbarem da war, konnte man auf einem Frühstücksteller unterbringen. Und zwischen allem saß Mutti, grün und blau im Gesicht, u. hatte wohl schon so manche Träne vergossen. Wie mir zumute war, kann ich Dir gar nicht sagen. Papa war aber wirklich am Ende, obwohl die Spritflasche am Nachttisch stand. Na, Einheizen, Einkaufen u. Kohlen u. Wasser vom Fleischer holen waren dann an der Reihe. Als wir dann so gegen 17.30 endlich unser Kaffeewasser soweit hatten, sah man am Kaffeetisch noch den Atem als wenn man draußen war. Edwin war dann zum Bürgermeister u. zur Gemeindeschwester u. hat versucht, über die Schulküche für Mittag zu sorgen. Was man auch zugesagt hatte, aber nur für zwei Tage, u. zwar waren das die Portionen, die die beiden Angestellten aus dem Gemeindebüro zur Verfügung gestellt hatten. Ansonsten haben sie keine Kapazität um noch 2 weitere Rentner mit Mittag zu versorgen. Angeblich laufen noch 8 Anträge, die auch nicht berücksichtigt werden können. Also können wir auch weiterhin nichts erwarten. Das war Mittwoch. - Freitagnachmittag sind wir wieder beide hingefahren u. wollten bis Sonntag bleiben. Außer, daß sie beide Tage Mittag hatten, war alles genau wie Mittwoch, Papa im Bett u. Mutti stand ½ 3 im Nachthemd u. wollte auch ins Bett gehen. Edwin hat den Anorak überhaupt nicht aus gehabt u. hat bei seiner Schwester geschlafen. Es war so kalt, daß auf der Treppe, wo wohl etwas Wasser hingekommen war als Edwin 2 Eimer geholt hatte, Eis war, daß ich abends um ½ 10 als ich mit dem Drangeimer (Asche, Urin u. Durchfall von Papa) runterwollte, ausgerutscht bin u. auf dem Rücken bis unten runter maracht bin. Heute sehe ich schon etwas anders aus, aber mein Rücken u. Po sind grün u. blau u. voller Prellungen, so daß ich erstmal 14 Tage krankgeschrieben bin. Ja, Friedemann, Glück hab ich trotzdem gehabt. Die Nacht, die darauf folgte, laß ich lieber aus, genau wie die Katzenwäsche in der Küche u. den Gestank, der mir anhaftete. Sonnabend kam die Gemeindeschwester u. hat uns zu verstehen gegeben, daß etwas geschehen muß u. so hab ich noch Mittag gemacht, Edwin hat die Kaninchen zu seiner Schwester gebracht, den Kater zum Fleischer u. Mutti u. Papa haben wir mitgenommen. Nun sind sie also hier u. haben unser Schlafzimmer bezogen. Das war im Moment die beste Lösung. Papa schläft bis Mittag, soll er auch, u. ich muß sagen, beide sehen wesentlich besser aus. Aber wie lange? Mit Papa geht es ja, aber mit Mutti! Soviel Arbeit für 2 Frauen hab ich nicht u. so muß ich immer noch einen losen Knopf oder Naht suchen, um sie zu beschäftigen. Sonst fragt sie laufend, wann es nach Hause geht. Hoffentlich halten wir sie noch bis Mitte nächster Woche. Aber was dann? Beide sind bald wirklich nicht mehr in der Lage, selbständig zu wirtschaften. Der Fleischer sagte, er würde gerne alles kaufen (Grundstück) u. die Neubauwohnung vom Sohn zur Verfügung stellen, aber ob uns das was bringt? Nun hab ich alleine schon mit beiden mehrmals gesprochen u. sie sind z. Zeit soweit, daß sie beide ein Zimmer für sie beide in einem Heim hier in der Nähe zum nächsten Winter nicht abschlagen würden. Was sagst Du dazu? Papa meinte, es sei schon besser als auf die Dauer bei uns, u. ich glaube, ich würde Edwin auch damit zu sehr belasten. Bitte versteh das u. es ist eigentlich traurig, aber Alex u. Susanne sind auch noch im Hause u. arbeiten wäre auch nicht mehr möglich für mich, obwohl das nicht ausschlaggebend ist. Ja, Friedemann, so sieht es aus u. in mir tut sich auch einiges. Edwin hat nun zu allem Übel noch hohen Blutdruck u. Urinzucker u. wir sind dabei, uns darauf ein- u. umzustellen. Aber wie ich darauf gekommen bin, würde nun zu weit führen, ich höre nämlich Mutti schon immerzu fragen, was ich denn allein im kleinen Zimmer mache.
Nun läßt Papa fragen, ob Du Deinen Freund in Prenzlau nicht dazu gewinnen kannst, für den alten Opa Müller den Grabstein u. die Umrandung zu machen
So, mein lieber Friedemann, das wär’s nun für heute. Werde bald gesund u. laß mal von Dir hören.
Viele liebe Grüße von uns allen. Es umarmt Dich Deine Schwester Edeltraud
Grüße von: Mutti, Papa, Alex, Susanne u. Edwin


„Wir müssten unbedingt mal wieder hinfahren“, rufe ich.
„Wohin?“, fragt Jochen abwesend.
„Zu meiner Schwester natürlich.“
„Vielleicht nächstes Wochenende.“
„Ich müsste uns wenigstens vorher anmelden.“
„Du machst das schon“, sagt Jochen und inspiziert den Inhalt des Kühlschrankes, der Gefriertruhe und der Bar. Obwohl sich die angesammelten Vorräte als hinreichend erweisen, nur mit dem Brot kann es Schwierigkeiten geben, zwingt er mich, mit ihm über den Wochenmarkt zu schlendern, was bei mir regelmäßig zu Schmerzen in der Lendenwirbelsäule führt.



„Kennt ihr den noch?“, fragt Jochen und weist auf die weiß gestrichene Gipsbüste des Alten Fritz.
Das zwanglose Beisammensein währt bereits gute zwei Stunden, wovon der größte Teil dazu gebraucht wurde, uns gegenseitig bekannt zu machen. Raymond hat unsere Glückwünsche zu seinem ausgezeichneten Geschmack dankbar entgegengenommen. Von Anfang an haben sich ausnahmslos alle, von denen sich die meisten vorher nie begegnet waren, gut miteinander vertragen, was nicht zwangsläufig so sein muss, nur weil wir alle der gleichen Risikogruppe angehören.
„Na logisch“, sagt Ulf.
„Ach hier haben wir den abgestellt?“ Thomas mimt den Erstaunten.
„Tu doch nicht so, als wenn du nicht mehr weißt, dass ihr uns den zum Abschied geschenkt habt“, beschwere ich mich aus meiner guten Laune heraus. Hat Thomas alles hinter sich gelassen, will er nicht mehr daran erinnert werden?
Jochen muss Ähnliches vermuten, denn er sagt plötzlich zu ihm: „Denk ja nicht, ich weiß nicht, was ihr beide damals hinter meinem Rücken getrieben habt. Ich sage nur: Steinchen ans Fenster werfen!“
„Na ja“, antwortet Thomas grinsend, „ich war schon den ganzen Abend so scharf. … und da habe ich eben solange gewartet, bis du weg warst.“
„Das hattet ihr doch hinter meinem Rücken verabredet. Gib es zu!“
„Doch, ja, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass du noch so lange bleiben würdest. Es war nämlich ganz schön kalt draußen.“ Alle lachen. „Woher weißt du das?“
„Friedel hat es mir zwei Jahre später selbst erzählt. Er erzählt mir alles, aber erst zwei Jahre später.“
„Und das scheint noch zu früh!“, befürchte ich.
Wir lachen wieder und Raymond und Olaf erbeten sich die Einweihung in diese Geschichte. Einen Teil erzählt Jochen, den Rest Thomas. Ich halte mich bescheiden im Hintergrund. Es ist nicht meine Sache, die eigenen Abenteuer vor mich herzutragen.
Olaf hebt den Deckel von dem großen Watteglas ab, das in der Anbauwand steht, entnimmt die größte der darin befindlichen Muscheln, hält sie sich an die Nase und riecht daran. „Wo habt ihr die her?“, fragt er.
„Jetzt stinkt sie nicht mehr!“, sagt Jochen, wobei er die Betonung auf jetzt legt. „Die haben wir alle aus dem Urlaub mitgebracht. Die ist von der türkischen Mittelmeerküste: Side.“ Jochen ist von uns beiden derjenige, der immer genau weiß, wo wir im Urlaub waren.
Olaf hält sich das Gehäuse einer Meeresschnecke ans Ohr und sagt ungeduldig: „Seid doch mal einen Moment ruhig! Ich will das Rauschen des Mittelmeeres hören.“
„Was du da zu hören bekommst, ist nicht das Mittelmeer, nur deine eigene Unruhe“, sage ich.
„Und die brauchst du dir nicht anhören“, sagt Raymond. „Da kriegst du nur einen Schock davon. Glaub es mir.“
„Blödmann!“, faucht Olaf.
„Ich könnte euch noch eine Geschichte erzählen“, sagt Jochen und die ganze Gesellschaft wird neugierig.    „Von Thomas! Die ist auch sehr interessant.“
Thomas der Geile ahnt sofort, dass diesmal ein anderer gemeint ist.
„Ach ja? Thomas, dieser Scheißkerl!“ Raymond winkt ab.
„Sag nicht so was! In seiner Art war er ein ganz lieber Kerl. Man musste ihn nur verstehen“, sage ich, bemüht, ruhig zu wirken. „Ich werde ihn jedenfalls nicht vergessen und er wird immer ein Bestandteil meiner Erinnerungen bleiben.“
„Nun geht das schon wieder los! Und du hast ihn verstanden?“, wundert sich Raymond.
„Ja, ich habe ihn verstanden!“ Das ist eine Behauptung von mir, an die ich selbst nicht wirklich glaube. Ich fürchte mich vor der Gewissheit, er habe auch mich nur verscheißert.
„Könnt ihr von dem Blödkopp nicht loskommen?“, fragt Raymond.
„Warum denn? Will ich gar nicht“, sage ich.
„Siehst du, er nimmt ihn selbst jetzt noch in Schutz. Kuckt ihn euch doch an: Er denkt schon wieder an seinen Thomas“, sagt Jochen. „Aber er hat recht, wenn er sagt, dass er immer ein Bestandteil unseres Lebens bleiben wird. Und schließlich habe ich ihn auch geliebt. Diesen Schuft! Ich verfluche ihn.“ Jochen sieht auch zu dem Haus gegenüber.
„Den kann man doch nicht lieben, diesen Idioten. Das verstehe ich nicht, das ist einfach zu hoch für mich“, sagt Raymond.
„Rede doch nicht, du hast ihn doch auch geliebt! Und mit wem hat er die ganze Zeit unzertrennlich aufeinander gekluckt? Das warst du doch!“, rechtfertige ich mich.
„Wer ist Thomas, kenne ich den?“, will Olaf wissen.
„Der hat da drüben gewohnt“, sagt Jochen und weist mit dem Kopf zum Fenster hinaus.
Thomas und Ulf lecken sich begierig die Lippen und drängen mich, die Geschichte zu erzählen.
„Na los!“, sagt auch Olaf.
Jochen, der die Sache eingerührt hat, lehnt sich in seine Couchecke zurück und grinst: „Ich sage nichts!“
„Lass es lieber, das bringt doch nichts!“, meint Raymond. Er ist ganz klein geworden in seinem Sessel und verdreht die Augen.
„Ach ja! … Das ist aber eine sehr lange Geschichte“, sage ich. „Da muss ich erst noch einen trinken.“ Ich gieße mir mein Glas bis zum Überlaufen voll Weinbrand und nehme einen tüchtigen Schluck. Dann gehe ich zur Schrankwand und entnehme ihr ein Buch, das ich fest in beiden Händen halte, und sage dann mit einem Blick in die erwartungsvoll fröhliche Runde: „… und die Geschichte steht hier drin. Ihr könnt sie selber lesen!“


Titel - Montag, 11. April 1988

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