Die Hoschköppe / 1. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 1. Kapitel

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Montag, 11. April 1988



Die Parteiversammlung hatte sich nicht zu sehr in die Länge gezogen. Die Diskussion war wie immer nur mühsam in Gang gekommen, aber schnell wieder im Sande verlaufen. Die wenigen Genossen der Betriebspoliklinik saßen wie jeden zweiten Montag im Monat als eine geschlossene, träge verharrende Masse um den kahlen länglichen Tisch im Zimmer des Chefarztes in der zweiten Etage des Hauptgebäudes. Von noch höherer Stelle war kein lohnendes Thema vorgegeben. Die spärlichen Informationen, die unser Parteisekretär aus der Kreisleitung mitgebracht und nun an uns weiterzugeben hatte, waren schnell heruntergerasselt. Sie waren ohnehin längst bekannt. Es betraf in erster Linie die vielfältigen, aber immer gleichen Schwierigkeiten des Trägerbetriebes unserer Poliklinik, der Neptunwerft. Mit diesem Wissen sind wir nun den anderen Kollegen weit voraus! Alle Genossen, neu instruiert und ausgerichtet, starrten gelangweilt auf die gedachte Mittellinie des Tisches, nur der Parteisekretär blätterte behutsam in seinen liebevoll bekritzelten Karteikarten. Wir hatten beizeiten damit begonnen, die Uhr zu beobachten, die hinter dem Rücken des Chefarztes an der Wand hängt.
Das alles weit hinter mir lassend, stieg ich die letzten Stufen zur ersten Etage empor, den schwarzen Schlüssel schon bereithaltend. Es war viertel 5 nachmittags und im Treppenhaus war es angenehm kühl. In dem grob gezimmerten Holzkasten auf der Fensterbank des zur Straße weisenden Fensters sind bereits die ersten Knospen an den nackten Geranienstängeln aufgebrochen. Von draußen schauten neugierig die Zweige eines Strauches durchs Fenster und beobachteten, wie ich Jochens Wohnungstür öffnete. Hastig betrat ich den Korridor, und noch bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, war Jochen aus dem Zimmer gekommen, um die übliche Begrüßung zu vollziehen. Er machte einen niedergeschlagenen und verwirrten Eindruck. Vielleicht sah er auch ein bisschen blass aus, das war aber im Dämmerlicht des Korridors nicht genau auszumachen. Da ich von Natur aus nur wenig Gespür für solche Äußerlichkeiten besitze, musste also etwas Ernsteres passiert sein, dass ich diese Veränderung wahrnahm. Mein zweiter Blick fiel sofort auf den geöffneten Briefumschlag, der vorne auf der Anbauwand lag.
„Na, was schreibt er denn?“, fragte ich mehr provokatorisch als wirklich interessiert. Es wird aber wieder nur ein Brief einer ehemaligen Kommilitonin sein, dachte ich.
„Mir ist richtig übel. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich muss wohl, glaube ich, zur Polizei!“, kam es aus Jochen hervorgesprudelt. „Lies dir mal diesen Brief durch! Was sagst du dazu?“ Hiermit reichte er mir den besagten Brief, der eigentlich nur aus zwei unterschiedlich großen Zetteln bestand. „Was soll ich bloß machen?“, jammerte er vor sich hin und sah mich fragend an.
„Wieso Polizei?“, fragte ich. Das hörte sich nicht gut an. Die Polizei ist zwar unser Freund und Helfer, aber besser, wir haben nichts mit ihr zu tun. Ich setzte mich auf die Liege und begann den ersten Zettel zu lesen.

1. Da ich noch nicht das „Vergnügen" hatte, Ihre
Bekanntschaft gemacht zu haben und desselben auch
nicht in Zukunft der Fall sein wird, bitte ich
Sie, ihre „intimitären Liebäugeleien" zu unterlassen.
Mit der Zeit gewinnt diese Beobachtung an Bewußt-
heit und scheint zur Gewohnheit zu werden.
Um dieses zu unterbinden, diese Zeilen als Tip.
             Mich auf der Straße anzuhauen wäre
             1. zwecklos; 2. peinlich Ihreseits und
             3. würden Sie ihre Lage, in der Sie ohnehin
             schon in der Scheiße stecken, verschlechtern.

Ich drehte das von einer Menge Falten durchkreuzte Stück Papier um und las die Rückseite.

2.
             Es gibt Jungs, die Männern wie Ihnen
             nicht gerade die Füße küssen würden,
             geschweige denn etwas anderes.
             Und es gibt einige unter diesen, die
             mir schon mal den einen oder
             anderen Gefallen tuen würden.
             Rennen Sie nicht gleich zur Polizei,
             die würden Sie glatt festnehmen.
             Wenn Sie sowas brauchen, okay, aber nicht
             mit mir.

Ich versuchte ruhig und gefasst zu bleiben, aber die Zettel in meiner Hand waren ungewollt in leichte Schwingungen geraten. Ich legte den Briefumschlag und den ersten Zettel neben mich auf die Liege und faltete den Zweiten auseinander.

3. Ich kann Sie außerdem sehr gut von
meinem Fenster aus beobachten. Der gegenüberliegende
Block sollte jetzt Grund sein, noch öfter als
Sie ohne hin schon am Fenster stehen, einen
Blick zu riskieren.
                        Irgendwo im 4. Stock.
                        Wer sucht der findet
                        (oder auch nicht)
Kleine Randbemerkung:
                        Ich sehe ziemlich genau, was Sie
                        so Tag für Tag machen, jedenfalls,
                        wenn die Gardine aufgezogen ist
                        und Sie mit Ihren Kaktenen
                        plaudern. Mit Feldstecher hat
                        man eben ein schärferes Auge und
                        sieht oft Dinge, die man gar nicht
                        sehen soll und die man besser
                        schnell wieder vergißt.

Ich ließ das unschuldige Blatt Papier, das mit solch ungeheuerlichen Gedanken in größter Hast beschmutzt war, auf die Knie sinken, und schaute auf. „Das ist ja n Ding. … Der ganze Brief ist eine einzige Frechheit. … Kennst du den Typ?“ Auch mein Puls war beim Lesen in Trab gekommen. Eine plötzliche Hitze stieg mir aus dem offenen Hemdkragen. Der Brief war nicht nur eine Frechheit, er war weit mehr. Im Moment fehlten mir aber ganz einfach die Worte. Ich stand auf, ging in den Korridor zurück, um mir Schuhe und Jacke auszuziehen.
„Natürlich kenne ich den nicht, was denkst du denn!“, entgegnete Jochen, leicht aufgebracht über diese Frage. „Ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, wer das sein könnte. Ich kenne überhaupt niemanden, der da drüben wohnt. … Kann natürlich der sein, mit dem ich im vergangenen Sommer am Strand rumgemacht habe. Du weißt schon, der mit dem Riesending. Der könnte irgendwo da drüben wohnen, ich habe ihn schon öfter morgens vorbeigehen sehen. Der hatte doch zu mir gesagt, ich soll ihn ja nicht auf der Straße anquatschen. Aber warum sollte der jetzt, nach so langer Zeit, diesen blöden Brief schreiben? Ich habe ihm doch gar keinen Grund dafür gegeben.“
Jochen zog mich zum Fenster und deutet mit dem Zeigefinger, durch die Gardine hindurch, auf ein unbestimmtes Fenster in der rechten Hälfte des gegenüberstehenden Blockes. Bis dahin mögen es vielleicht einhundertdreißig Meter Luftlinie sein. Zwischen uns und dem möglichen Fenster dort drüben befindet sich auf dem als Innenhof bezeichneten Platz eine kombinierte Kindereinrichtung. Auf dem umzäunten Gelände gibt es unzählige kleine Bäume und Sträucher, mehrere Buddelkästen mit Bänken drum herum, grün gestrichene Wandtafeln an der uns zugewandten Außenmauer des Gebäudes, Klettergerüste für die größeren der Kleinen, alte ausgemusterte Schulbänke und überall kurz gehaltener Rasen, in dem alles eingebettet ist. Die Umzäunung schließt auch eine alte knorrige Eiche mit ein, die mit einer wunderschönen, weit ausladenden Krone geschmückt ist. Sie erinnerte mich jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster sehe, an die Bilder von Caspar David Friedrich. Eine üppig wuchernde Hecke umschließt das ganze Gelände und macht den Zaun unsichtbar. Davor befindet sich unser Trockenplatz, der durch einen Plattenweg von den unmittelbar unter Jochens Fenster wachsenden Sträuchern getrennt wird. Dieser Weg führt um den ganzen Innenhof, der von allen vier Seiten von Neubaublöcken eingeschlossen ist. Links können wir auf eine ramponierte Tischtennisplatte aus Terrazzo sehen. In ihrer Nähe hat unser Block einen Durchgang. Vor dem gegenüberstehenden führt von links kommend eine Straße als zweite Möglichkeit in den Innenhof.
„Weißt du, da oben, das Fenster mit der halben Gardine, siehst du?“ Jochen hatte ein ganz bestimmtes Fenster im Auge.
„Wo? … Ja“, sagte ich nach genauerem Betrachten jedes einzelnen Fensters.
„Da sieht manchmal ein blonder Bengel raus, das könnte er sein.“
„Ja und, was will der von da oben gesehen haben?“ Mir kam das unwahrscheinlich vor. Mit einem Fernglas? Vielleicht.
„Das weiß ich auch nicht.“ Jochen zuckte mit den Schultern und sagte dann vorwurfsvoll: „Das wir miteinander Sex hatten, ist doch schon eine Ewigkeit her!“
„Naanuu! So schlimm ist es auch wieder nicht“, protestierte ich, darauf bedacht, wenigstens einen gewissen Rest vom Lack zu erhalten, der einst auf meiner stolzen Männlichkeit glänzte. „Aber vielleicht hat er was gesehen, als Kay hier war?“
„Möglich, glaube ich aber nicht.“
Ich kehrte dem verräterischen Fenster den Rücken, drückte auf den roten Knopf des Fernsehers und ließ mich in gewohnter Manier in den Sessel fallen, den ich diagonal ganz ausfüllte, das rechte Bein bequem über die gepolsterte Lehne baumeln lassend. „Was gibt es eigentlich Schnuckliges zum Abendbrot?“, fragte ich, um mich der unangenehmen Sache zu entziehen. Ich selbst war es nicht, der angesprochen war in diesem Brief, war nicht gemeint mit dieser Drohung, die mir dennoch Unbehagen bereitete, Angst machte. Mein Puls sollte lange nicht seinen normalen Ruhewert erreichen.
„Du denkst bloß ans Essen! Sag mir lieber, was ich machen soll.“
„Ich weiß es auch nicht.“ Ich starrte ungehalten auf das geblümte Wachstuch vor mir auf dem Tisch. Ich ging Unannehmlichkeiten gern aus dem Weg. Vom Fernseher her plärrte aufdringliche Reklame. Jeden Tag derselbe Kram: Zum Abendbrot bekommen wir nasse Windeln und WC-Reiniger serviert. Ich stand auf, Jochen hatte sich inzwischen auf die Couch gesetzt, und ging hinter den Vorhang in die sogenannte Küche. „Jetzt beruhige dich erst einmal wieder“, sagte ich, nahm eine Filtertüte aus dem rechten Schubfach und begann, die Kaffeemaschine für den Tee herzurichten. Beruhigen, das war leicht dahingesagt, ich stecke nicht in Jochens Haut.
Jochen war auf der Couch sitzen geblieben. Er sah so zerknittert aus, als habe er die ganze Nacht durchgemacht. Seine Augen waren noch immer auf den Block gegenüber gerichtet. Dann raffte er sich endlich auf und ging zum Kühlschrank, der seinen Platz im Korridor hat. „Du bist gut, wie kann ich mich da beruhigen! Wenn ich nur wüsste, von wem der Brief ist. Als ich ihn das erste Mal gelesen habe, da war mir erst mal elend!“
Jochen und ich saßen noch lange an dem kleinen runden Tisch. Mit dem Essen waren wir schon eine Weile fertig, wir mussten nur noch die Stullen belegen, die wir morgen zur Arbeit mitnehmen wollen. Die Übergardinen waren jetzt zugezogen. Wegen der Sonne und des Fernsehbildes.
„Es muss doch …“, begann ich, „… es muss hier einen ABV geben. Ich werde morgen bei der VP anrufen und fragen, wo der ABV sein Büro und wann er Sprechstunde hat.“
„Wohnt nicht einer bei dir in der Nähe?“, erinnerte sich Jochen.
„Ja schon, aber ich weiß nicht genau wo. Und ich weiß auch nicht, wie er heißt. Ich rufe morgen an. Und dann gehst du da hin und zeigst dem diese Zettel.“
„Du kommst aber mit. Alleine gehe ich da nicht hin!“, forderte Jochen.
„Ich?“
„Ja, wer denn sonst!“ Er bestand darauf.
„Die Sache hat natürlich einen Haken“, gab ich zu bedenken.
„Was für einen Haken denn?“
„Wenn du dem ABV die Sache schilderst und den Brief zeigst, dann wirst du wohl oder übel bekennen müssen, dass du schwul bist.“
„Was hat das denn damit zu tun?“
„Na ja, der Brief zielt doch gerade in diese Richtung und der Bengel scheint genau darauf zu bauen, dass du aus diesem Grunde nichts unternehmen wirst. Wie bist du eigentlich zu diesem Brief gekommen, der Umschlag ist doch vollkommen unbeschrieben?“
„Als ich heute von der Arbeit nach Hause kam, steckte der Umschlag zwischen Tür und Rahmen.“
„Stell dir vor, den hätte jemand aufgemacht und gelesen. Ob das die beiden Bengels waren, die immer so blöd grinsen, wenn wir ankommen?“
Aber Jochen meinte: „Kann ich mir eigentlich nicht denken.“
„Ja aber, wer soll es sonst sein?“, überlegte ich.
„Da steht doch drin: gegenüberliegender Block, vierte Etage. Der eine von den beiden wohnt aber hier in diesem Block, vorne im zweiten Aufgang, und der andere im Hochhaus.“
„Ich kann mir jedenfalls nicht denken, dass der so blöd ist, einen anonymen Brief zu schreiben, aber verrät, wo er wohnt. Nee, nee, das haben die nur geschrieben, um von sich abzulenken. Wie haben die überhaupt rausbekommen, welche Tür deine ist?“
„Das ist doch ganz einfach, wenn es weiter nichts ist“, versicherte Jochen.
„Du, wir sprechen morgen weiter darüber. Ich muss jetzt unbedingt los, um sechs wollen die alle bei mir sein“, erinnerte ich mich gerade noch rechtzeitig. „Nicht, dass die alle vor meiner Tür rumtrampeln und schon warten. Bringst du morgen Brot mit?“
Ich hatte mir bereits die Schuhe und die Jacke angezogen und ging, aber nicht ohne Jochen vorher einen flüchtigen Abschiedskuss gegeben zu haben, mit schnellen Schritten im Hausflur die Stufen hinunter. Auf dem ersten Treppenabsatz drehte ich mich wie immer um und küsste symbolisch die miefige Luft.
Jochen schloss geräuschlos hinter sich die Tür. Allein gelassen blieb er zurück in seinen vier Wänden, mit sich und diesem vermaledeiten Brief.



Prolog - Dienstag, 12. April 1988

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