Die Hoschköppe / 2. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 2. Kapitel

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Dienstag, 12. April 1988


„Na, erzähl! Was gibt es Neues?“ Ich wollte aufgeräumt und locker erscheinen, nachdem auch ich am Vorabend mehr schlecht als recht einschlafen konnte. Wieder und wieder waren mir die Zeilen des Briefes durch den Kopf gegeistert. Ich hatte im Bett hin und her überlegt, ohne dabei einen klaren Gedanken fassen zu können, mich von einer Seite auf die andere gedreht, bis ich endlich in einen unruhigen Schlaf hinüberdämmerte. Die Sache zu überschlafen, wie man sagt, brachte nicht den gewünschten Erfolg. Am Tage hatte mich die Arbeit über weite Strecken von diesen misslichen Gedanken abgelenkt, sie waren aber oft in meinen Kopf zurückgekehrt. Hartnäckig wie eine Scheißhausfliege.
Jochen sah dagegen wieder viel munterer aus. Ein guter Beobachter hätte so etwas wie ein triumphierendes Funkeln in seinen Augen bemerkt. Noch bevor ich eine weitere Frage zur Entspannung der aufgeladenen Atmosphäre nachreichen konnte, wie etwa: Na, wie war's heute bei der Prüfung?, oder Ähnliches, platzte er mit der Nachricht heraus: „Ich weiß jetzt, wer es ist!“
Ich war einigermaßen baff: „Woher?“
„Heute Morgen um 8 Uhr klingelt es. Ich ging zur Tür und hörte gerade noch, wie jemand die Treppe runter läuft. Als ich dann aufmachte, fiel mir dieser Zettel entgegen.“
Jochen reichte mir den mehrfach zusammengefalteten Zettel, den ich hastig überflog. Es war ein länglicher Papierstreifen, der aussah, als wäre er das fehlende Ende zu einem der beiden Blätter von gestern. Er war nur sparsam beschriftet. Auf der einen Seite stand:


                                 Brief erhalten? Ich hoffe, man versteht sich!
                                              Es war ja deutlich genug.
                             
Und auf der anderen Seite las ich dann noch die fünf Worte:

                                       Das Fenster mit dem Vorhang

Ich drehte den Fetzen Papier hin und her und meinte: „Das wird ja immer schöner. Wie finde ich denn das: das Fenster mit dem Vorhang! Will der was von dir?“
„Der muss wohl gesehen haben, dass ich zu Hause bin. Ich hatte ja das Fenster weit genug auf. Zum Lüften. Das war heute Morgen! Als ich dann heute Nachmittag aus dem Seminar zurück nach Hause kam, habe ich nur rasch meine Tasche reingestellt und bin dann zum Bus gegangen. Du weißt, ich wollte zu meiner Mutter fahren. Ich war vorher noch zu dir, was hinbringen, dann über den großen Parkplatz zurück, vorbei am Weidenkrug. Von da aus ungefähr kann man in die Straße da drüben einsehen.“ Jochen machte eine entsprechende Kopfbewegung. „Ich sah natürlich an der Fensterreihe der vierten Etage entlang. Was soll ich dir sagen, da winkt mir doch einer mit einem weißen Blatt Papier zu. Ich hab aber so getan, als sehe ich ihn nicht. Aber jetzt weiß ich, wer er ist. Siehst du da drüben das Fenster mit dem Vorhang?“
Wir waren beide ans Fenster getreten und schauten hinüber.
„Nein!“ Diese Antwort hatte Jochen erwartet. „Ich sehe es nicht, welches Fenster soll es denn sein?“
„Du siehst doch den rötlichen Mittelteil aus Klinker oder was das sein soll?“
„Ja.“
„Von rechts aus gesehen ist es genau das zweite Fenster. Weißt du nun, wer das ist?“
Jochen spannte mich unnötig auf die Folter. Woher sollte ich das wissen! „Nun sag's schon.“ Langsam wurde ich ungeduldig.
„Du kannst dich hoffentlich noch daran erinnern, dass hier zwei- oder dreimal so ein hübscher Blonder vorbeigegangen ist. Nicht allzu groß, so 14, 15 Jahre.“
„Der sich hundertmal umdrehte?“ forschte ich. Mein Personengedächtnis ist von jeher miserabel, aber an halbwegs hübsche Jungs kann ich mich noch immer ausgezeichnet erinnern.
Jochen nickte zustimmend.
„Der? Der ist doch selber schwul!“ entrüstete ich mich. „Der hat es gerade nötig! Dann waren es doch nicht die anderen beiden … Der? Das kann ich noch gar nicht so richtig fassen. Das ist schon etliche Wochen her, dass ich ihn das erste Mal habe vorbeigehen sehen. Hat mir gleich gut gefallen. Der hatte sich bestimmt hundertmal umgesehen, ehrlich. Wie ein aufgeblendetes Auto hat der gekuckt, bis er endlich hinter der Ecke vom Kindergarten verschwunden war. Das war mir natürlich aufgefallen. Ich hatte ihm nachgeschaut, weil der genau meine Kragenweite gewesen wäre. Vielleicht hat er das mitbekommen. Aber deswegen hätte er sich nicht andauernd nach mir umdrehen müssen … Und ich hatte mir was drauf eingebildet. Aber der ist schwul, das kannst du wissen. Meinst du nicht, dass der schon älter ist?“ überlegte ich.
„Bestimmt nicht. Da, jetzt macht er wieder das Fenster auf! Siehst du?“ Jochen wurde hektisch.
„Ja.“ Ich ließ mich anstecken.
„Du musst unbedingt das Fernglas mitbringen, so kann man ja nichts erkennen“, verlangte Jochen.
„Komm vom Fenster weg, der kann uns sehen.“
„Das könnte dem so passen, dass wir nach seiner Pfeife tanzen“, protestierte Jochen.
„Ach, ich würde das schon wollen!“
„Na klar, das musste ja kommen.“
„Und wie es kommen würde! Aber du hast recht, wir sollten uns so bewegen wie immer. Soll der vielleicht noch Erfolge feiern, was! Das ist überhaupt die Höhe, schielt mit dem Fernglas in die Wohnung anderer Leute und hat dann auch noch die Stirn, sich über das zu beschweren, was er sieht. Der Teufel soll ihn holen und rosarot besticken. Ich kann mir das einfach noch immer nicht zusammenreimen: Wer durchs Fernglas kuckt, der will auch was sehen! Komm, lass uns Abendbrot essen“, schlug ich vor, goss Tee in beide Tassen und versorgte mich selbst mit Zucker. Die Marella, die ich mir aufs frische Kaufhallenbrot strich, war sehr weich. „Die sollten einen Pinsel zur Packung tun“, war mein Kommentar dazu.
Nebenbei dudelte der Fernseher vor sich hin, der wie jeden Abend unseren Zeitplan bestimmt. Auf- und abgeräumt wurde nur vor, zwischen oder nach den Kurzfilmen, also während der Werbung.
„Wie war's bei deiner Mutter, was hat sie gesagt?“, wollte ich wissen.
„Was soll sie gesagt haben, sie lässt dich grüßen.“
„War deine Schwester auch da?“
„Ja, die war auch da.“
„Kommen sie Sonntag?“
„Ja, so wie abgemacht. Gegen 3.“
„Kommt dein Bruder auch mit?“
„Das wusste sie noch nicht.“
Ich rührte mit den Händen unlustig in der Abwäsche herum, während Jochen, neben mir stehend, das Geschirrtuch schwang. Er ließ durch nichts seine Freude daran erkennen. Ich hasse das Abwaschen, Jochen das Abtrocknen.
Mit der Frage: „Hast du heute wegen des ABV telefoniert?“, brachte er mich unerwartet aus dem Rhythmus. Ich sah ihn um Nachsicht bittend an und erwiderte: „Nein, hab ich ganz vergessen. Aber morgen!“
Ein Teelöffel nach dem anderen erfuhr daraufhin einen wesentlich härteren Druck durch das Geschirrtuch, in dem sich ungewollt hässliche braune Teeflecke breitmachten. Die Tassen, die großen benutzte Jochen, die kleineren ich, verschwanden klirrend im Hängeschrank über der Abwäsche.
Ich lümmelte mich in meinen Sessel und hörte vom Kühlschrank her die Frage, ob ich noch ein Eis haben will. Da konnte ich kaum Nein sagen. Immer wieder, eigentlich ganz unbewusst, wanderten unsere Blicke vom Eis hinüber zu dem Fenster mit dem Vorhang. Mal sah der Bengel aus seinem Fenster und brachte Bewegung in jenes Viereck, dann war es wieder nur ein unbelebtes dunkles Loch. Ein anderes Mal zeigte es sich geschlossen, aber nie lange. Es öffnete sich bald wieder und der Bengel legte sich mit dem halben Oberkörper hinaus oder setzte sich seitlich oder rittlings so leichtsinnig aufs Fensterbrett, dass uns beim Zuschauen angst und bange wurde.
Wir fühlten uns unbehaglich und beobachtet. Von Zeit zu Zeit sah es tatsächlich so aus, als würde der da drüben ein Fernglas vor die Augen setzen. Wir waren uns aber nicht sicher, denn Genaueres war nicht zu erkennen. Wir verlegten unseren Bewegungsraum, obwohl wir uns seinem Willen nicht unterwerfen wollten, in den Bereich des Zimmers, der durch die Gardine abgeschirmt wurde. Vielleicht taten wir das unbewusst, vermieden aber auffällig, vor das geöffnete Fenster zu treten, solange die Gardine nicht völlig zugezogen war.

Montag, 11. April 1988 - Freitag, 15. April 1988

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