Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Spatzgeschichten

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Als ich noch Rabe war
 
Es sah hier nicht immer so aus wie heute. Ihr würdet die Gegend nicht wiedererkennen. Sogar die beiden Seen hatten eine andere Gestalt und viel mehr Wasser. Der Bach, durch den sie auch damals schon verbunden waren, war zwar sehr viel breiter, aber nur geringfügig tiefer. Es gab mindestens eine Furt, durch die die hier lebenden Menschen bequem hindurch waten konnten. Überall standen Bäume. Was heißt überall? Die ganze Gegend bestand fast ausschließlich aus Wald: dichter, dunkler Urwald bis zum Horizont und darüber hinaus. Die vielen fischreichen Seen und Teiche waren wie Löcher in einem grünen Mantel. Ich spreche vom Sommer, die anderen Jahreszeiten sollen uns jetzt nicht kümmern. Dieser endlose Wald war die Heimat für unzählige große und kleine Tiere. Menschen traf man dagegen nur wenige an. Meist hatten sie sich an Seen oder Flüssen einen Platz geschaffen, an dem sie überleben konnten. Heute sind die großen Tiere fort, genau wie die Bäume. Und die Seen sind so gut wie ohne Leben.
Auch an unseren beiden Seen, die einfach nur der obere und der untere See genannt wurden, waren kleinere Sippen ansässig, die miteinander Tauschhandel betrieben. Nur selten kamen fremde Händler hier durch. Wenn eine große Jagd geplant war, dann schlossen sich dafür die Männer der hiesigen Sippen zusammen. Sie waren dann wochenlang fern von ihren Familien.
Ich war damals, es ist viele Tausend Jahre her, ein stolzer Rabe. Als Spatz werde ich erst in der jüngeren Zeit wiedergeboren. Ich muss mich immer den jeweiligen Bedingungen anpassen. Und als Spatz komme ich heute noch am ehesten über die Runden. Als Rabe hätte ich es schwieriger. In den vergangenen Zeiten wurde man als Rabe noch geachtet, sogar verehrt hat man uns! Und ganz besonders, wenn einer so auffallend schön war. Ja, das Farbenspiel meiner Beine begleitet mich schon von Anbeginn der Zeit.
Da es seinerzeit unbegrenzt zu futtern gab, konnte ich die meiste Zeit damit verbringen, über die Gegend zu fliegen, um hier und da meine begonnenen Beobachtungen fortzuführen. Besonders gern hielt ich mich in der Nähe einer rohrgedeckten Hütte auf, die auf Pfählen im unteren See stand. Die Wände bestanden aus Weidengeflecht, das die Menschen mit Lehm bestrichen hatten. Über das sumpfige Gelände führte ein stabiler Knüppeldamm zur Hütte, in der Menschen dreier Generationen zusammenhausten. Diese Menschen lebten in erster Linie vom Fischfang. Daher mein Interesse. Gegenüber den gefräßigen Möwen konnte ich mich immer problemlos durchsetzen. Und außerdem war mein Nest nicht weit entfernt in einer Baumhöhle der gewaltigsten Eiche weit und breit. Das mag zwar für einen Raben ungewöhnlich sein, aber ich mag es überhaupt nicht, wenn es mir des Nachts auf den Kopf regnet. In der Hütte lebte auch ein kleiner Junge, den ich ganz besonders in mein Herz geschlossen hatte. Wenn er sah, dass ich in der Nähe war, opferte er mir immer einen kleinen Fisch.
Eines Tages saß ich auf einer Stange, die bei der Hütte im Wasser steckte. Ich betrachtete den geflochtenen Korb, der vor der Hütte stand und randvoll mit leckeren Fischen gefüllt war. Ich überlegte gerade, ob der möglicherweise für mich dort abgestellt war, als ich aus der Hütte Stimmen vernahm. Eine Frau, wohl die Mutter des kleinen Jungen, wies jemanden an, in den Wald zu gehen, um Feuerholz für die Kochstelle zu holen. Kurz darauf öffnete sich die Tür und heraus trat ein strammer Bursche mit sehr hellem, schulterlangem Haar, aber noch bartlos. In der Hand hielt er ein aufgerolltes Seil. Er schloss hinter sich die Tür und trottete in Richtung Ufer davon. Von mir nahm er keine Notiz. Wieder öffnete sich die Tür und die Frau erschien darin. Sie rief ihm nach, er solle gefälligst den Kleinen mitnehmen und den Grauen auch. Ich meine, sie hatte den Großen Flachskopf gerufen. Kurz darauf sprang ein graues Ungetüm aus der Hütte, dem mein kleiner Freund folgte. Er grüßte mich natürlich, beeilte sich aber, nicht den Anschluss zu verlieren. Flachskopf nahm es gelassen hin. Er wartete sogar. Der Graue war längst vorausgelaufen. Kam zurück und machte kehrt. Und das wieder und wieder! Verrate mir einer, was in dem Kopf eines Hundes vor sich geht. Als sie festen Boden unter sich fühlten, schwenkten sie nach links ab und erreichten in kurzer Zeit den von mir bereits erwähnten Wasserlauf, den sie mühelos durchwateten. Bald darauf erreichten alle drei die Stelle, wo heute das Woldegker Tor steht. Je höher sie den Berg hinaufstiegen, desto trockener wurde die Erde. Seit fünf Tagen war kein Regen gefallen. Inzwischen hatte sich der Trampelpfad, dem sie gefolgt waren, in Nichts aufgelöst. An dem Platz, wo heute in der Kirche das Taufbecken steht, legte Flachskopf das mitgebrachte Seil der Länge nach auf den Boden.
„Möglichst gerade Knüppel! Die lassen sich besser zusammenbinden.“ Das war ein Hinweis an den kleinen Bruder, denn Brüder waren sie.
„Weiß ich doch. Ich habe schon mehr Holz gesammelt als du“, behauptete der Kleine.
„Genau!“
Das mit den geraden Ästen war leicht gesagt, aber unter den großen Kiefern schwer zu finden. Sie mussten nehmen, was sie vorfanden. Und auf diesem Sandberg wuchsen ausschließlich Kiefern. Auf dem Seil sammelte sich trotzdem nach und nach ganz brauchbares Holz. Sogar der Graue brachte einen schönen Knüppel, nur war er nicht bereit, sich davon zu trennen. Flachskopf prüfte das Gewicht der Ladung und befand es für schwergenug, denn er musste es bis zur Hütte schleppen. Dann nahm er einen abseits liegenden Stock und kratzte damit eine kleine Kuhle in den Sand, denn es war dringend. Dann raffte er die Tunika in die Höhe und hockte sich darüber. Der Kleine hockte sich daneben, um die Schlange zu beobachten, die sich in die Kuhle kringelte. Als auch deren Schwanzende hineingefallen war, nahm Flachskopf eine Handvoll Sand, um sich zu säubern. Er hielt einen Moment inne und ließ dann den Sand wieder fallen. Ihm war eingefallen, wie nachhaltig die unangenehme Wirkung des Sandes sein konnte. Sodann fiel er nach vorn auf die Knie und robbte außer Reichweite der benutzten Kuhle. Beide Hände fest auf den sandigen Boden gepresst, rief er den Grauen zu sich, der sofort und schwanzwedelnd zur Stelle war und ohne Umschweife damit begann, mit seiner rauen Zunge das verschmutzte Loch blank zu putzen. Währenddessen schüttete der Kleine sorgfältig Sand auf die schlafende Schlange in der Kuhle. Ohne ein spezielles Kommando erhalten zu haben, besprang der Graue gierig Flachskopfs Rückseite. Mit nur wenigen Stößen drang er vollends in sein Hinterteil ein. Der Graue wusste Bescheid, das war ganz offensichtlich. Flachskopf stöhnte lustvoll auf.
„Er ist schon wieder drauf!“, beschwerte sich der Kleine.
„Denkst du, ich hätte es nicht selbst bemerkt.“
Flachskopf machte aber keine Anstalten, den Grauen abzuschütteln. Der Kleine stellte sich daneben und klatschte mit den Händen den Takt dazu. Ich saß auf einem starken Ast, der das Geschehen überragte, und gab keinen Mucks von mir. Respekt, dachte ich, Flachskopf trägt den schweren Hund wie ein Mann. Als der Graue seine Übung beendet hatte, ließ er sich seitlich von dessen Rücken gleiten. Dann drehte er sich so, dass sein Hinterteil an das von Flachskopf stieß. Alle Befreiungsversuche scheiterten vorerst.
„Er geht wieder nicht ab!“, rief der Kleine ängstlich.
Plötzlich kräuselte der Graue die Schnauze und begann warnend zu knurren.
„Da ist irgendwas!“, flüsterte der Kleine. „Bestimmt ein Bär … oder ein Wolf … oder ein Wildschwein.“
Jetzt hatte auch Flachskopf ein verdächtiges Knacken gehört. Gar nicht weit entfernt. Sollte wirklich … Selbst ich hatte bisher nichts bemerkt, weil ich von dem Treiben unter mir so abgelenkt war. Aber jetzt sah ich den fremden Burschen, der unvermittelt zu ihnen trat. Er hielt beide Hände vor die Brust, zum Zeichen dafür, dass er keine Waffe trug.
„Wer bist du denn, was schleichst du hier herum, so plötzlich?“, fragte Flachskopf forsch. Der Graue unterstrich die Frage mit lautem Bellen.
„Alle nennen mich Junge Birke. Ich komme vom oberen See.“
„Du kommst ungelegen, wie du siehst“, sagte Flachskopf, der noch immer im Sand umherkroch und auf die Erlösung wartete.
„Ich bitte euch um Vergebung, denn ich habe euch schon eine ganze Weile belauscht.“
„Und, dass es dir gefallen hat, sehe ich. Was treibst du dich hier herum?“, wollte Flachskopf wissen.
„Eigentlich wollte ich nur meine Fallen kontrollieren“, antwortete Junge Birke. „Aber jetzt möchte ich dich fragen, ob du mir mal deinen Hund ausleihen kannst? Ich tausche dafür diese Bärenkralle ein, wenn du möchtest.“
„Woher hast du sie? Gestohlen?“
„Ich habe sie gefunden.“ Junge Birke nahm die Schnur vom Hals, an der die Kralle befestigt war, und hielt sie Flachskopf entgegen. „Du kannst aber auch einen Hasen haben, wenn dir das lieber ist … und ich Glück mit den Fallen habe.“
„Wie du bemerkt haben wirst, befinde ich mich momentan in einer sehr schlechten Verhandlungsposition.“
„Ich kann warten“, erwiderte Junge Birke und hängte sich die Kralle wieder um. Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.
Derweil hatte der Kleine den Grauen davon überzeugen können, dass von diesem Fremden keine Gefahr drohe. Der Hund hatte zu Knurren aufgehört und konnte sich nun verstärkt um sein Loskommen bemühen. Als es ihm endlich gelang, klemmte er schamvoll seine Rute zwischen die Hinterbeine, senkte seitlich den Kopf zu Boden und trollte sich ein paar Schritte beiseite. Es war ihm sichtlich peinlich, heimlich beobachtet worden zu sein. Bis der größte Schmerz in Flachskopfs Hintern abgeklungen war, dauerte es noch ein Weilchen, dann aber erhob er sich.
„Bei uns rufen sie mich Flachskopf. Und das ist Fischlein, mein kleiner Bruder. Unsere Hütte steht im unteren See, gar nicht weit hinter dem Bach. Und du, darfst wohl auch noch nicht mit den Männern auf die Jagd gehen?“
„Nein. Ich mache mir sowieso nicht viel daraus. Mir genügt es, Hasenfallen aufzustellen. Und was ist jetzt, könnte sich euer Grauer mit mir anfreunden?“ Junge Birke lächelte verschmitzt.
„Von mir aus, ich habe nichts dagegen. Und über einen Hasen freut sich unsere Mutter bestimmt. Na, dann mal los, runter mit dir in die Grundposition!“
Junge Birke tat ohne zu zögern, wie ihm geheißen. Flachskopf streifte dessen Tunika vom Hintern weg, den er aufmunternd tätschelte und dabei zum Grauen sah.
„Das müsste genügen, der Graue weiß schon Bescheid. Wenn der gut drauf ist, dann bespringt er alles und jeden.“
Der Graue trat folgerichtig näher und beschnupperte und beleckte zögerlich den blanken Hintern von Junge Birke. Flachskopf kniete daneben. Aber auch sein Zureden und das verlockende Streicheln über die erwartungsvollen Rundungen fruchteten nicht. Der Graue legte keinen Wert auf weitere Übungen. Vorerst jedenfalls.
„Wie es aussieht, wird das im Moment nichts“, stellte Flachskopf fest. „Wenn du möchtest, dann versuchen wir es morgen erneut … oder kann ich vielleicht für den Moment aushelfen?“ Dabei lüftete er seine Tunika und wies auf seine Bereitschaft hin.
Junge Birke warf nur einen flüchtigen Blick darauf: „Das sieht sehr stabil aus. … Tu es einfach!“
Flachskopf wandte sich seinem Bruder zu: „Fischlein, komm her und spucke mal tüchtig drauf.“
Der Kleine warf die alten Kienäpfel fort, mit denen er gerade gespielt hatte, holte tief Luft, sammelte alle Spucke im Mund, spitzte die Lippen und traf genau ins Schwarze. Sein großer Bruder nahm die für den Grauen vorgesehene Position ein und übernahm mit Inbrunst dessen Arbeit. Als die ersten Schweißtropfen von seinem Genick rannen, stotterte er: „Fischlein, steh da nicht so rum, tu was!“
Fischlein kniete sich auch in den Sand und begann, Junge Birke gekonnt zu melken. Ich kann euch sagen, es war ein Bild für die Götter. Hugin und Munin, entfernte Verwandtschaft von mir, hätten ihre Freude daran. Ich saß noch immer auf meinem Ast und tat, als wetzte ich den Schnabel. Sie sollten nicht denken, dass ich in irgendeiner Weise interessiert sei. Nur Fischlein hatte mich durchschaut, denn er sah regelmäßig zu mir auf. Als Junge Birke abgemolken war, hatte Fischlein die Hände frei, um mir freundlich zuzuwinken. Zu seinem Bruder sagte er: „Der Rabe ist wieder da!“ Was natürlich vollkommen unnötig war. Auch der hatte sein Werk vollbracht, zog seinen Schwanz heraus und schaute mich an.
Nun stand auch Junge Birke auf, ordnete seine Tunika und meinte: „Ach der! Den kenne ich auch. Unsereiner kann nichts unternehmen, ohne dass der es sieht.“
Ich nahm das als charmantes Kompliment, denn weit und breit hatte damals niemand bessere Augen. Und das war auch gut so. Just in dem Moment gewahrte ich das vorsichtige Herannahen eines riesigen Bären. Den Boden beschnüffelnd kam er durchs Unterholz. Da der Graue noch immer sein rotes Wunder beleckte, musste ich ihn erst durch Zuruf auf die sich nahende Gefahr aufmerksam machen. Aber dann sprang er auf und stürzte sich mit wütendem Gebell dem Bär entgegen. Unter normalen Umständen hätte der dank seiner Größe beim Anblick des Grauen keine Mine verzogen, trollte sich aber, weil er einen Heidenschreck bekommen hatte. Mit stolzgeschwellter Brust kam der Graue zurück und ließ sich ausgiebig bewundern. Nicht, ohne mir einen dankbaren Blick zuzuwerfen.
„Das mit dem Hasen können wir wohl im Moment vergessen. Bin gespannt, was der mir von meinen Fallen übriggelassen hat. Du wirst mit der Kralle vorliebnehmen müssen.“
„Lass nur, man hilft sich, wo man kann“, antwortete Flachskopf lächelnd. „Und ich könnte morgen wieder, wenn du zufällig in der Gegend bist.“ Er löste die Schnur, die die Tunika an seiner Hüfte festhielt, und band damit ein paar Zweige zusammen, die Fischlein nach Hause tragen sollte. „Kommst du mit zurück? Wir müssen jetzt nämlich.“
„Nein, geht nur ohne mich. Ich muss mir erst die Falle ansehen. Wir sehen uns aber wieder. Ihr wisst ja jetzt, wo ihr mich finden könnt.“
„Lass dich nicht von dem Bären erwischen“, gab ihm Fischlein mit auf den Weg.
„Ach, der ist längst über alle Berge.“ Damit verabschiedete er sich von den Brüdern und ging in genau die Richtung davon, die auch der Bär eingeschlagen hatte.
Flachskopf und Fischlein nahmen jeder ein Bündel Feuerholz auf die Schulter und gingen recht zufrieden mit sich und der Welt zum Bach. Sie wollten gereinigt vor ihrer Mutter erscheinen. Ich flog schon mal voraus, denn ich hatte berechtigte Hoffnungen auf einen leckeren Fisch.
Soweit die kleine Episode, die ich euch erzählen wollte. Bei Allem, was gesprochen wurde, musste ich natürlich improvisieren, denn das Kauderwelsch von damals, würde heute niemand mehr verstehen.
 
Rostock, November 2020

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