kaputte Gedichte - Abstrakte Irrwege

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kaputte Gedichte

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Erster Schnee fiel


Neunundzwanzigster Oktober neunzehnhundertneunundsiebzig, drei Viertel zehn abends. Vorhin, vor fünfzehn Minuten, kam von weit her der erste Schnee, der erste Schnee in diesem Herbst. Kaum das sich das verbrauchte Grün der Bäume aus dem Staub  gemacht, der bunte Maler seine Farben ausgepackt hat und die Hälfte der Blätter gefallen sind. Der erste Schnee! Obgleich es schon spät ist, kommt er doch sehr früh. Mal leise fallend, mal hastig vom Wind getrieben, wirbelt er um den Kopf  der Laterne, die vor unserer Tür Posten steht und des Nachts dem Heimkehrenden den Weg beleuchtet. Auf das Blech draußen auf dem Fenstersims fällt traurig in dicken Tropfen der zerweinte Schnee, als klopfte er, um Einlaß zu erbitten, um Schutz  zu finden in meiner warmen Stube. Oh, welch kummervoller Widersinn! Das Thermometer sinkt auf null. Langsam überzieht sich das Gras mit weißem Samt. Auch auf den Sträuchern, den Zäunen und den ziegelgedeckten Dächern gegenüber legt sich  das weiche Linnen, so zart gewebt und unbeständig. Phantastisch tanzen die Flocken im Lampenschein vor dem finsteren Hintergrund. Der Vorhang ist gehoben, das Schauspiel kann beginnen. Kann ich etwas dagegen tun, daß Bilder aus den Kinderjahren zurückkehren, Gedanken aus fernen Tagen? Sie erinnern an die Zeit der kleinen Träume und der kleinen Wünsche. Soll ich etwas dagegen tun? Der Wind trägt immer noch die leichte Last ums Haus und hört nicht auf zu wehen. Morgen früh, ganz sicher, wird alles versessen, wird alles wieder nur ein Traum gewesen sein. Wie gern hätt ich ihn mit dir geträumt. Noch aber fällt er, der Schnee, und ich habe Angst; Angst, daß der Traum zu schnell vergessen wird.

Rostock, Okt. 1979
(06. Mai 2011)



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