Die Hoschköppe / 104. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 104. Kapitel

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Dienstag, 10. Januar 1989


„Ein Sauwetter aber auch wieder!“ So höre ich es allenthalben. Der Wind wirft fleißig Unmengen schmutziger Regentropfen ans Fenster, das eigentlich schon lange hätten geputzt werden müssen, aber der Aufwand lohnt bei dem Wetter nicht. Warum eigentlich sagt der Mensch Sauwetter zu solch einem Sauwetter. Bringen wir nicht ein unglückliches Mutterschwein ganz zu Unrecht mit diesem blöden Wetter in Verbindung? Wühlt der Mensch nicht viel lieber im Unrat und verbreitet mehr Schmutz als das Schwein? Vermutlich reicht der Ursprung dieses zweifelhaften Zusammenhanges bis tief ins Dunkel der schweinischen Natur des Menschen zurück. Regen, Wind und wieder Regen. Dazu Temperaturen zwischen plus fünf und zehn Grad. Vom Winter keine Spur.
Ich sitze allein in meiner Wohnung und brüte. Wieder ist uns eine Woche unter den Fingern weggestorben und schon längst hatte ich aufhören wollen mit dem Beschreiben weiterer Seiten meines Tagebuches, denn es gibt, außer von meiner Sehnsucht, nichts mehr zu berichten, was es wert wäre. Auch dieses Buch hätte bereits vor mehreren Kapiteln sein Ende finden können. Ich stehle dem Leser seine kostbare Zeit, denn es können nur noch weitere Wiederholungen folgen. Nur wer mit mir fühlen kann, wird verstehen, warum ich mein Tagebuch noch nicht für immer hatte schließen können. Ihm brauche ich nicht zu sagen, dass sich mein Kopf redlich bemüht, einen sachlichen Abstand zu Thomas zu gewinnen, den der sich zu mir längst geschaffen hat, dass aber mein unverbesserliches Herz dieses Bestreben dadurch sabotiert, indem es über jeden Abstand hinweg neue Brücken baut, dass dieses verweichlichte Ding Faser um Faser des schwachen Bandes aufnimmt und wieder fest miteinander verknotet, welches mein Kopf vorher gewissenhaft durchtrennt hatte. Ist das langweilig? Ich bin zwar darauf bedacht, dass Jochen nichts von meinen inneren Krämpfen mitbekommt, er aber ahnt sie zumindest, denn in ihm kämpft es auch.
Soll ich also aufhören zu schreiben oder noch abwarten?
Am vergangenen Sonnabend, genau um neunzehn Uhr zwanzig, hatte es mal wieder geklingelt. Wir saßen gemütlich in der warmen Stube beieinander und wie üblich vor der Röhre. Jochen fragte: „Wer ist das nun schon wieder?“
„Es wird wohl Frank sein“, meinte ich.
„Der schon wieder!?“, sagte Jochen gleichgültig, als ob ihm Franks Besuche je lästig gewesen wären.
Er ging zum Korridor und machte hinter sich die Stubentür zu. Dort verblieb er ungewöhnlich lange. Es war alles ruhig. Immer wenn es bisher etwas länger gedauert hatte, war es Thomas gewesen. Als Jochen endlich wieder ins Zimmer zurücktrat, war hinter ihm der Korridor dunkel.
„Wer war das denn?“, fragte ich.
„Wer war das denn?“, schallte es aus dem Dunkel heraus.
Stand dort die verschmähte Echo hinter dem Vorhang und neben dem brummenden Kühlschrank, sich vor ihrem lieblichen Narkissos verbergend? Aber das Echo war Narkissos selbst, der jetzt in der Gestalt von Thomas ins Licht hinaustrat.
„Du hast dich wohl verlaufen?“, fragte ich ihn.
„Das habe ich ihn auch schon gefragt“, sagte Jochen.
Nachdem Thomas mir sehr intensiv und innig die Hand geschüttelt hatte, ließ er sich in den Sessel fallen, der nur für ihn da zu seien schien. Dann pumpte er sich wie ein Maikäfer vor dem Start voll Luft und setzte, sich an mich wendend, zu einer umständlichen Erklärung an, warum er sich solange nicht habe sehen lassen, brach sie dann aber nach den ersten Worten ab und meinte, das könne Joschi später erklären, denn dem habe er es gerade lang und breit auseinandergesetzt.
Thomas hielt es höchstens eine viertel Stunde bei uns aus, leider, dann zog er sich schon wieder an, wobei er im Korridor Jochen fragte, ob es recht wäre, wenn er später noch einmal wiederkäme, und ob er ihn dann noch reinlassen werde. Das müsse er Friedel fragen, meinte Jochen. Das tat Thomas dann auch. Er kam ins Zimmer, stellte sich artig und mit zusammengefalteten Händen neben die offene Stubentür und wiederholte seinen Satz, indem er ganz bescheiden die Augen aufschlug. Das musste man gesehen haben!
„Was fragst du denn so dämlich!“, war meine Antwort. „Wir lassen dich jederzeit rein! Jedenfalls bis in die Wohnung.“
Als er weg war, erzählte Jochen, Thomas habe vorgegeben, für die ins Haus stehende Prüfung in Staatsbürgerkunde gebüffelt zu haben. Wer‘s glaubt!
Nach dem Abendessen baute Jochen neben dem Fernseher einige Flaschen auf, als gelte es, eine groß angelegte Party steigen zu lassen. Ich hoffte zwar auch, glaubte aber nicht an Thomas‘ Rückkehr. Ich holte mir eine Flasche Tonic aus dem Bad und einiges aus der Ginflasche, dann noch einen Kugelschreiber und das Wochenposträtsel und drapierte alles vor mir auf dem Tisch. Rasch verteilte ich in das bis dahin noch jungfräuliche Kreuzworträtsel die ersten Buchstaben, als wolle ich als Erster irgendwelche Besitzansprüche sicherstellen. Dabei wollte ich lediglich den Eindruck vermeiden, dass ich auf jemanden warte.
Acht nach acht war Thomas tatsächlich wieder da. Ich bot ihm zu trinken an. Er nahm auch Gin/Tonic, Jochen trank Likör. Dann schob ich ihm das Rätsel rüber, in dem bereits alle leichteren Fragen abgestrichen waren, lediglich von denen aus der Geografie und der Welt der Oper waren noch zur Genüge offen, weshalb Thomas‘ anfängliche Begeisterung sehr bald nachließ. In der Anbauwand lief der Fernseher. Wir drei sahen hin, wenn unser Gespräch ins Stocken geriet. So trödelte sich der Abend bis um elf dahin, dann ging Thomas. Wir Zurückgebliebenen waren auch schon müde genug. Jochen bewunderte sich selbst, dass er es solange ausgehalten hatte, und in Bezug auf Thomas meinte er: „Das ist doch nicht normal mit dem.“
Thomas hatte sich uns an diesem Tag mit einem neuen, einem ehrlicheren Haarschnitt präsentiert. Wir konnten ihm das erste Mal gleichzeitig in beide Augen sehen. Über seiner reinen Stirn bäumte sich das Haar hoch auf, wie ein Araberhengst, vor dem ein Peitsche knallender Dresseur seine Arme hebt, dann fiel es leicht nach hinten über.
„Vorher hat mir deine Frisur besser gefallen“, hatte ich zu Thomas gesagt, was ihn sehr erstaunte.
„Ja?“, fragte er verwundert und machte große Augen.
Hätte ich vielleicht sagen sollen, dass mir seine vorherige Frisur auch gut gefallen habe?
Für den Sonntag hatte er seinen erneuten Besuch angekündigt und war auch wirklich gekommen. Es war halb sechs abends. Er brachte eine LP zurück, die er sich wohl schon vor Weihnachten ausgeliehen hatte. Er solle sich nun endlich sein Weihnachtsgeschenk einstecken, hatte Jochen ihn gebeten und meinte damit die in Geschenkpapier eingewickelte und mit einer Schleife versehene Schallplatte, die ursprünglich zusammen mit dem Buch von mir eine unendliche Zeit mal in der Anbauwand und mal auf der Flurgarderobe gelegen und für die sich bislang nur der Staub interessiert hat. Jochen hatte ihm beides bereits zwischen Weihnachten und Silvester übereignet, aber Thomas hatte seine Geschenke in seiner kalten Art ignoriert. Das Buch hatte ich daraufhin gleich nach Neujahr gekränkt und beleidigt mit zu mir nach Hause genommen. Ich werde schon jemanden finden, dem ich damit eine Freude machen kann. Bis jetzt habe ich gehofft, Thomas würde danach fragen. Ich wollte dann sagen, dass ich es anderweitig verschenkt habe.
Während des Essens ließ Thomas beiläufig und an Jochen gerichtet die Bemerkung fallen, dass Kirstin nicht gekommen sei, dass er das aber wohl schon einmal gesagt habe. Wann und bei welcher Gelegenheit, bleibt mir schleierhaft. Jochen hatte leckere belegte Brote zubereitet, wofür sich Thomas mit gutem Appetit und beim Abräumen erkenntlich zeigte.
Um zwanzig nach acht verabschiedete ich mich. Beim Anziehen hörte ich Thomas sagen, dass er noch ein wenig bleiben wolle und könne, aber nicht lange, denn er müsse noch in die Wanne. Da wäre ich gerne mit rein gestiegen.
Jochen erzählte mir gestern, dass Thomas aber schon fünf Minuten nach mir gegangen sei. Aber was ich jetzt nicht weiß, hat Thomas sein Geschenk mitgenommen oder nicht?

Mittwoch, 4. Januar 1989 - Mittwoch, 18. Januar 1989

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