Die Hoschköppe / 105. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 105. Kapitel

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Mittwoch, 18. Januar 1989


Die Straßen sind weder vereist noch liegt irgendwo die geringste Spur von Schnee, dabei schreiben wir bereits den achtzehnten Januar. Die Luft fühlt sich wie Tauwetter an. Es ist aber nichts zu tauen da. Alles, was diesen Winter kennzeichnet und wenig liebenswert macht, ist der permanente Dreck. Also Dreckwetter?
Jochen kommt in dieser und in der nächsten Woche erst abends um halb acht von der Arbeit nach Hause. Er bereitet sich auf mehrere Prüfungen vor und meint dies im Büro besser tun zu können als zu Hause, wo ihm die vier Ecken keine Chancen bieten, sich in einem erforderlichen Maß zu konzentrieren.
Als ob ich ihn dabei stören würde, dachte ich, als er mir sein Vorhaben verkündete. Es werden wohl andere Dinge sein, die ihn davon abhalten, auch zu Hause mal ein Buch vor die Nase zu nehmen. Ich will damit nicht gesagt haben, dass er zu Hause überhaupt nichts für sein Studium tut. Er könnte nur mehr machen, das meine ich. Seine Beschuldigung, ich würde ihn zu wenig unterstützen, ungenügend Anteil nehmen und Verständnis zeigen, kann ich so auch nicht gelten lassen. Er mag ja in allem ein wenig Recht haben. Ein wenig, aber mehr nicht. Klopfe ich ihm nicht verständnisvoll und tröstend auf die Schulter und bewundere seinen unermüdlichen Fleiß, wenn er mir seine seitenlangen Mitschriften zeigt, und bedauere ich ihn dann etwa nicht, wenn er kopfschüttelnd gesteht, nichts von dem verstanden zu haben? Also bitte!
Einmal hatte mir Jochen aus einem Lehrbrief für Strömungslehre einen Abschnitt von nur wenigen Zeilen vorgelesen und mir daran sein Leid erklärt. Bis auf die griechischen Buchstaben, die in den Text eingebacken waren wie Rosinen in einen Topfkuchen und die wir gemeinsam im Duden nachschlugen, war alles in Deutsch geschrieben. Dennoch musste ich zugeben, und ich tat dies ohne Verwunderung, dass auch ich rein gar nichts davon verstanden hatte. Die Worte sagten mir ebenso wenig wie ein schwarzes Loch. Ich glaubte ihm ohne Abstriche, dass er manchmal über das normale Quantum an Verzweiflung hinaus war und den ganzen Kram am liebsten hinschmeißen würde.
Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, als ich gestern Abend zu mir nach Hause ging. Wir hatten uns vorher einen US-amerikanischen Jugendfilm angesehen, der Jochen mächtig an die Nieren gegangen war. Der traurige Schluss des Films hatte dann auch folgerichtig seine Tränensekretion in Gang gesetzt und alle produzierte Flüssigkeit nach außen gebracht. Obwohl mir das nicht so rasch passiert, war ich in diesem Fall auch nicht kalt geblieben. Manchmal dachte ich noch lange über solche Filme nach, die einen gewissen Eindruck auf mich hinterließen. Ich fühlte den Schmerz, den die Akteure nur gespielt hatten. So auch nach diesem Streifen. Dabei wollte ich über gar nichts nachgrübeln, ich lag erst wenige Minuten im Bett, sondern am liebsten sofort einschlafen. Aber wer konnte das auf Kommando? Je verzweifelter ich versuchte, an nichts zu denken, desto mehr Ungerufenes kam mir in den Kopf. Zuerst drängten sich mir alle die Geräusche auf, die ich sonst überhaupt nicht wahrnehme. Mit monströser Wucht hämmerte es im roten Wecker, als wolle der sein Gehäuse sprengen. Regelmäßig rülpsten die Weinballons dazwischen. Irgendwo über mir war jemand aufs Klo gegangen, denn ein reißender Sturzbauch zwängte sich plötzlich durch das Fallrohr hinter der Kochnische in Richtung Kanalisation. Im Korridor schaltete sich der Kühlschrank ein und brummte gemütlich eine Weile vor sich hin. Hier und da ein undefinierbares Knacken. Nur der Teufel wusste, was es war. Vielleicht er selber? Dann drangen die Stimmen irgendwelcher Leute an meine Ohren, ganz dünn nur, als kämen sie aus weiter Ferne. Dann Gelächter, ebenso weit weg. Möglich, dass noch irgendwo ein Fernseher lief. In der Siedlung schlug ein Hund an, ein anderer antwortete. Unten wurde die Haustür auf- und wieder zugeschlossen. Über allem lag das an- und abschwellende Stöhnen des Windes, der ums Haus fegte und ans Fenster drückte. Ich drehte mich ruhelos von einer Seite auf die andere oder lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und dachte zurück an den Film, an die Jungs darin, deren Leben von Anfang an verpfuscht war, nur weil sie in keine gut betuchte Familie hineingeboren worden waren, die trotzdem Herz und Verstand hatten, sich aber roher Gewalt bedienen mussten, wollten sie nicht untergehen; an den Jungen, der mit sechzehn hatte sterben müssen, dem sein armseliges Leben bis dahin scheißegal war und nun doch nicht sterben wollte, weil es noch so viel zu sehen gab, noch so viele Sonnenaufgänge; an dessen Freund, den der Sterbende weinend zurückließ.
Wann habe ich das letzte Mal einen Sonnenaufgang gesehen?, fragte ich mich. Vor zwanzig Jahren vom Streckelberg aus? Heute erlebe ich nur noch verschwommene Sonnenuntergänge über den kantigen grauen Neubauten.
Es war am Freitag der vergangenen Woche. Ich kam von der Arbeit und hatte weit hinter dem Sonnenblumenhochhaus die Straße überquert. Noch auf dem Gehweg vor den Parkplätzen blieb ich stehen und blickte fasziniert in den Himmel. Hoch über der Hermann-Matern-Straße hingen größere und kleinere Wolken, die alle einen knallrosafarbenen Bauch hatten. Es musste wohl der Bauch gewesen sein, denn hin und wieder dellte sich ein Nabel ein, oder können Wolken auch auf dem Rücken liegen? Zwischenräume gaben die Sicht auf eine ferne, unbegreifliche Unendlichkeit frei. In ihr zogen, mehr zu erahnen als wirklich zu sehen, winzige glühende Fünkchen dünne rosaweiße Linien an den dort klaren Himmel, die nach und nach wie Puffmais aufquollen und dann leise zu einem Nichts verschwanden. Aber nicht allein deswegen war ich stehen geblieben. Mir war zwischen den Wattestrichen ein grell leuchtender Punkt aufgefallen, der regungslos am Himmel zu stehen schien und plötzlich verlosch. Leuchtkugeln sind am Himmel so außergewöhnlich nicht, zumal eigenes und befreundetes Militär die schönsten Ecken der näheren Umgebung beherrschten, diese schien mir aber so unendlich viel höher zu brennen. Nachdem ich eine Weile mit verrenktem Hals da gestanden hatte, blickte ich flüchtig zurück auf die andere Straßenseite, von der ich gekommen war, und ging dann weiter. Ging da nicht eben Thomas? Ich wollte mich vergewissern, aber nun versperrte mir die Hecke, die den Parkplatz in zwei lange Hälften teilt, die Sicht.
Dass es tatsächlich Thomas war, stellte sich heraus, als er acht Minuten nach sieben bei uns klingelte. Er war gleich und von selbst darauf zu sprechen gekommen, als hätten wir ihm etwas zu entschuldigen. Er sei deswegen nicht zu mir rüber gegangen, weil er noch einen Brief hätte einstecken müssen. Wo er ihn hatte reinstecken wollen, hatte er uns nicht verraten. An einem gelben Briefkasten musste er gerade vorbeigekommen sein und der nächste lag gewiss nicht auf seinem Weg.
Thomas hatte sich zu mir auf die Couch gesetzt. Jochen schaltete den Fernseher aus, damit wir uns ungestörter unterhalten konnten. Thomas protestierte dagegen und ich sagte: „Wenn der Fernseher läuft, dann fällt es wenigstens nicht so auf, wenn wir uns nach zwei Minuten nichts mehr zu sagen haben.“
Der Apparat blieb aus. Jochen und Thomas unterhielten sich anfangs über die Schule. Dann vertraute Thomas uns an, dass er jetzt häufig ins Möweneck gehe, sich dort alleine an einen Tisch setze und bei einer Kola, oder so, irgendwelche Sachen erledige oder lese. Jochens erster Gedanke war ganz offensichtlich, dass Thomas dies nur tue, um sich anmachen zu lassen, denn in diesem Sinne äußerte er sich dazu und mischte sich damit ganz offen in Thomas‘ innere Angelegenheiten ein. Ich würde ihn da auch nicht gerne sitzen sehen, aber was sollte es? Wer konnte ihn davon abhalten? Und wer wusste, ob es überhaupt stimmte, was er uns da wieder auftischte.
Acht Minuten vor acht zog er von dannen, mit ein paar leeren Seiten aus einem Schreibblock und einem Kugelschreiber in der Hand, alles von Jochen, zum Schulhof, wo er gemeinsam mit seiner Klasse in die Sterne kucken müsse. Am Sonnabend wolle er den Kugelschreiber zurückbringen. Er tauchte aber noch am gleichen Abend um neun wieder auf und brachte außerdem noch in einem Plastebeutel mehrere Sachen für Astronomie mit. Er musste in der Zwischenzeit also auch noch zu Hause gewesen sein. Thomas breite alles und ungehindert auf dem Tisch aus und begann, ein sogenanntes Protokoll anzufertigen, auf dem er den Mond einzeichnete, wie er, und nur er, ihn gesehen hatte. Ich ging ans Fenster und betrachtete den Mond, der da am dunklen Himmel leuchtete. Ich sah ihn ganz anders. Aber das musste wohl so sein. Um dreiviertel elf verabschiedete sich Thomas mit dem Versprechen, am nächsten Tag wiederzukommen. „Man sieht sich noch“, hatte er gesagt. Aber darauf warteten wir bis heute.


Dienstag, 10. Januar 1989 - Montag, 23. Januar 1989

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