Die Hoschköppe / 106. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 106. Kapitel

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Montag, 23. Januar 1989


Am Freitag fuhr ich nach langer Pause wieder zum Arbeitskreis, habe ich mir doch vorgenommen, nicht länger fernbleiben zu wollen und wieder aktiv mitzuarbeiten, auch wenn mich das einen großen Teil meiner Freizeit kosten wird, denn pro Monat werden zwei Abendveranstaltungen durchgeführt, zu denen es mindestens zwei Vorbereitungstreffen gibt. Jochen wird sich zwar wieder darüber beklagen, dass ich ihn zu viel allein lasse, aber vielleicht nutzt er die Zeit für seine Studien, während ich unter die Leute komme und wieder andere, neue Gesichter zu sehen kriege, vor allem aber auch mit den alten Freunden des Leitungskollektivs und aus dem Arbeitskreis zusammentreffe. Immer nur zu Hause hocken und darauf lauern, dass es klingelt, zermürbt mich. Mir Ablenkung zu verschaffen, der Zugang zu neuen Gedanken, das ist es, was ich im Moment nötig brauche.
Zu diesem Zweck gingen wir beide wenige Minuten nach achtzehn Uhr aus dem Haus: Jochen zur Bushaltestelle und ich zur S-Bahn. Ich war bereits bis kurz vor die S-Bahnbrücke gekommen, als hinter mir der Bus vorbei fuhr, der Jochen nach Warnemünde bringen würde. Es saßen nur wenige Leute darin, Jochen winkte. Ich hatte noch nicht lange auf dem Bahnsteig gewartet, als Gerd die Treppe herunterkam. Plötzlich verschwand er aus meinem Blickfeld. Sicher ist er jetzt dabei, seine Fahrkarte zu lochen, dachte ich und richtete meinen Blick wieder auf die finstere Stelle in der Ferne, aus der jeden Moment nach einer Kurve die drei Lichter der S-Bahn auftauchen mussten. Ein freundschaftliches Schulterklopfen ließ mich zusammenfahren. Gerd hatte mich also doch gesehen.
„Willst du auch dahin?“, fragte Gerd, ohne den gemeinten Ort näher zu bezeichnen.
„Ja, auch mal wieder“, antwortete ich.
Im Zug befragte ich Gerd zum Thema des Abends, denn ich hatte es vergessen. Ein Dia-Vortrag über Mexiko sollte gezeigt werden. Dann sprachen wir über Weihnachten und Silvester. Weihnachten sei er bei Detlef S. eingeladen gewesen, war aber vorsichtshalber nicht hingegangen. Ob sich zu Hause die Fronten inzwischen geklärt hätten, ob wieder Friede eingekehrt sei, fragte ich weiter. Im Moment werde über dieses Thema nicht gesprochen, antwortete Gerd bedrückt. Sein Vater hatte ihn aber großzügig vor die Wahl gestellt, entweder abzulassen von diesen schwulen Schweinereien und folglich bei ihm wohnen bleiben zu dürfen oder auszuziehen, wenn er es nicht wolle. In letzterem Falle wolle sein Vater ihm immerhin einen Wohnheimplatz besorgen. Toll! Seine Mutter scheine sich so halbwegs damit abgefunden zu haben, meinte er. Ein Wohnheimplatz, vielleicht noch mit mehreren Leuten auf einem Zimmer, würde ihm überhaupt nichts nützen, brächte ihn nur vom kalten Regen in die Traufe. Ich meinte zu ihm, sein Vater solle ihm lieber eine Wohnung besorgen, aber soweit reiche wohl sein leerer Arm auch nicht. Wir diskutierten die Möglichkeit einer Ausbauwohnung, kamen aber zu dem Schluss, dass die Geld- und Materialfrage nicht zu lösen sein würde.
Im Arbeitskreis waren die Leute sehr erstaunt, eventuell auch erfreut, als ich durch die Tür des kapellenartigen Anbaus kam, der der ESG zur Verfügung steht. Viele Besucher hatten sich noch nicht eingefunden, vielleicht erst zehn, zwölf Mann. Da ich die meisten recht gut kenne, begrüßte ich sie alle mit Handschlag, was ich sonst zu vermeide suche. Die kleinen Tische, die den Raum füllten, waren schon eingedeckt. Zur Selbstbedienung waren belegte Brote auf einem separaten Tisch aufgebaut und Tee, der sich in großen braunen Thermoskannen heiß hielt. Zwischen den beiden kreisrunden Fenstern, die die gewaltige Stärke des alten Mauerwerkes der Kirche verdeutlichten, war bereits die Leinwand aufgespannt. An der gegenüberstehenden Wand, zwischen den kleinen Tischen mit den belegten Broten, stand der Projektor hoch oben auf einem Stuhl, der wiederum auf einem Tisch stand. Auf der Bank dahinter belegte ich gleich eine Sitzgelegenheit und schenkte mir dampfenden Tee in eine braune Steinguttasse ohne Henkel ein. Es war beruhigend festzustellen, dass sich während meiner langen Abwesenheit absolut nichts zum Besseren verändert hatte. Es sah überall noch genauso wild und trübe aus wie vordem. Auch der Tee war erfreulicherweise seinem abscheulichen Geschmack treu geblieben.
Sogar Bernd war da! Sein Freund hatte ihn nur widerwillig für ein paar Tage aus Berlin fortgelassen. Er setzte sich zu mir. Nach und nach füllten sich die beiden kleinen Räume der Evangelischen Studentengemeinde. Auch mit blauem Zigarettenrauch. Das allgemeine Gesprächsthema, welches überall herauszuhören war, war die Änderung der Paragrafen 149 und 150 und vor allem die ersatzlose Streichung des Paragrafen 151 des StGB . Der erste Juli als Datum des Inkrafttretens würde damit zu einem historischen Datum in der Rechtsgeschichte der DDR werden. Ein seit Langem überfälliger Schritt war getan.
Bernd bekam Das Magazin in die Finger, in dem zu schwulen Lebensläufen ein wirklich guter Artikel abgedruckt stand. Pünktlich, es war erst sechs Minuten nach halb acht, begann der ehemalige Seemann mit seinem Vortrag über seine Reise auf der Berlin nach Mexiko. Jeder konnte beim Betrachten der Dias sehen, dass er seither noch fülliger geworden war. Als das Licht wieder anging, waren es über vierzig Leute, die seinen Worten gelauscht hatten. Nun nahm ich mir den Artikel vor. Klaus H. kam auf mich zu und meinte, er habe mich am Vortage anzurufen versucht, mich aber nicht erreichen können. Zu der Zeit, erklärte ich, habe ich in einer sehr gehaltvollen DRK-Delegiertenkonferenz herumsitzen und grübeln müssen. Wir verabredeten uns für Sonntagnachmittag um vier bei Jochen. Sehr viel länger hielt ich mich dann nicht mehr auf, ich wollte nicht zu spät nach Hause kommen.
Als Erstes richtete ich Jochen diverse Grüße aus, die mir mit auf den Weg gegeben waren - Grüße von Gerd, Detlef K., Klaus, Bernd, Eddi … - um dann in groben Zügen zu umreißen, was es an Neuem gab, auch, dass er Eddi bald los sein werde, so hatte der sich jedenfalls ausgedrückt, denn er werde voraussichtlich die Warnowwerft wieder verlassen. Wohin er gehen wolle, hatte er nicht verraten.
„Und, bist du nun rüber gewesen?“, fragte anschließend Jochen.
„Wo rüber denn?“, musste ich zurückfragen, obwohl es mir gleich klar war, was Jochen meinte.
„Na, übern Wall.“
„Nein, natürlich nicht! Ich hatte auch gar nicht daran gedacht.“ Das stimmte.
Wir hatten während des Abendessens wieder über Thomas gesprochen und in dem Zusammenhang hatte Jochen gemeint, ich solle doch mal über den Wall gehen und kucken, ob sich Thomas dort rum treibe. Ich hatte das mit der Ausrede abgelehnt, dass mich womöglich alte Bekannte sehen könnten und dann gebe es bloß Gerede darüber. Das mache nichts, hatte Jochen gesagt, er wisse ja dann Bescheid.
Es interessiert mich schon brennend, ob Thomas dort anzutreffen ist, aber meine Hemmungen sind größer. Ich habe Angst davor, ihn wirklich dort herumschleichen zu sehen. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob ich vielleicht doch rüber gegangen wäre, wenn ich daran gedacht hätte, als ich vom Arbeitskreis weggegangen bin. Wer weiß schon, ob und wann es Thomas wirklich dorthin zieht. Und dann hätte auch noch der Zufall an meiner Seite gehen müssen, um ihn zu erwischen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass ich von irgendwelchen Bekannten angequatscht worden wäre, die mich dann an Jochen verpetzt hätten. Ich bin also nicht rüber gegangen.
„Das hätte dir sicher das Herz gebrochen, wenn du ihn da gesehen hättest. Und deswegen bist du auch nicht hingegangen“, schätzte Jochen und hatte damit wohl recht.
„Ja, das Herz hätte es mir ganz sicher gebrochen … aber ich habe wirklich nicht daran gedacht.“
„Hättest du ihn dann noch angesehen?“, fragte Jochen schadenfroh.
„Nein! … Doch! Doch, ich hätte ihn noch angesehen. Es ist doch seine Sache, ob er da hingeht oder nicht. Wenn er das braucht. Und er ist jung und griffig, noch stehen ihm alle Hosen offen. Ich wäre dann nur traurig, dass er nicht zu mir kommt. Aber mich wird er wohl nicht brauchen.“
Jochen erzählte: „In der Sauna war nichts los. Absolut tote Hose. Nur alte Männer. Die sind aber dafür rudelweise hereingebrochen. Mein neuer Freund“, wie er sich ausdrückte und der sein eigentliches Ziel war, gemeint war Jörg, „ist auch nicht da gewesen. In Ermangelung eines angenehmeren Platzes im Ruheraum habe ich mit dem Fußende einer Liege vorlieb nehmen müssen, auf der bereits ein gut beleibter Herr lag. Der hatte aber nach kurzer Zeit einem Opa sein Feld geräumt und der hat dann seine verhornten Hacken auf mein Handtuch gelegt. Ich hab mir zwangsläufig seine Füße ansehen müssen. Ein erster kurzer Blick hatte bereits genügt, um meine Eingeweide aufschreien zu lassen. Mein Magen wandte und krümmte sich unter der Last des nahen Übels. Aber noch bevor das Würgen Folgen zeigen konnte, bin ich aufgesprungen und davongelaufen. So was Ekelhaftes habe ich überhaupt noch nicht gesehen! Und damit traut der sich, in die Sauna zu gehen. Da ist es gar kein Wunder, wenn man sich dort die schlimmsten Sachen wegholt. Mir hat es jedenfalls den Rest gegeben und genötigt, nach Hause zu fahren.“
Obwohl ich nicht unbedingt auf Horrorgeschichten stehe, in denen keine hübschen Jungs mitspielen, so wollte ich mir doch dieses Schauspiel am Sonnabendnachmittag auch ansehen, aber der Alte war schon weg. Die Szene hatte inzwischen vollkommen gewechselt und so hatte ich mehr Glück als Jochen. Sogar Norbert und Thomas H. kamen hereingeschneit, die ich eine Ewigkeit nicht gesehen hatte. Thomas arbeitet inzwischen, wie viele andere auch, in Berlin, das heißt, eigentlich schon ziemlich lange. Er hat noch immer eine ganz tolle Figur, nicht viel größer als unser Thomas, aber im Gegensatz zu dem und für meinen Geschmack entschieden zu viele Haare auf der Brust. Aber das hatte ja schon früher jedes Hemd erahnen lassen. Wenn er nur in einer anderen Sache ebenso viel vorzuweisen hätte! Ich bemerkte mit einem Seitenblick, ich saß in einem der Sessel neben den Spiegeln, während Thomas vor mir hockte, dass mein Nachbar sichtlich davon beeindruckt war, was ich für tolle Kerle kenne. Als sich Norbert und Thomas nachher verabschiedeten, nutzte ich die Gelegenheit, Norbert noch rasch zu fragen, ob es bei ihm was Neues in Sachen Liebe gebe. Ach nein, stöhnte er, ihn wolle ja keiner. Obwohl er ein netter Typ ist und ich ihn sehr gern mag, genommen hätte auch ich ihn nicht, dachte ich. Als hätte Norbert meine Gedanken lesen können, konterte er mit der Frage, und die etwas zu laut, ob ich wieder einmal fremdgegangen sei?
„Hör mal, sehe ich so aus?“, hatte ich ihm geantwortet, konnte mir aber ein Grinsen dabei nicht verkneifen.
Vieles scheint nur möglich, wenn es in größeren Abständen passiert. Der Besuch bei Freunden beispielsweise.
Wir hatten uns fest vorgenommen, Dieter N. im Krankenhaus zu besuchen. Oder wenigstens nach seiner Entlassung zu Hause. Gesprochen hatten wir jedenfalls öfter darüber. Es war aber nie dazu gekommen. Nun ist er wohl inzwischen auf seine lang ersehnte Westreise gegangen. Wir sind schon jetzt gespannt, was er alles zu berichten haben wird, wenn er wieder im Lande ist und sich bei uns meldet.
Am Sonntag kam nun Klaus H., pünktlich um vier. Auf dem Tisch erwartete ihn eine Stachelbeertorte. Wir verplauderten den Nachmittag in aller Gemütlichkeit, zu dessen Abschluss er uns einige seiner neueren Gedichte vortrug, die wir ohne zu murren über uns ergehen ließen.


Mittwoch, 18. Januar 1989 - Donnerstag, 26. Januar 1989

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