Die Hoschköppe / 107. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 107. Kapitel

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Donnerstag, 26. Januar 1989


Ich hab von dir geträumt, Thomas, in der letzten Nacht. In irgendeinem der vielen Träume kamst du vor, die ich träumte zwischen Wachen und Schlafen, eingeflochten in eine unwiederbringliche Abfolge von grotesken Bildern tauchtest du plötzlich zwischen bisher nicht gekannten Wesen auf, die vor deinem Erscheinen gespenstisch agiert hatten, dir das Feld räumten und die nach dir wieder den freien Raum besetzten. Unvermittelt lagst du da, ich weiß weder wo noch worauf, ausgestreckt auf der Seite, der rechte Arm stützte deinen Kopf. Du sahst mich fragend mit strahlenden Augen durch den Schleier deiner Haare an. Du trugst es wie ehedem, als wir uns kennenlernten. Ein unbekanntes sanftes Lächeln huschte dir übers Gesicht. Ganz erstaunte mich deine Frage, ob ich denn überhaupt nichts mehr von dir wissen wolle. Vielleicht schwang etwas Traurigkeit in deiner Stimme mit, ich weiß es nicht mehr. Ob du denn gekommen wärest, wenn ich dich darum gebeten hätte, fragte ich dich. Ja, sagtest du, darauf hättest du so sehr gewartet. Zaghaft näherte ich mich dir und gab deiner Wange einen zärtlichen Kuss. Du legtest verlangend deinen Arm um mich, dann …
Ungezählt sind die jungen Böcke, die seit der Schulzeit auf meiner Weide gegrast und sich herumgetrieben haben, denn das Gras war damals noch saftig und verlockend. Nur wenige der blökenden Lämmer kann ich noch immer mit Namen benennen, von den meisten hatte ich ihn nie gekannt. Nur vereinzelte Gesichter blieben mir in der Erinnerung haften, ausgelöscht sind die anderen Bilder. Sie waren ausnahmslos hübsch anzusehen, viele besser als Thomas. Einmal war ich sogar verliebt. Das erste Mal in meinem Leben. Er hieß Gerd P. und war Lehrling im Armaturenwerk Prenzlau. Das war vor hundert Jahren. All diesen Jungs, die mir vor Urzeiten begegneten und die die Befriedigung ihrer jungen Lüste bei mir fanden, ob sie nun schwul waren oder nicht, hab ich in den meisten Fällen kaum länger als einen Tag lang nachgetrauert. Nie hat mich einer, nachdem wir uns das letzte Mal losgelassen haben, längere Zeit gedanklich beschäftigt, außer Gerd P. vielleicht. Zugegeben, ich denke sehr gern an manche schöne Stunde mit ihnen zurück, wozu sonst strickt man in seiner Jugend an den Erinnerungen für später, aber nicht in Trauer und Verzweiflung um die verlorene Liebe. Warum auch! Ich war selbst noch blutjung und voller Tatendurst! Damals, vor hundert Jahren.
Mit dir, Thomas, ergeht es mir ganz anders, alles war neu und das erste Mal. Es verstreicht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke, ob ich will oder nicht. Plötzlich, aus heiterem Himmel, fällst du wie eine wilde Horde Barbaren in meine faden Gedanken ein, tobst dich darin aus und verschwindest dann genauso plötzlich, ein wüstes Chaos zurücklassend.
Heute wolltest du mit uns ins Theater fahren! Hattest du uns das nur versprochen, um uns dann sitzen zu lassen?


Montag, 23. Januar 1989 - Sonnabend, 28. Januar 1989

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