Die Hoschköppe / 99. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 99. Kapitel

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Dienstag, 27. Dezember 1988


Ein Tag folgte dem anderen und plötzlich ist es Dienstag, schon einen Tag nach Weihnachten.
Entlang der ganzen Küste war es heute regnerisch und windig. Die Wellen wälzten sich immer höher auf den Strand hinauf und fraßen den wenigen Sand, der zwischen den Steinen verborgen lag. Die feuchte Brise, die mir kurz vor ein Uhr ins Gesicht wehte und mich am ganzen Körper zittern machte, ließ nicht vermuten, dass es beinahe zehn Grad plus waren. Ich war ganz allein und weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Auch alle Möwen hatten es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Neben mir stand meine Saunatasche auf den frei gespülten Kieseln. Ich vergrub die Hände tief in den Jackentaschen und schaute hinaus aufs Meer, das sich wie bei einer Gallenkolik verkrampfte, und sann über mein Lieblingsthema nach. Nach einer Weile flüsterte ich einige Worte in den Wind, die der sofort verschluckte und mit sich davontrug: „Wie ein träumend Schiff in dunkler Nacht auf des Meeres Klippen hart erwacht, so wird zerschellen voller Schmerz an dir mein liebend Herz.“
Am vergangenen Donnerstag war Thomas abends bei uns und Freitag waren Jochen und ich in der Sauna. Der Oberschüler heißt also Jörg. Als wir die Sauna verließen, nahm uns drei jemand im Trabi bis Lichtenhagen mit. Jörg war als Erster ausgestiegen und hatte sich sofort in Richtung Bus verdünnisiert, ohne auf uns zu warten. Er hatte wohl Angst, noch von uns eingeladen zu werden. Vorher hatten wir uns aber schon für kommenden Freitag um drei Uhr verabredet. Verwundert hatte es mich, dass Jörg das kleine in Weihnachtspapier eingewickelte Päckchen, das ich ihm beim Anziehen in seinen Koffer gelegt hatte, so ohne Weiteres annahm. Sonnabend und Sonntag, also Heiligabend und ersten Feiertag, waren wir von kurz vor dem Mittag bis nach dem Abendessen in Evershagen mit Jochens Mutter und seiner Schwester zusammen. Essen, Trinken, Fernsehen: unsere Weihnachtsdreifaltigkeit. Gestern waren wir nur zum Mittagessen dort. Wenn es nach Jochen gegangen wäre, dann wären wir auch schon am Sonntag wieder so früh abgehauen. Er sehnte sich wohl nach Thomas. Der kam aber auch gestern nicht, obwohl er zu Hause war und gesehen haben musste, dass wir da sind. In der Nacht um eins brannte noch immer bei ihm Licht. Ich konnte nicht gut schlafen, wälzte mich wiedermal von einer Seite auf die andere und dachte fortwährend darüber nach, wo Thomas jetzt wohl sein mochte. Das Licht in seinem Zimmer besagte ja nicht automatisch, dass er zu Hause ist. Jochen hatte gestern Nachmittag sogar eine brennende Kerze auf das Fensterbrett gestellt, als wolle er seinem Leander damit den Weg weisen.
Zuerst trat ich der Kälte wegen auf der Stelle und dann in einem engen Kreis um meine Tasche herum. Das raue Wetter wurde dadurch aber nicht gemütlicher. Ich nahm die Tasche auf und stapfte schweren Schrittes zur Promenade hoch und weiter zur Schwimmhalle, wo ich mir eine Dreistundenkarte für die Sauna kaufte. Jochen wollte lieber zu Hause sitzen und auf Thomas warten. Durchgefroren bis in die letzten Eingeweide, genoss ich die Hitze, die von den beiden Öfen gespeist wurde, und ließ mir die herrlichen Ansichten gefallen, die ich von jedem Platz aus hatte.
Um halb fünf war ich wieder zurück, wo mich bereits der gedeckte Teetisch erwartete. Jochen hatte seine zweite Tasse Tee noch nicht ausgetrunken, als es endlich klingelte.
Hatte ich schon erwähnt, dass es bei uns nur morgens Kaffee gibt? Die Plürre aber als Kaffee zu bezeichnen ist allerdings strafwürdig. Bei meinen Eltern in Fürstenwerder stand bis zuletzt ein bemalter Untersetzer aus Steingut im Küchenschrank, auf dem war folgendes Rezept zu lesen: Der Kaffee ist gut, das muss man ihm lassen, fünfzehn Bohnen und sechzehn Tassen. Dieser schönen altdeutschen Tradition fühlen wir uns noch heute mit Stolz verpflichtet.
Es hatte wie gesagt geklingelt und Jochen beschleunigte seinen Körper in Richtung Tür. Bei mir beschleunigte sich der Puls, der dann aber fast vollständig zum Erliegen kam, als Jochen seinen Chef ins Zimmer geleitete und ihn in den Sessel dirigierte, den ich freimachen durfte. Sein Chef hatte zwei Vorlagen mitgebracht, die sie gemeinsam und innerhalb einer guten halben Stunde wichtigtuerisch durchgingen, als hätten die nicht Zeit bis nächstes Jahr. Na, vielleicht hängt die Existenz der Werft am seidenen Faden und sie machten nun einen Strick daraus. Ich saß derweilen etwas abseits auf der Couch und starrte Löcher in die Gegend. Alles, was sie hier sehen, ist die Gegend, und alles drum herum, ist die Umgegend. Einmischen konnte und durfte ich mich nicht, den Fernseher hatte Jochen extra leiser gedreht und umher wirtschaften, als sei ich hier zu Hause, traute ich mich auch nicht. Ich spielte den bescheidenen und höflichen Gast. Dabei blieb es nicht aus, dass mein Blick auch den Leuchter streifte, der über dem Tisch von der Decke hängt. Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen, als ich sah, was daran befestigt war. Kleine, in bunte Alufolie eingewickelte Barren, Schokolade nahm ich an, waren kreuzweise zu sechst oder acht übereinander gebunden und hingen nun an zwei der Leuchterarme und über unseren Köpfen. Wie lange schon mag der kleine Piratenschatz dort gebaumelt haben? Sicher hatte Jochen am Nachmittag bereits anderen Besuch gehabt. Die eingewickelten Geschenke für Thomas lagen andererseits noch immer da, wo sie schon seit Tagen auf ihn warten. Nachdem Jochens Chef endlich gegangen war, fragte ich nach der Herkunft dieses Gehänges. Jochen berichtete, dass Thomas um halb zwei gekommen und circa eine halbe Stunde geblieben war, in der sie eine Seite der neuen Platte angehört hätten, dann habe er einkaufen gehen müssen. Zum Tee hatte er eigentlich wiederkommen wollen, sei aber schon früher erschienen, um sich abzumelden, denn er müsse mit seiner Tante in die Stadt.

Donnerstag, 22. Dezember 1988 - Donnerstag, 29. Dezember 1988

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