Die Hoschköppe / 109. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 109. Kapitel

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Mittwoch, 1. Februar 1989


Der erste Februar begrüßte mich heute Morgen mit ungewöhnlicher Milde. Im Laternenschein schoben sich die ersten Regenwürmer über den feuchten Asphalt des Gehwegs, als ich in Herrgottsfrühe zur S-Bahn ging. Die Amseln, deren schrille Rufe von überallher ertönten, schrien sich wie toll geworden an. Wahrscheinlich begann es, ihnen unter den Federn zu jucken. In der Ostsee-Zeitung konnte jeder, der wollte, nachlesen, dass bereits der ganze Januar zu warm gewesen war. Hinterher wissen sie es immer ganz genau:

„Januar zu warm. … (BD) Die Nacht zum 31. Januar bestätigte mit Temperaturen zwischen plus 5 und 7 Grad auch am letzten Tag des ersten Monats im neuen Jahr, daß der sonst kälteste Monat des Jahres diesmal zu den wärmsten der vergangenen Jahrzehnte zu zählen ist. Tagestemperaturen um 6 bis 8 Grad am Dienstag nahmen den letzten Zweifel.“

Als ich gestern von der aufreibenden Büroarbeit abgeschlafft nach Hause kam, ich hatte mir auch noch in der Stadt auf der Suche nach einem Weinschlauch die Hacken abgelaufen, saß Jochen bei mir zu Hause auf meinem ungemachtem Bett und hielt sich einen Lehrbrief über Hydrodynamik unter die Nase. Erfreut über die kleine Unterbrechung, die mein Erscheinen mit sich brachte, legte er die verhasste Broschüre beiseite und erklärte, dass bei ihm zu Hause Roland am Werke sei. Der habe diverse Platten aus Hamburg mitgebracht und sei nun dabei, sie auf Kassetten zu überspielen. Ich wusste, dass sein Bruder am Freitag mit einem gewaltigen Affen im Genick von See nach Hause gekommen war. Über alle anderen Mitbringsel hatte sich seine Mutter mehr gefreut. Jochen hatte endlich eine LP von Rondo Veniciano bekommen und für mich hatte er in Suez ein DIN-A-3-großes Blatt aus Papyrus gekauft, auf dem ein halb nackter Pharao auf einem Prunkstuhl sitzend dargestellt ist, über dem ein Geier seine Schwingen ausbreitet und dem eine bekleidete Dame (?) irgendwelche Gaben darbringt. Eingefasst ist das Bild von einem Band aus sehr dekorativ angeordneten Hieroglyphen. Die magische Kunst ihrer Deutung ist mir in dieser Welt leider nicht gegeben. Mitgegeben war aber diesem einmaligen Kunstwerk eine bemerkenswerte und in sechs Sprachen abgefasste Art Garantieurkunde, von denen ich hier leider nur die deutscheste Version wiederzugeben in der Lage bin:

“carantie certifikot
Papyrus cervices center beschoiniat dasdie papier dcrdiler
aus dar papyrus pflanze heryestellt uaorden.
AHMED ABDO EL KERIEMS SONS Co. Antiques & Tourist Things.
Saad Zoaghloui & EL Gomhourie St. EGYPT - PORT-SIAD”

(Wegen der besseren Lesbarkeit habe ich mir erlaubt, alle im Original auf dem Kopf stehenden Buchstaben zurück auf die Füße zu stellen.)

Während Jochen noch bis um halb sechs in seiner Hydrodynamik schmökerte, wobei er keine große Begeisterung erkennen ließ, schrieb ich ein paar Kärtchen für die Literaturkartei. Jochen meinte, er habe kein besonders gutes Gefühl im Bauch, wenn er an die Prüfung am Freitag denke.
Als wir dann des Abendbrots wegen zu Jochens Wohnung pilgerten, hockte Roland noch immer vor den Geräten. Es war aber nicht so laut, wie wir befürchtet hatten. Nach dem Essen braute Jochen trotz der Hitze draußen einen Glühwein, denn er hatte in der großen Kaufhalle albanischen Rotwein zu fünf Mark die Flasche bekommen. Er wollte gleich ausprobiert, ob sich der Wein wenigstens für Heißgetränke eignet, und damit wir im Falle, er sagt uns zu, weitere Flaschen nachkaufen können. Plötzlich klingelte es. (Für alle, die es noch nicht bemerkt haben sollten: Bei uns klingelt es immer plötzlich!) Aber nur kurz und zaghaft. Obwohl auch er es gehört hatte, reagierte Jochen nicht darauf. Ausgerechnet jetzt, wo Roland hier ist, dachte ich, musste der verloren geglaubte Sohn heimkehren. Oder sollte es schon wieder Frank sein? Es klingelte ein zweites Mal. Schon eine Spur deutlicher. Jetzt bemühte sich Jochen zur Tür, um wenigstens durch den Spion zu kucken, kam aber gleich wieder zurück.
Da ich jetzt nicht fragen mochte, wer es gewesen sei, sagte ich nur: „Mach doch wenigstens auf und sag ihm, dass wir Besuch haben!“
„Da steht einer vor der Tür, den kenne ich überhaupt nicht“, sagte Jochen.
Nun musste natürlich für Roland, dem das ganze Manöver wenig logisch vorkam, eine Erklärung folgen. Jochen äußerte also seine dahin gehende Vermutung, in dem Fremden wohl einen Genossen befürchten zu müssen, der Helfer für die Vorbereitung der Kommunalwahl sucht. Damit lag er sicher gar nicht so falsch. Jetzt klingelte es zum dritten Mal. Diesmal mit penetranter Ausdauer und Nachdruck! Vielleicht hatte der uns gehört oder das Licht brennen gesehen. Würde einer dieser Rekrutenfänger bei mir klingeln, dann wäre ich wirklich nicht zu Hause.
Halb acht, ungefähr, ging Roland. Zu dem Artikel aus dem Magazin, den ich vorgestern als Kopie von einer Beratung im Leitungskreis mitgebracht hatte, hatte Roland erwartungsgemäß keine Andeutungen gemacht. Jochen hatte mir erzählt, dass sein Bruder danach gefragt habe, denn die Kopien lagen offen auf dem Tisch als Roland gekommen war. Jochen hatte lediglich dazu gesagt, dass ich die Kopien angeschleppt hätte. Ich hatte Jochen deswegen Vorwürfe gemacht, weil er sie hatte offen liegen lassen. Nun würde die Sache wohl zur Sprache kommen, befürchtete ich und hatte mir sicherheitshalber eine Begründung ausgedacht, womit ich die Sache erklären wollte. Mich erstaunte nur, dass Jochen das Ganze so kühl und gelassen hinnahm, als ob es ihm nun plötzlich egal sei. Deswegen sagte ich zu ihm, dass Roland uns das wohl nicht übel nehme. Das glaube er aber doch, sagte Jochen. Der nehme uns das weit eher übel als Kati. Roland hatte jedenfalls nichts zu dem Artikel gesagt. Wahrscheinlich hatte er ihn gar nicht weiter beachtet. Oder doch?
Im Fernseher zeigte man uns glutrote Lavaströme, die aus dem Innern von Hawaii flossen. Als sie erkaltet waren, so gegen neun, ging ich zu mir. Jochen linste durch den Spion, denn im Treppenhaus war allerhand unruhige Bewegung, bevor er mich hinausließ. Ich hatte erst nach einer ganzen Weile gehen können.



Sonnabend, 28. Januar 1989 - Donnerstag, 2. Februar 1989

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