Die Hoschköppe / 102. Kapitel - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Die Hoschköppe / 102. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Montag, 2. Januar 1989


Am Silvestertag, also am Sonnabend, waren Jochen und ich mittags zum Karpfenessen in Evershagen. Den Abend verbrachten wir dann allein. Obwohl uns ein gewisser Kerl von gegenüber Hoffnungen gemacht hatte. Jochen hatte zur Belustigung ein Fass Erdbeerbowle angesetzt, von der sofort nach dem Abendessen die ersten beiden Gläser eingeschenkt wurden. Außer der Bowle auf dem Tisch und dem Geknalle draußen, das schon am frühen Morgen einsetzte, deutete in der Wohnung nichts darauf hin, dass wir das alte Jahr schon zu Grabe getragen hatten und das nur noch der Deckel zugeschoben werden brauchte. Zuschütten würden das Loch andere. Wir hatten keinerlei Aufwand betrieben, um etwa das Zimmer in einen frohe Laune ausstrahlenden Festsaal zu verwandeln. Die grünen und blauen Schokoladebarren, die noch am Leuchter hingen, waren uns für diesen traurigen Anlass Dekoration genug. Für wen hätten wir in Hektik verfallen und Stimmung verbreiten sollen? Wir waren beide nicht besonders gut aufgelegt, woran auch die rosig schimmernde Bowle nichts zu ändern vermochte, und saßen nur mehr oder weniger stumpfsinnig vor der Glotze. So zog sich der Abend wie ein von mir selbst gewaschener Pullover furchtbar in die Länge. Die Bowle wurde kaum weniger und die Zeit bis zwölf auch nicht. Zwischendurch war Jochen von einer Idee gejagt aufgesprungen, hatte den Fernseher abgeschaltet und Musik angemacht, zu der er alleine und in Erinnerung an schönere Stunden vor sich hin tanzte. Ich ließ mich nicht dazu bewegen, vermied es sogar, aus dem Fenster zu blicken. Die kleine schwarze Fliege, die sich Jochen extra für den Tanz um den Hals gebunden hatte und die sonst den von Thot geschickten Pavian ziert, der auf seinem Postament in der Anbauwand sitzt, brachte auch keinen Pfeffer in die Suppe. In liebenswerterweise versuchte er, mich aufzuheitern, aber mit Gewalt lässt sich keine Ziege bespringen. Mir war einfach nicht zum Lachen.
Kurz nach elf zogen wir uns an und drehten eine Runde durch Lichtenhagen, um auf andere Gedanken zu kommen. Gewiss, wir hätten immer noch zu Norbert W. fahren können, bei dem wir auch ohne Einladung gern aufgenommen worden wären und bei dem wir schon so manch ein Schränke verrückendes Fest gefeiert hatten. Norbert sammelt aber mit Vorliebe solche Leute um sich, die sich nur von unten in die Nasenlöcher kucken lassen, und solche, die ihn wie eine fette Weihnachtsgans ausnehmen. In diesem erlauchten Kreise sind wir nicht gleichberechtigt. Wir ziehen es deswegen vor, ihn allein zu treffen.
Es waren kaum Menschen unterwegs. Nur hin und wieder begegnete uns ein Trupp junger Leute. Auf unserem Weg kamen wir unter anderem auch an zwei Abfallcontainern vorbei, die man vergessen hatte umzuwerfen. Trotz mehrerer Anträge meinerseits ließ sich Jochen nicht dafür begeistern, das Versäumte nachzuholen, was unserer Stimmung bestimmt den nötigen Auftrieb gegeben hätte.
Auf dem Rückweg flog ein gut aussehender junger Mann mit einem schwarzen Aktenkoffer an uns vorüber. Mit, nicht in! „Guten Rutsch!“, rief er im Vorbeiflug. „Ich habe es sehr eilig.“ Was uns nicht entgangen war. Mit ausgebreiteten Armen brummte er im Zickzack davon. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sahen wir Raymond durch deren Wohnzimmer tanzen und dann zum Abkühlen auf den Balkon heraustreten. Da war Stimmung. Als wir uns unserer Haustür näherten, wurden wir von drei Jungs bemerkt, die einen Eingang weiter auf dem Gehweg standen. Wir konnten die beiden Freunde erkennen, von denen der eine dort und der andere im Sonnenblumenhochhaus wohnt, den Dritten, der bei ihnen stand, aber nicht. Vereint und so laut, wie es ihnen für angemessen erschien, fingen sie an zu brüllen: „Hooch solll‘n sie leeeben, hooch solll‘n sie leeeben, drei-mal hoooch!“ Obwohl die Jungs es ganz sicher nicht nett gemeint hatten, winkten wir ihnen zu, denn wir waren durchaus bereit, ihnen zu vergeben, verschwanden dann aber rasch und sicherheitshalber im Haus. Wir hatten uns kaum Jacke und Schuhe ausgezogen, als es plötzlich Sturm klingelte. Scheiße!, dachten wir, sollten die drei etwa … Jochen sah vorsichtig durch den Spion, erblickte aber nur Frank vor der Tür. Der war von einer Fete aus nach Hause gegangen um Nachschub zu holen, konnte da aber nicht rein, weil er seinen Schlüssel vergessen hatte und niemand zu Hause war. Da es gerade zwölf wurde, konnten wir nun doch noch mit jemandem auf das neue Jahr anstoßen. Von da an glaube ich in Frank nicht den Schlechtesten unter der Sonne, dem Mond oder in Jochens Bett, zu erkennen. Auf keinen Fall ist er so falsch wie gewisse andere Leute. Da er wieder zu der Fete zurück wollte, er hatte nur mal eben reinschauen und guten Rutsch wünschen wollen, hielt er sich nicht länger auf. Beide hatten wir uns aber über sein unverhofftes Erscheinen sehr gefreut. Wir öffneten das Fenster und betrachteten das grandiose Schauspiel, welches die in mindestens zwei Farben zerstiebenden Raketen mühevoll an den tief hängenden Himmel zu zaubern versuchten. Sie schafften es mit knapper Not bis über die obere Hauskante der fünfstöckigen Neubauten hinauszufliegen, illuminierten aber dennoch den Innenhof verschwenderisch. Das Karree füllte sich alsbald mit verbrannt stinkendem Nebel, Lärm und allerhand Unrat, der bis zu uns in die Wohnung eingedrungen wäre, hätten wir ihn nicht durch das Schließen des Fensters daran gehindert. Drüben in Thomas‘ Zimmer ging für kurze Zeit das Licht an. Dann riss das Donnern und Blitzen plötzlich ab. Alles Geld schien verpufft. Wir sahen zu, dass wir ins Bett kamen. Es war ruhig genug, wir hätten sofort einschlafen können. Aber zumindest ich lag noch lange wach. Immer wenn sich Thomas in meine Gedanken drängte, vertrieb ich ihn mit Bildern aus der Schwimmhalle.
Wieder ist ein Jahr von uns gegangen, ein Jahr, fast so wie die vorhergehenden auch. Aber eben nur fast so, beinahe. Es hatte eine Menge Aufregungen im Gepäck, die nicht alle unbedingt hätten ausgepackt werden müssen, deren Anlass aber, und einen Teil der Aufregungen selbst, ich dennoch um nichts in der Welt missen möchte. Ich werde mir jetzt und in Zukunft noch so viele geile Schwimmhallenbilder ins Gedächtnis rufen können, Thomas wird durch nichts auszulöschen sein, das weiß ich.
Es war ein königliches Gefühl, gestern Morgen ohne Schmerzen im Schädel aufzuwachen. Draußen war es noch immer diesig, der leckere Brandgeruch hatte sich aber verflüchtigt. Überall zeigten sich die deutlichen Spuren der nächtlichen Ausgelassenheit, über die wir auch in Monaten noch die Füße werden heben müssen. Stellt sich nicht bald rettender Schnee ein, wird die Stadt gefegt werden müssen. Die Saison der verwaisten Weihnachtsbäume geht erfahrungsgemäß bis März/April. Die Schaufenster der Geschäfte entweihnachten sich wesentlich schneller. Mit dem Lametta, das noch an den Sträuchern wie Engelhaar hängt, mag sich der Wind schon bald selber schmücken.
Nach meinem ersten Arbeitstag im neuen Jahr kam ich heute nicht besonders munter zu mir nach Hause, wo ein ganzes Rudel hübscher Bengels unweit der Haustür Aufstellung genommen hatte. Ein oder zwei Mädchen verstärkten den Haufen. Im Vorbeigehen bemerkte ich, ich hatte im Laufe der Jahre eine gewaltige Antenne für dergleichen entwickelt, dass ein Junge seinem Nachbarn etwas ins Ohr flüsterte und mich dabei ansah. Kaum war ich an ihnen vorüber, als ich auch schon die laute Frage des Angesprochenen vernahm: „Der ist schwul?“ Die Frage wurde von den Umstehenden nur zu gern aufgegriffen und erneuert: „Der ist schwul?“ „Ach, der ist schwul? Igitt!“ Ein anderer Mieter war vor mir ins Haus gegangen, der hatte aber mit Sicherheit nichts gehört. Und aus dem Fenster sah zum Glück auch niemand. Den Mülleimer aber, der im Korridor auf mich wartete, werde ich auch später noch runterbringen können.
Das neue Jahr fängt also genauso an, wie das alte aufgehört hatte.
Ich versuchte, mich irgendwie zu beschäftigen. Damit verband ich die berechtigte Hoffnung, der krakeelende Haufen vor dem Haus, der Lärm war bei geschlossenem Fenster zu hören, würde sich bald auflösen und zerstreuen. Zuerst schnipselte ich an der dritten Collage herum, aber das Licht erwies sich als nicht ausreichend, ging dann an die Literaturkartei, dazu fehlte mir leider die nötige Lust. Zuletzt nahm ich die Wüstenrose zur Hand und begann zu lesen, selbst damit kam ich nicht allzu weit. Die Zeit verstrich nutzlos.
Inzwischen war die Bande, es hatten sich noch einige neue Mitglieder dazugesellt, der Haustür soweit näher gerückt, dass sie unmittelbar davor stand und den vorderen Ausgang völlig blockierte. Ich hatte hin und wieder vorsichtig durch die Gardine geäugt. Ich müsste doch eigentlich auch hinten rauskommen, fiel mir endlich ein, nahm den Schlüsselbund und ging runter, um diese Möglichkeit zu überprüfen. Zwei Zwischentüren konnte ich ohne Schwierigkeiten überwinden, aber die hintere Haustür bereitete meinem heimlichen Ausbruchversuch ein klägliches Ende. Der Drücker war ab und das Schloss offensichtlich kaputt. In Augenhöhe hatte jemand einen stabilen Überfall angebracht und mit einem soliden Vorhängeschloss versehen. Hier kam ich also nicht raus. Jedenfalls nicht ohne Gewaltanwendung. Was hilft es, dachte ich, ging wieder nach oben und zog mich an. Da werde ich eben vorne durchmüssen. Ich ersann mir ein paar schlagfertige Antworten, wie ich glaubte, die ich raushauen wollte, wenn wieder jemand etwas zu bemerken hätte. Dazu wäre es vorteilhaft, sie würden mir ihre blöden Sprüche ins Gesicht sagen und nicht hinterrücks an den Kopf werfen. Ich holte noch einmal tief Luft, als wolle ich von einem Turm ins Wasser springen, und öffnete die Haustür. Von dem großen Haufen war überraschenderweise nur noch eine kleine Handvoll übrig geblieben, die davor standen und von denen sich zwei Jungs auf den Stufen breitgemacht hatten. Sie standen spontan auf und die anderen traten höflich beiseite, um mich ungehindert passieren zu lassen. Ich hatte mich bemüht, sie nicht länger anzustarren, als schicklich gewesen wäre. Beim Fortgehen horchte ich auf jedes ihrer Worte. Sie hatten aber weiter keine Notiz von mir genommen. Vielleicht waren es diesmal andere.
Jochen fragte mich natürlich, warum ich so spät komme, denn er hatte schon eine ganze Weile mit dem Abendessen auf mich gewartet. Ich freute mich, seine Neugier wahrheitsgemäß befriedigen zu können. Er hatte mir die beiden kalt geräucherten Fische hingelegt. Damit das Zeug endlich aus dem Kühlschrank raus kämen, wie er es geschmackvoll ausdrückte. Ich öffnete mühsam die widerspenstige Verpackung, näherte mich ihr vorsichtig mit der Gesichtsmitte und schnupperte behutsam daran. Die toten Tiere waren anscheinend noch essbar. Eines davon, das etwas kleinere, befreite ich mit ziemlichem Aufwand von dessen Pelle und Gräten. Das Fleisch war geschmacklich nicht schlecht, musste ich zugeben. Vielleicht eine Spur zu salzig. Auf alle Fälle waren beide salzig genug, sodass sie ohne weiteres noch längere Zeit unbeschadet überstanden hätten. Die inzwischen kalt gewordene Ochsenschwanzsuppe, die als Trockenstreusel in einem buntbedruckten Schächtelchen mittels Westpakets, als Geschenk des Himmels oder besser gesagt meiner Tante, auf uns gekommen war, kam für mein Gefühl im Geschmack dem Fisch sehr nahe. Nach dem Abendessen verspürte ich jedenfalls einen mächtigen Brand, den ich mit einem Glas Bowle zu bekämpfen versuchte, welches Jochen mir eingeschenkt und als Anreiz in der Küche neben dem dreckigen Geschirr bereitgestellt hatte. Sie tat mir sehr gut. Den Rest der Bowle nahm ich nach dem Abwaschen mit in die Stube, wo ich ihn in Reichweite auf dem Tisch deponierte. Er musste unbedingt ausgepichelt werden, denn niemand konnte wissen, wie lange das edle Gesöff so ganz ohne Salz überleben würde. Jetzt schmeckte es noch besser als Silvester. Ich verstand gar nicht, warum sich Jochen eine so unnötige Zurückhaltung auferlegte. Aber auch gut, dachte ich. Gegen dreiviertel acht kam Frank angeschlittert, der wohl Witterung davon bekommen hatte. Gerade noch rechtzeitig. Ein Glas später und alles wäre vorbei gewesen.
Um Viertel nach neun sagte ich zu Jochen, Frank war gerade pullern: „Ich gehe dann ins Bad und du ziehst inzwischen Frank aus.“
„Willst du noch hier bleiben?“, fragte er ganz entgeistert, wohl auch etwas besorgt. „Das mache ich nicht!“
„Gut, dann eben nicht“, sagte ich und erhob mich. Meiner guten Laune hatte Jochen nichts anhaben können. Als Frank ins Zimmer zurückkam, ging ich raus und zog mich an, schaute noch einmal hinein und wünschte Frank noch viel Spaß für den Abend. „Und dir wünsche ich genau das Gegenteil“, sagte ich zu Jochen.


Freitag, 30. Dezember 1988 - Mittwoch, 4. Januar 1989

zurück zur Kapitelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt