Tagebuch einer Schlange / 2. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 2. Eintrag

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Dienstag, 17. März 81

Heute ist mir an wenigen Büschen das erst Grün aufgefallen. Endlich ist es soweit, der Frühling kriecht aus seinem Bett, hat lang genug geschlafen. Seine Vorboten, kleine zerbrechliche Schneeglöckchen, schaukeln ihre hängenden Blüten im Wind hin und her, als wollten sie leise läutend den Menschen die frohe Botschaft mitteilen. Die Märzbecher tun ein Gleiches. Die Krokusse kleksen erste Farbtupfer in die Vorgärten. Auch die Haselnusssträucher posaunen es hinaus, das der Winter seine Siebensachen gepackt hat und sich kurz vor der Abreise befindet. Ihre langgezogenen Kätzchen leuchten in der noch kalten Sonne.
Gestern wurde in der Kongresshalle die Ausstellung eröffnet. Stand heute in der Ostsee-Zeitung. Von 1069 dazu eingereichten Arbeiten wurde 364 für die Ausstellung ausgewählt. Das ist ein Drittel. Von meinen sechs Bildern könnten demzufolge zwei dabei sein. Ich will das Beste hoffen.
Was ist das nur, woher kommt das? Seit Tagen wache ich morgens auf mit schrecklichen Bildern im Kopf. Erinnerungen an Horrorvisionen, die durch meine Träume geistern? Ich werde von riesigen Sauriern gejagt. Ich bekämpfe sie. Sehe zu, wie sie in gigantischen Erdlöchern verfaulen. Da hängen Massen von blutigem Fleisch Erschlagener in den Bäumen. Es sieht aus, als bestünden die Kronen der Bäume nicht aus Ästen und Zweigen, sondern nur aus Fleisch, von dem es unablässig tropft. Tropf, tropf, tropf … Es spielen sich ekelerregende Szenen ab, die sich grausamer kein Drehbuchautor ausdenken könnte. Was haben diese Träume zu bedeuten? Was spielt sich in meinem Unterbewusstsein ab?
Sonntag haben wir uns wieder gestritten. Das heißt, er hat sich lautstark zu ein paar Notizen geäußert, die ich in den Stadtplan von Budapest eingezeichnet hatte. Dabei fiel von seiner Seite erstmalig der Ausspruch, ich sei weltmännisch. An und für sich ist das nichts Negatives. Er versteht es immer wieder, mich selbst mit positiven Worten zu kränken. Auch wenn ich seine Gewitter scheinbar ruhig über mich abregnen lasse, so erschüttern sie mich doch bis ins Innerste. Auch sein unbegründetes Misstrauen macht mich krank. „Lass die Luft ab!“ Mehr habe ich nicht zu ihm gesagt.
Heute hat er angerufen, als ob nichts gewesen wäre. Es war ja auch nichts.
Ein anderer hätte ihn bei einer solchen Entladung rausgeschmissen. Ich habe es nicht getan. Das wird aber dereinst das Ende sein, befürchte ich.

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