Tagebuch einer Schlange / 7. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 7. Eintrag

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Montag, d. 26.07.82

Die Wirkung des Goldbrands gestern Abend hielt nur gute zwei und eine halbe Stunde vor. Bin kurz nach Null Uhr aufgewacht. Grübel, Grübel, Grübelei. Bis zum Weckerklingeln heute früh nicht wieder eingeschlafen. Über diese vielen Stunden musste ich mich grübelnd hinwegquälen. Ich hätte aufstehen sollen. Hätte irgendwas Verrücktes anstellen sollen, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber das hätte wahrscheinlich auch nicht geholfen. Habe die Nacht ausgehalten. Mich im Bett von einer Seite auf die andere geschmissen. Zwischendurch aufgestanden, um ein Schluck Wasser zu trinken.
Und dann habe ich auch noch den heutigen Tag ausgehalten. Gespräche, die mir von meiner Chefin oder meiner Kollegin aufgedrängt wurden, boten nur wenig Ablenkung. Meist bin ich ihnen ausgewichen. Hab nur immer still vor mich hin gebrütet. Der Brief an meine Eltern ist wohl auch nicht sonderlich geworden. Selbst beim Durchsehen der VD-Liste in der Betriebsbuchhandlung, in die ich geflüchtet war, fehlte es mir an Konzentration. Zwar habe ich die Titelliste der Neuerscheinungen durchgesehen, aber ohne sie wahrzunehmen. Meine Wortkargheit schob ich auf den ersten Arbeitstag. Hoffentlich wird es morgen besser. Die Unruhe, die alle meine inneren Organe durcheinander gewühlt hat, ist mit Worten gar nicht zu beschreiben. Wieder und wieder gehen mir dieselben Gedanken durch den Kopf. Ich kann sie nicht abschalten. Als sei ich verflucht.
Im Radio sprach heute ein Mann davon, dass er das Weinen verlernt habe, was er sehr bedauere, denn sehr viel Schmerz könne über die Tränen abfließen. Es wird wahrscheinlich so sein, dass vieles leichter ertragbar wäre, wenn man sich von Herzen ausheulen könnte. Jonas kann weinen. Nur weiß ich nicht, woher bei ihm die Tränen kommen.
Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Andreas will wiederkommen, sagte Jonas gestern beim Abschied. Tut er es nicht, wird alles wieder so, wie es war. Jonas wird mit der Zeit darüber hinwegkommen. Und ich auch. Aber irgendetwas sagt mir, dass Andreas wiederkommt. Dass die Sache noch nicht abgehakt ist. Beide werden bestimmt eine Abmachung getroffen haben. In solchen Fällen wie diesem, vermute ich immer, dass Jonas längst nicht mehr an mir festgehalten hätte, wenn er eine eigene Wohnung besäße. Er streitet das zwar ab, aber ich weiß es fast, dass es so ist. Ohne eigene Wohnung fehlt Jonas die Möglichkeit, seine Liebe (oder Geilheit) zu Andreas auszuleben. Ich bin dabei der störende Dritte, der dann das Zimmer verlässt, weil er nicht zusehen will. Denn das wäre die härteste Folter, die man einen Menschen aussetzen kann. Von einigen anderen Methoden mal abgesehen. Ich gehe dann ins Bad und trinke die Reste aus, die der Kühlschrank noch hergibt. Oder gehe auf die Straße. Umrunde die Blocks solange, bis ich denke, jetzt meine Wohnung verlassen vorzufinden.
Als wir gestern hier zu dritt zusammensaßen, hatte Jonas nur Augen für Andreas. Wie er ihn umwarb war unerträglich. Andreas sonnte sich in seinem Leuchten. Dem kann ich nicht mal einen Vorwurf daraus machen. Wenn denn Jonas nicht anders als mit Andreas glücklich werden kann, darf ich ihm dann im Wege stehen? Ich bin doch nicht etwa selbstsüchtig, oder? Und weil ich zu gerne selbst mit Andreas ins Bett steigen würde, kann ich das Jonas nicht verübeln. Was wäre, wenn Andreas seine Aufmerksamkeit teilen könnte? Ich werde es jedenfalls nicht aushalten können, sollte sich der gestrige Tag in Form und Größe wiederholen. Was Joans ihm gleich vorschwärmte von gemeinsamen Bootsfahrten und vom Zelten. Nicht mit anzuhören. Da sollen beide getrost allein fahren. Ich kann mich hier allein ebenso gut quälen wie in ihrem Beisein.
Ich muss es aber irgendwie hinkriegen, dass sich Andreas mir für eine Fotoserie zur Verfügung stellt. Die Bilder könnte ich dann graphisch aufarbeiten. Mit antikem Tatsch.
Es ist jetzt 23.00 Uhr.
Ich habe zum Abendbrot die Stärke meines Tees auf die Hälfte herabgesetzt. Habe Wäsche gewaschen. Und ein wenig gelesen. Eben die letzte Schlaftablette geschluckt. Vielleicht verbringe ich diese Nacht ruhiger als die vorhergehende.

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