kaputte Gedichte - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

kaputte Gedichte

Texte > kaputte Gedichte

Erinnerungen an einen Herbstwald

1

Im Nebel erwacht spät der neue Tag, schleicht dunkel in den Morgen. Glasklar tropfen Perlen von welken Blättern. Gräser und Sträucher sind behangen mit leuchtendem Geschmeide. Ein erster Sonnenstrahl bricht sich in nassen Diamanten, funkelt  in den Tag hinein. Über Borke, grün mit Moos bestickt und von Wasser triefend, kriecht ein roter Käfer seinem Tagewerk entgegen. Herbstlich still und friedlich erwacht der bunte Wald. Lieblich klingt es im Geäst, Vögel stimmen erste Lieder  an. Ein Eichhörnchen springt von Ast zu Ast, Tau tropft dir in den Kragen. Leichter Wind fegt letzten Nebel fort, Sonne trocknet goldene Blätter ab. Wenn feuchter Glanz verflogen ist, raschelt überall das Laub. Hoch oben in den Zweigen spielt  der Wind die Blätter ab, stößt sie von ihrem Platz. Sie tanzen auf und nieder und schweben auf gedrechselten Spiralen der Tiefe zu. Hier stricken sie der Erde ein luftiges Kleid, legen sich wie Brokat um Baum und Strauch, Mosaik aus hundert gleichen  Farben. Überall siehst du weiße, rote und schwarze Beeren matt in der Sonne glänzen, zieren jeden Strauch, versprechen vielen Überleben. Die Sonne durchscheint ein gelbes Blatt, hebt dunkel sein Gerippe ab, fein und scharf gestochen, ein Meisterwerk  aus Filigran. Ein Windstoß wirft es fort und hebt es wieder auf, trägt es hoch zu grauen Wolken, die sich vor die Sonne schieben. Kein Eichhörnchen ist mehr zu sehen, auch die kleinen Sänger sind verstummt. Schwere Tropfen beflecken den Brokat,  weichen ihn auf und machen ihn häßlich schön. Regen kommt unermeßlich über das Land, füllt Bach und jede Senke. Sturm bricht totes Holz vom Baum und verfilzt die stolze Krone, schafft Platz und Nahrung für das Neue. Groß und mächtig  ist der Wald, eine lebende Burg mit Wällen, Zinnen und Verliesen. In ihren Mauern wird im Frühling geboren, im Herbst gestorben. Leise senkt die Nacht ihr Haupt und bedeckt mit dunklen Schwingen jeden Baum und jeden Strauch, sie warten auf den Winter.

2

Siehst du dahinten an der Ecke das Gebilde aus Stahl, rostzerfressen und zum Jammern? Ja, daß ist ein Baum. Gewiß, ein toter! Wo einst Millionen davon standen, aber lebend, grün und duftend, das nannten die Alten Wald, aber den gibt es schon  lange nicht mehr! Auch diesen Hebst, von dem ich erzählte, gibt es heute nicht mehr, denn alle Tage sind grau. Nur im Kalender steht er noch. Du kannst den Herbst von damals nicht kennen, du bist zu jung. Damals…

Rostock, Nov. 1976
(19. April 2011)



08 - 10


Zurück zum Seiteninhalt