kaputte Gedichte - Abstrakte Irrwege

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Der Idiot


Er kommt oft hierher, man kennt ihn hier und jeder hat ihn gern. Er gehört einfach hierher, er ist Baum unter Bäumen, Stein unter Steinen, sein Leben steht unter einem goldenen Stern. Er ist gewöhnlich in seinem Erscheinen und bescheiden in seinen  Träumen, lebt glücklich in den Tag hinein und schlägt Purzelbaum im grünen Rasen, hüpft und springt vergnügt und spielt Haschen mit seinem Hund. Was kümmern ihn die Leute, mit all ihren schrecklich wichtigen Phrasen, sein Kopf ist  frei davon, doch sein Herz ist voll von Lachen zu jeder Stunde. Zu wandeln unter hohen Bäumen bereitet ihm süßen Spaß. Zwischen gläsernen Murmeln und weißen Muscheln hat er heute Nüsse in den Taschen. Drum sucht er das flinke Eichhörnchen,  das vor Tagen noch in eben diesen Wipfeln saß. Er flüstert es in jeden Strauch und ruft es hoch zu jedem Blätterdach: Ich hab was zum Naschen, ich hab was zum Naschen. Er flüstert es hierhin und dorthin und zu ihm raunt der plätschernde  Bach: Sei nicht traurig, komm und spiele mit mir. Du könntest Steinchen werfen, ich würde dann Ringe zaubern, du könntest Blätterschiffchen schwimmen lassen, ich würde sie tragen, weit fort von dir. Komm, ich sing dir was, plätschert  der Bach, wer wird denn zaudern? Still hockt er sich an seinen Rand, ein großes Blatt in seinen Händen, sieht zu, voller Wonne, wie es schwimmt vom Schatten in die Sonne. Was ist das? Lautes Schimpfen, Federfliegen drüben bei den Fichten! Er  macht sich auf mit ernstem Gesicht, er muß den Streit der Spatzen schlichten. Friede ist zurückgekehrt und, erfreut über seine Heldentat, lacht er der Sonne ins Gesicht. In seinen Augen funkelt stetes Glück. Er pflückt Pusteblumen auf seinem  Weg und verstreut die grüne Saat. So verdient er sich von früh bis spät vom Kuchen des Lebens das größte Stück. Für die Leute, die sonntagschick vorübergehen und ihn sanft belächeln, hat er stets ein nettes Wort und zeigt voller  Stolz die neue Spielzeuguhr. Leute, die sonst nur ihre Arbeit kennen und einem wagen Glück nachhecheln, voller Kummer und Sorgen, wünschen ihm sehnsuchtsvoll das Beste nur.

Rostock, Dez. 1976
(19. April 2011)



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