Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Spatzgeschichten

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Die schwarze Mühle


In der letzten Pause vor Schulschluss trafen sich Siggi, Reini und Fred, der Flachskopf unter ihnen, auf dem Schulhof hinter dem alten Klohaus, um sich für den Nachmittag zu verabreden. Für das Mittagessen zu Hause rechneten sie mit einer halben Stunde, ebenso für die Hausaufgaben, so dass sie um halb drei an der Mühle aufeinander warten könnten. Alle waren einverstanden und somit war die Sache abgemacht.
Ursprünglich besaß der Ort drei Windmühlen, die alle außerhalb der Stadtmauer standen. Zwei waren Bockwindmühlen, wovon eine auf der Anhöhe hinter der Beeke auf Neels Koppel stand und weit über den Großen See schaute, die  andere irgendwo bei der Molkerei. Beide wurden schon vor sehr langer Zeit aufgegeben. Nur an die erste Mühle erinnerte noch ein verlassener Mahlstein, der an dem grasüberwucherten Rund des Fundamentes lehnte. Ein paar mickrige Weißdornsträucher leisteten ihm Gesellschaft. Im Gegensatz zu vielen Häusern des kleinen Städtchens hatte die dritte Mühle den letzten großen Krieg, dessen Ende nun schon achtzehn Jahre zurücklag, unbeschadet überstanden. Sie ragte als Turmholländer auf einer Anhöhe vor dem Berliner Tor in den Himmel. Von der Straße, auf der man nach Feldberg gelangte, führte ein einfacher Feldweg zu ihr hinauf. Ihr Rumpf war im unteren Bereich aus Bruch- und im oberen aus Ziegelsteinen gemauert. Außen hatte sie der Mode entsprechend einen schwarzen Anstrich. Ihre Haube war noch intakt und das gewaltige Flügelkreuz hätte nur weniger Reparaturen bedurft, um als vollständig wieder hergestellt gelten zu können. Die Flügelstellung deutete aber auf eine längere Arbeitspause hin und es war nicht gewiss, ob sich daran je etwas ändern würde. Zur Mühle gehörte ein rotes Backsteingebäude, in dem einst Säcke voller Getreide und Mehl lagerten. Wegen der vergitterten Fenster glich es aber eher einem Gefängnis. Hier war der Treffpunkt der drei Jungen.
Als Fred endlich eintraf, waren Reini und Siggi längst dort. Und das nicht nur, weil sie dichter wohnten, sondern weil sie sich auch an die vereinbarte Zeit gehalten hatten.
„Bist du auch schon da? Wir wünschen wohl geruht zu haben." Reini konnte manchmal so gemein sein.
Fred bat die beiden Freunde für seine Verspätung um Entschuldigung. Er habe für die Hausaufgaben mehr Zeit als erhofft benötigt. Kaum habe er die Schulhefte im Ranzen verstaut und das Elternhaus verlassen, habe dann sein Vater auf einen leeren Korb gezeigt. Da Ausreden nicht fruchteten, habe er sich den Korb geschnappt und sei damit durch den Garten zum See hinunter gerannt, um Kaninchenfutter zu pflücken.  „Ich hab mich beeilt, das könnt ihr mir glauben. Das Dumme ist nur, dass ich immer nichts finde." Das er von seinem Vater anschließend zur Belohnung zwanzig Pfennige für ein Eis bekommen hatte, erzählte Fred vorsichtshalber nicht. Freudestrahlend war er davongestürmt. In der Berliner Straße kam er dann an Gutsches Eisbude vorbei, der ihm für das Geld zwei Kugeln Vanilleeis auf die Waffeltüte drückte. Das war genau das Richtige bei dieser drückenden Hitze. An seinem Eis schleckend  trabte er zum Berliner Tor hoch. Leider kam er nur langsam und schrittweise voran, denn er musste immer wieder stehen bleiben, um das im Sonnenschein dahinschmelzende Eis ringsherum abzulecken. Als Fred endlich in den Feldweg einbog und neben Schaals Koppel zur Mühle hochlief, klebten seine Finger und unzählige Schweißtröpfchen zierten die Stirn.
„Du kommst uns immer wieder mit der alten Leier", winkte Reini gelangweilt ab. Er und Siggi saßen im schattigen Gras, den Rücken an die schwarze Mühlenwand gelehnt. Neben jedem saß der zwei Jahre jüngere Bruder. Das war auf Reinis  Seite Manni und auf Siggis Kalle. Manni war sofort aufgestanden und hatte ihn bei der Hand genommen, als Fred zu ihnen kam. Obwohl eigentlich Reini Freds bester Freund war, hatte sich immer besonders Manni gefreut, wenn er sie besuchte.
Da es unter den Jungs nicht üblich war, sich mit solchen Belanglosigkeiten wie etwa „Guten Tag" aufzuhalten, antwortete Fred etwas gereizt: „Passt bloß  auf, dass ihr euch nicht die Klamotten einsaut." Er deutete auf die Mühle, die ihre schwarze Farbe einem dicken Teeranstrich verdankte, der in der Hitze an einigen Stellen verdächtig glänzte. Während die drei Jungs hastig und mit den Gedanken bei ihrer Mutter aufsprangen, drehte er Manni um und besah sich dessen Kehrseite. Es schien alles in Ordnung zu sein, trotzdem strich er ihm mit der flachen Hand über den Rücken und tätschelte seine Pobacken, wo an der Hose noch einige trockene  Grashalme hingen.
„So, und was machen wir jetzt?" fragte Siggi.
Alle sahen sich an und zuckten wie verabredet mit den Schultern. Bisher brauchten sie keinen Wortführer, irgendwie wurden sie sich immer einig. Fred war zwar der Älteste, er war eine Klasse weiter als Reini und Siggi, Reini war aber mit Abstand der Schlaueste von ihnen. Wegen der Hitze war es nur logisch, dass es sie in die Kühle der Mühle zog. Siggi stemmte sich mit der Schulter gegen die Vordertür, die beim Öffnen geräuschvoll über den Fußboden schurrte. Niemand von den  Erwachsenen hatte die Mühe auf sich genommen, den Eingang zu vernageln, um ein Eindringen zu erschweren. Deswegen waren sie nicht das erste Mal hier. Der ebenerdige Mehlboden starrte nicht nur vor Schmutz und Unrat, es roch auch abscheulich nach alter  Pisse, woran sie nicht ganz unschuldig waren. Und so mancher mumifizierte oder mit Schimmelhaaren überzogene Kringel, von denen etliche an der runden Innenwand lagen, war vor ihnen noch nicht dagewesen. Bei jedem Schritt in dieses Durcheinander von zersplittertem Holz, abgerissenen Fallrohren, alten Pappkartons, verrosteten Büchsen und vergilbten Zeitungen wirbelte grauer Staub auf, der jedem in der Nase kribbelte. Eine Holztreppe, von der das Geländer fehlte, führte zum Steinboden hinauf. Trotzdem stiegen die Ersten ohne übertriebene Vorsicht auf die Stufen. Bei jedem Schritt rieselte gelbes Pulver aus unzähligen winzigen Löchern in der Unterseite. Siggi und dessen kleiner Bruder hatten gerade den Steinboden erreicht, als plötzlich hinter Fred, der sich mit Manni auf halber Höhe befand, die Treppe dumpf aufstöhnte. Erschrocken drehten sich alle Jungs nach Reini um, denn er war der Letzte. Ganz verdattert stand er inmitten der Trümmer einer zerbrochenen Stufe. Um die Nase  herum fehlte seinem Gesicht jede Farbe. Dafür umwirbelte ihn eine gewaltige gelbliche Staubwolke. Siggi und Kalle begannen bei seinem Anblick als Erste lauthals zu lachen, denn es war ja nichts Schlimmes passiert. Fred und Manni, der noch immer an seiner Seite war, stimmten mit ein. Einzig dem Pechvogel war ganz und gar nicht zum Lachen. Er drehte sich vorsichtig um und stieg die wenigen Stufen, die er mühsam geschafft hatte, noch behutsamer wieder hinunter. Dann herrschte er Manni an: „Und du kommst sofort runter! Das ist viel zu gefährlich." An die anderen gewandt meinte er abschließend: „Mich kriegen da keine zehn Pferde mehr hoch."
„Komm schon, es ist doch nichts dabei." Siggi wollte ihm gut zureden, es half aber nicht.
Reini und Manni, der weniger vorsichtig war als sein großer Bruder, verließen schmollend die Mühle.
Der von schweren Balken getragene Fußboden der ersten und zweiten Etage sowie der oberen Haube schien noch intakt zu sein. Neben der Öffnung für die Treppe befanden  sich noch weitere in den Böden, auf die die Jungs zu achten hatten. Hier, wie auch im darüber liegenden Beschüttboden, standen verschiedene, noch intakte Maschinen, teils aus Holz und teils aus Metall, die durch Holzröhren oder Gewebeschläuche  mit den anderen Böden verbunden waren und deren Bestimmung ihnen verschlossen blieb. Es war aufregend, hier herumzuschnüffeln und von oben aus den Fenstern zu schauen. Fred wünschte sich, mit Siggi allein zu sein. Kalle wich ihnen aber nicht  von der Seite. Deshalb fragte er Siggi: „Kommst du mit nach ganz oben?"
Siggi ahnte, was Fred im Schilde führte. Er war nicht abgeneigt, ihm zu folgen, es wäre nicht das erste Mal gewesen, aber die soeben zerbrochene Stufe und die Vorstellung, womöglich von ganz oben durch sämtliche Böden zu krachen, behagte ihm nicht. Außerdem hatte er Kalle dabei, der sich nicht so leicht abwimmel lassen würde.
„Na dann eben nicht!" sagte Fred enttäuscht und stieg allein die nächsten Treppen zum Beschüttboden und von dort zur Haube empor, ohne dass auch nur eine einzige Stufe zu Bruch gegangen wäre. Oben angelangt sah er sich zunächst um.  Der Boden, das Balken- und Räderwerk, alles war genauso mit einer dicken Staubschicht bedeckt wie unten. Überall lag getrockneter Vogelkot. Er trat ein paar Schritte von der Treppe weg, um nicht von unten gesehen zu werden, und sah kurz zu der Luke  hinaus, Reini und Manni waren nirgends zu erblicken, um dann ein paar Schritte zur Königswelle zu gehen. Gerade als er sich endlich an die Hose griff, um sie zu öffnen, flatterte direkt vor ihm ein Vogel auf, den er gar nicht bemerkt hatte. Vor Schreck sprang Fred zurück, wobei er mit dem Hinterkopf ganz unglücklich einen kräftigen Balken traf. Ein entsetzlicher Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle und erfüllte die ganze Mühle. Er sank vornüber auf die Knie und rieb sich den hinteren Schädel. Mit Tränen in den Augen, die spontan heraufgeschossen waren, sah er sich nach dem Vogel um, der die unselige Ursache dafür war. Er fand ihn schließlich vor der offenen Luke sitzen. Es war nur ein kleiner Spatz, der ihn so in Panik versetzt hatte, und zwar kein unbekannter. Interessiert wendete der kleine Vogel den Kopf hin und her und ließ Fred nicht aus den Augen.
„Das gibt’s doch nicht!" stöhnte Fred. „Dich kenne ich doch, du bist der mit den bunten Strümpfen." Und tatsächlich: der Spatz hatte ein grünes und ein blaues Bein.
„Was ist passiert?" fragte Siggi, dessen Kopf keuchend an der Treppe erschien.
„Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu kommen, mir ist die Lust vergangen." Fred saß noch immer am Boden und rieb sich über die schmerzende Stelle. „Siehst du das?" fragte er und deutete mit dem Kopf auf besagte Luke, in der der Spatz  saß.
„Wo, was?" fragte Siggi. „Ich sehe nichts."
Fred schaute zur Luke, aber der Spatz war inzwischen fortgeflogen. „Ach nichts", stöhnte er, „du würdest mir nicht glauben, wenn ich es erzähle." Langsam rappelte er sich auf und schlurfte zur Treppe, die sie gemeinsam hinuntergingen.
Kalle schaute ihnen gespannt entgegen. „Und was war?" fragte er.
„Nichts weiter. Ich habe mir nur fürchterlich den Kopf gestoßen", erklärte Fred.
„Ach so, das macht aber nichts", meinte Kalle und tippte mit dem Zeigefinger auf die Narbe an seiner Stirn. Sie hatte die geschwungene Form einer Mondsichel, verursacht durch eine emaillierte Schöpfkelle, die ihn Fred vor Jahren über den  halben Sportplatz hinweg an den Kopf geworfen hatte. Ohne jede Absicht, es war ein Unfall.
Natürlich verstand Fred die Anspielung sofort und fragte: "Quitt?"
„Mal sehen", antwortete Kalle, der sich noch sehr gut an sein blutüberströmtes Gesicht erinnern konnte. „Wenn davon keine Narbe zurückbleibt, ist die Sache noch nicht ausgestanden." Er grinste verschmitzt.
„Lass mal sehen", forderte Siggi und besah sich die Beule. Auch er grinste hintergründig, denn er fragte sich, wie um Himmels willen sich Fred bei dem, was er vorhatte, den Kopf einrennen konnte. „Halb so wild", stellte er zur Beruhigung aller fest und meinte noch, „es sieht schlimmer aus, als es ist."
Die drei Jungs schlichen die letzte Treppe hinunter und gingen ins Freie zu Reini und Manni, die schon ungeduldig warteten.
„Ich habe euch ja gleich gesagt, dass es zu gefährlich ist, da hoch zu gehen", sagte Reini, der Klugscheißer.
Manni trat wieder an Fred heran, fasste ihn am Arm und fragte: „Was war denn? Das hat sich ja fürchterlich angehört."
„Ich habe den Geist des letzten Müllers gesehen", antwortete Fred.
Die Jungen starrten ihn an und rissen automatisch den Mund auf, denn sie waren sich nicht sicher, was sie davon halten sollten. Fred hatte sie schon des Öfteren mit seiner lebhaften Phantasie überrascht.
„War das vor oder nachdem du dir den Kopf gestoßen hast?" fragte Siggi.
Da Fred schon wieder lachen konnte, kamen alle zu dem Schluss, dass er sie erneut verarscht hatte, was sie ihm aber nicht übel nahmen. Und so hatte der schöne Nachmittag auch noch lange kein Ende.
„Los", schlug Reini vor, „lasst uns endlich zu den Kirschen gehen!"
Der große Süßkirschenbaum, der an der nördlichen Wand des roten Backsteingebäudes stand, war insgeheim ihr eigentliches Ziel gewesen. Auf ihn erhob niemand Anspruch, so glaubten sie jedenfalls, wenn sie von den gefräßigen Staren und den anderen Kindern einmal absahen. Deswegen war es nötig, sich ranzuhalten, wollten sie nicht zu spät kommen. Dem Gekreische und Gezanke nach zu urteilen, waren die gefiederten Biester längst dort. Der Baum hatte in den vielen Jahren, die er  hier schon zugebracht hatte, gewaltige Ausmaße angenommen, so dass nur die Vögel leichtes Spiel mit ihm hatten. Sein Stamm drängte an die Seitenwand des Gebäudes und die ausladende Krone überragte und beschattete das halbe Pappdach. Keiner von den Jungs vermochte an ihm hinaufzuklettern. Da fliegen nicht in Frage kam, mussten sie aufs Dach steigen, aber darin hatten sie bereits Übung. An der Wand eines kleineren Anbaus lehnte ein alter Mahlstein, auf den jeder zuerst klettern musste,  dann auf das Dach des Anbaus und zuletzt von dort aufs große Dach. Dieser Weg war für sie kein Problem. Den Kleinen wurde eben von hinten etwas nachgeholfen. Dann klatschten sie ein paarmal in die Hände, um die Stare aufzuscheuchen, und traten  zwischen die Äste und Zweige. Jetzt hingen ihnen die prallen Kirschen direkt in den Mund. Es war wie im Schlaraffenland. Obwohl schon viele Kirschsteine auf dem Dach verstreut lagen und etliche Kirschen am Baum, zumeist die dunkelsten, angepickt waren, kamen die Fünf doch voll auf ihre Kosten. Die aufgeflogenen Stare schimpften derweil von der anderen Seite her, was das Zeug hielt. Sonderbarerweise hatte nicht einmal Reini dahingehende Bedenken geäußert, das sie auf dem flachen Dach eventuell einbrechen könnten. Die Kirschen waren eben zu verlockend. Einzig und allein die schwarzglänzenden Rotznasen, die die Hitze auf der dick geteerten Dachpappe fabriziert hatte, machten ihm Sorgen. Peinlich genau achtete er darauf, nicht mit seinen Sandaletten hineinzutreten. Auch seinen Bruder ermahnte er ständig. Natürlich blieb es nicht aus, dass der eine oder der andere im Eifer des Gefechtes darin kleben blieb.
Nach einer viertel Stunde war der erste Stoßseufzer zu hören: „Ich kann nicht mehr!"
Siggi verließ als Erster das Dach, gefolgt von Kalle, dann Reini und Manni, zum Schluss Fred. Sie suchten sich ein schattiges Plätzchen, um auszuruhen. Sie waren fix und fertig. Nicht nur, dass ihr Bauch kurz vor dem Platzen war, auch die Sonne  hatte ihnen auf dem Dach gehörig zugesetzt. Bei dem einen klebte das Hemd, beim anderen der Nicki am Rücken. Da sie alle eine kurze Hose anhatten, zeigte sich jetzt auf den jungen Schenkeln und Knien, trotz aller Vorsicht, doch so mancher schwarze  Striemen, der vom Teer herrühren mochte, und klebriges Harz, das der Baum abgesondert hatte. Im Stillen legte sich jeder eine passende Erklärung für zu Hause zurecht.
„Habt ihr schon das von Hotti gehört?" fragte Fred in die Runde.
Natürlich hatten sie, zumindest die Großen.
„Ich glaube das aber nicht", meinte Reini.
„Aber ich kann mir das ganz gut vorstellen", sagte Fred. „Ich war auch schon mal da drin." Da Reini und Siggi ihn mit unverhohlenem Ekel anschauten, schränkte Fred die Sache etwas ein: „Allerdings nur mit dem Finger." Er hielt  den Zeigefinger seiner rechten Hand in die Höhe.
Die beiden Kleinen, die hellhörig geworden waren, wollten wissen, wovon die Rede war. Ihnen wurde erklärt, dass jemand aus den oberen Klassen gesagt hatte, dass Hotti ein Hühnerficker sei, was von den Kleinen mit großer Belustigung aufgenommen  wurde.
„Geht das denn überhaupt?" wollte Kalle wissen.
„Na, warum denn nicht", meldete sich Fred. „Ich weiß zwar nicht, wie dick sein Schwanz ist, aber die Hühner haben ein ziemlich großes Arschloch, da müssen schließlich die Eier durch." Er erinnerte sich daran, dass er einmal zusammen mit seiner Mutter die Hühner nach ungelegten Eiern abgetastet hatte. Danach wurde er tagelang das Gefühl nicht los, sein Finger stinke immer noch nach Hühnerkacke. „Das Schwierige an der Sache ist nur, du musst die Viecher erstmal  kriegen. Und Hotti ist nicht einer von den Flinken und kucken kann er auch nicht richtig."
Sie mussten sich vor Lachen die Bäuche halten. Die Vorstellung, wie Hotti den Hühnern hinterherhumpelte und dabei selbst vom aufgebrachten Hahn verfolgt wurde, war zu lustig.
„Wenn du ein Huhn wärest, würdest du dann freiwillig stillhalten?" fragte Fred Kalle, der sich besonders köstlich amüsierte.
„Weiß nicht. Vielleicht. Ja!" Kalle sah ihn herausfordernd an.
Fred, der mit dieser kecken Antwort nicht gerechnet hatte, fühlte die Röte ins Gesicht steigen. Schnell hielt er sich beide Hände davor, ehe die Jungs es bemerken konnten. Dann sagte er: „Das glaubst du doch selber nicht! Das traust du  dich niemals."
Die anderen horchten interessiert zu, wie die Geschichte wohl ausging.
Kalle sprang auf und sagte: „Komm mit, ich beweise es dir."
Alle Augen waren jetzt auf Fred gerichtet, der aber wusste nicht, wie weiter. Wieder stieg ihm die verräterische Hitze ins Gesicht. Kalle war inzwischen um die Mühle verschwunden. Alle kicherten, bis auf Fred. Sie erhoben sich und folgten Kalle.  An der hinteren Tür wuchsen Holunderbüsche. Sie fanden Kalle darin stehend und gerade dabei, sich die Hose runter zu ziehen. Einladend wackelte er mit seinem weißen Hintern. Bei dem Anblick wurde es Fred ganz mulmig. Was hatte er sich nur dabei  gedacht? Die heftige Erregung in seiner Hose sprach dafür, der Einladung nachzukommen, aber hier vor den Jungs traute er sich nicht. So überredete er Manni, es zu tun. Manni sah hilfesuchend zu seinem Bruder, der zuckte aber nur mit den Schultern.  Zögernd, wohl hoffend, dass Reini ihn noch zurückhalten würde, trat Manni auf Kalles Hintern zu. Schließlich ließ auch er die Hose fallen und machte sich an Kalles Po zu schaffen. Nachdem er die anfängliche Scham überwunden hatte,  bemühte er sich redlich, um endlich wütend auszurufen: „Es geht nicht!"
„Es muss aber!" spornte ihn Siggi an.
Manni versuchte es erneut, machte aber dabei ein recht verzweifeltes Gesicht. Keiner der Jungs konnte ihm helfen, denn niemand von ihnen wusste, dass er mit ganz einfachen Mitteln effektiver vorankommen würde. Fred mochte sich dem Treiben, das in eine  Gaudi ausgeartet war, nicht länger hingeben, er musste sich augenblicklich mit etwas anderem ablenken. Mit beiden Händen in den Hosentaschen wendete er sich von dem Schauspiel ab, denn er hatte schon eine Idee. Langsam schlenderte er in östliche  Richtung den Abhang hinunter, wo sich in circa fünfzig Meter ein mit Kopfweiden umstandenes Soll befand. Hier zeigte sich das Wasser allerdings nicht, denn seine Oberfläche bedeckte eine geschlossene Decke aus grüner Entengrütze, die nur hier  und da von einer dünnen Linie geteilt wurde, wo vielleicht eine Wildente entlang geschwommen war. Meist hielten sich die Jungs von diesen Löchern fern, denn sie glaubten an deren bodenlose Tiefe und die bösen Mächte, die darin ihr Unwesen trieben. Aber die Kopfweiden, die hier dicht am Rande wuchsen und dieses Jahr nicht geschnitten waren, lockten zu verführerisch. Fred hatte keine Mühe, eine davon zu erklettern. Auf dem knorrigen Kopf des Baumes stehend, wählte er einen schlank aufstrebenden Ast aus und kletterte an ihm in die Höhe. Höher und immer höher hangelte er sich empor, bis sich der Ast endlich unter Freds Gewicht zur Seite neigte. Nur ein kleines Stück weiter hinauf und schon schwang der Ast mit ihm im Gepäck  sachte in Richtung Erdboden. Das machte unheimlichen Spaß. Jeder Junge wusste natürlich, dass er den richtigen Ast aussuchen musste. War dieser zu dick, dann passierte gar nichts, war er zu dünn, konnte man nicht an ihm hinaufsteigen. So oft  sie dieses Spiel schon probiert hatten, noch nie war ein Ast gebrochen. Einmal war einer angeknackst, aber nur ein wenig. Sobald sich der Junge in waagerechter Position befand, drehte er sich um, so dass er mit den Füßen voran von den Zweigen gleiten  konnte, wenn sich der Ast weit genug dem Boden genähert hatte. Der Ast schwang anschließend mehr oder weniger langsam nach oben. Für die nächste Abfahrt musste er einen anderen wählen, es standen genug zur Verfügung.
Fred war gerade von seinem zweiten Ast gerutscht, als der Rest der Bande grölend angelaufen kam, um es ihm gleichzutun. Da die beiden Kleinen für dieses Spiel noch zu leicht waren, blieben sie auf der Wiese sitzen und begannen aus Butterblumen Kränze  zu basteln. Die überall gelb aufleuchtenden Blüten erforderten ihre ganze Aufmerksamkeit, währenddessen die Großen auf die Bäume stiegen. Siggi hangelte sich auf die Weide, auf der schon Fred stand, sah sich nach einem passenden Ast um,  den er prompt erkletterte. Fred ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Erst als Siggi auf dem Ast sanft zu Boden schwebte, kletterte auch er in die Krone. Auch beim nächsten und übernächsten Mal achtete Fred darauf, dass sie beide dieselbe Weide  benutzten und Siggi stets als Erster hinaufstieg, denn er hatte beobachtet, dass er ihm von unten in die Hose kucken konnte, und zwar immer dann, wenn Siggi ein Bein anhob, um in eine höhere Astgabel zu treten. Da er unter seiner kurzen Hose eine Turnhose trug, eröffnete sich immer wieder ein interessanter Blick, wenn der Wind in den Weiden mit Siggis Sack spielte. Tat er einen besonders großen Schritt nach oben, passierte es, dass sogar das vollständige Geschirr im Tageslicht erschien. Fred war  sich sicher, dass Siggi diese Enthüllungen bemerkt haben musste, falls nicht, würde er ihn auf keinen Fall darauf hinweisen. Reini hinterher zu steigen, machte keinen Sinn, denn der trug stets richtige Schlüpfer mit Gummizug.
Offensichtlich bereitete den beiden Kleinen das Kranzflechten kein allzugroßes Vergnügen, denn Kalle warf sein unvollendetes Werk in hohem Bogen ins Gras. Seine Hände waren übersät mit braunen Flecken der getrockneten Butterblumenmilch.  Er stand auf und lief zum Wasser, um sie sich zu waschen. Der Rand des Solls war fast überall mit Kalmus und Rohrkolben zugewachsen, deshalb dauerte es eine Weile, bis er eine geeignete Stelle fand, an der er freien Zugang hatte. Vorsichtig tastete  er sich auf der Uferböschung voran, bis er nahe genug am Wasser war, ging in die Hocke und zerteilte mit den Händen behutsam die grüne Schicht aus Wasserlinsen, um keinen Schlamm aufzuwühlen. Gerade als er die Hände wieder ins Wasser tauchen  wollte, um sie zu waschen, fiel sein Blick auf den menschlichen Arm, der im Halbdunkel unter der Wasseroberfläche zu zittern schien. Er ragte aus der braunen Tiefe heraus, war leicht angewinkelt und obwohl sie mit flockigem Schlamm bedeckt waren, wirkten die gespreizten Finger nur all zu lebendig und jederzeit bereit, denjenigen in die grausige Tiefe zu ziehen, der in ihre Nähe geriet. Wie gelähmt starrte Kalle ins Wasser. Nur ganz langsam drang die Erkenntnis zu ihm durch, dass hier ein Ungeheuer  auf ihn lauerte. Oder ein Mensch. Vielleicht sogar ein Toter! Der verstörte Junge sprang auf und stürzte davon, einen weit hörbaren, gellenden Schrei hinter sich herziehend. Die Anderen sahen erschreckt von ihrem Spiel auf und schauten ihm mit  fragenden Blicken nach.
Siggi hopste als Erster vom Baum und brüllte ihm nach: „Was ist los?"
Erst auf dem Feldweg, der von der Mühle hinunter zur Straße führte, holten die Großen Kalle ein. Manni kam kurze Zeit später angekeucht.
„Was ist denn los?" wiederholte Siggi seine Frage. „Du haust einfach ab und schreist die ganze Gegend zusammen." Er schüttelte seinen kleinen Bruder, bis der wieder zu sich kam. Kalle japste nach Luft und schlotterte am ganzen Körper. „Beruhige dich!" drang Siggi auf ihn ein. „Was ist denn passiert?" Der Angeredete brachte keinen Ton heraus, starrte nur mit aufgerissenen Augen seinen großen Bruder an. „Uns kannst du es doch ruhig sagen." Siggi verlor langsam die Geduld. „Mach endlich den Mund auf, verdammt!" schrie er ihn an.
„Nun bleib du mal ganz ruhig, du siehst doch, dass er fix und fertig ist", sagte Reini zu Siggi. Er tat immer so furchtbar erwachsen.
Es dauerte aber noch geraume Zeit, bis Kalle endlich reden konnte und den Jungs erzählte, was er gesehen hatte. Alle schauten ihn ungläubig an und wussten nicht, was sie von der haarsträubenden Geschichte halten sollten. Unschlüssig traten  sie von einem Bein aufs andere.
„Und was machen wir jetzt?" fragte Siggi.
„Wir müssen nachsehen gehen", sagte Reini.
„Müssen wir?" Fred war die Sache nicht geheuer. „Was, wenn das wirklich stimmt, was Kalle gesagt hat?"
„Ich spinne doch nicht!" protestierte Kalle.
Nach kurzem Zögern machten sich die Großen auf den Weg zurück. Kalle setzte sich an den Wegrand, er hatte genug gesehen und kein Bedürfnis nach einer zweiten Begegnung mit dem, was es auch immer war.
„Du passt auf Kalle auf!" befahl ihm sein Bruder, nachdem sich Manni zu Fred gesellt hatte.
„Ich will aber mit", bettelte Manni und sah Fred an, als könne der über ihn entscheiden. „Nein!" war Reinis letztes Wort. Mit gesenktem Blick trottete Manni zurück. Fred überlegte kurz, ob er nicht auch lieber bleiben sollte.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend schlichen die drei Großen um den Teich zu der Stelle, wo Kalle gehockt hatte. Im Bewusstsein ihrer Überlegenheit näherten sie sich dem Wasser und stellten erleichtert fest, dass rein gar nichts  zu sehen war, dass Kalle nur geträumt haben musste. Jeder atmete hörbar die angehaltene Luft aus und fühlte sich bedeutend besser als zuvor. Als es ihnen aber dämmerte, dass sie nur deshalb nichts sahen, weil die Entengrütze inzwischen  wieder ein dichtes Geflecht auf dem Wasser gebildet hatte, traten sie unwillkürlich einen Schritt zurück. Jetzt brauchten sie einen Freiwilligen, der sich vorwagen würde, um das grüne Zeug erneut auseinander zu schieben. Unter ihnen fand sich  so schnell niemand, der mit erhobenem Zeigefinger vortrat. Auch das angrenzende Feld war menschenleer.
„Ich mach’s", sagte Siggi endlich. Er war es seinem kleinen Bruder schuldig, den beiden anderen fiel ein Stein vom Herzen. Mit zittrigen Händen schob er den grünen Teppich beiseite und schreckte ebenso wie sein Bruder zurück, sobald  er den Arm als solches erkannte. Nur mit Mühe hielt er den Aufschrei zurück, der sich bereits seinen Weg durch die Kehle bahnte. Hastig zog er seine Hände aus dem Wasser, woraufhin die Entengrütze in ihre Ausgangsposition schwamm, ohne dass weder Fred noch Reini einen Blick darauf werfen konnte. Ihnen reichte Siggis Reaktion als Beweis für die Richtigkeit der kalleschen Schilderung. Niemand verspürte den Wunsch, nach weiteren Beweisen zu stochern, etwa mit einem Stock. Sie machten  sich vielmehr sofort davon, zwar nicht in Kalles Tempo, so doch mit strammen Schritten. Dabei kamen sie überein, einstweilen mit niemandem darüber zu sprechen und vielleicht in ein paar Tagen, wenn sich ihre Gemüter beruhigt hätten, eine erneute Untersuchung zu wagen. Dann könnten sie noch immer einem Lehrer oder dem ABV Nikisch den Fund melden. Gesagt, getan.
Nach wenigen Tagen und nachdem der eine oder andere einem weiteren Freund unter dem Siegel der Verschwiegenheit Bericht erstattet hatte, war die ganze Angelegenheit unversehens ans Licht der Öffentlichkeit getreten. Bald war auch der ABV unterrichtet,  der sich mittels seines Dienstmopeds sofort zum Fundort der Leiche begab und eine erste offizielle Untersuchung des Tatortes vornahm, während unsere Helden die Schulbank drückten. Nachdem er vorsorglich eine provisorische und weiträumige Absperrung  vorgenommen hatte, begann er mit einer langen Hakenstange, die er von den Fischern zu diesem Zweck ausgeliehen hatte, systematisch den kleinen, nicht all zu tiefen Teich nach einer eventuellen Leiche abzusuchen, wobei er tatsächlich fündig wurde. Mit dem Haken bekam er etwas Sperriges zu fassen, das sich seinen Bemühungen vehement entgegenstemmte. Er staunte nicht schlecht, als er das Objekt an Land gezogen hatte, aus deren Körperöffnungen eine übelriechende Brühe gluckerte. Zu seinem Entsetzen musste er noch drei weitere die Uferböschung hochziehen, die dann auf dem Feld leerliefen. Der modrige Gestank lockte unzählige Fliegen an, die sich gierig auf die schlammigen Körper setzten.
Jeder wird sich die maßlose Enttäuschung vorstellen können, die über unsere fünf Jungs hereinbrach, und das hämische Gelächter der Klassenkameraden, als bekannt wurde, dass diese vier Körper dereinst mit der neuesten Mode bekleidet  bei Bengeldorf im Schaufenster standen.

Rostock, den 04. Mai 2010



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