Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Spatzgeschichten

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Ein Kätzchen im Mai


Oben auf der Straße knatterte ein Motorrad vorbei. Andere Jungen in seinem Alter wären vielleicht hochgelaufen, um es anzuschauen. Er nicht! Ihn interessierten Motorräder nicht. Auch für Fußball, zum Beispiel, konnte ihn niemand begeistern. Sport im Allgemeinen nicht. Obwohl er einigermaßen sportlich aussah. Er las auch keine Bücher, egal welche, denn Lesen war ihm ein Graus. Dabei hätte er sich in der Bürgermeisterei jede Menge Bücher mit spannenden Geschichten ausleihen können. Er dachte, Lesen sei nicht so wichtig, denn er kannte keine Leute, die irgendwelche Bücher zu Hause hatten. Abgesehen vom großen Haus am See, dort hatte er welche gesehen. Aber die Leute hatten sogar ein Klavier stehen. So saß er also vor der Veranda allein in der Sonne und langweilte sich. Auch der Hund war nicht zu Hause. Weil Sonntag war, hatten seine Eltern ihn vor den großen Handwagen gespannt und mit aufs Feld genommen. Den Jungen hatten sie zurückgelassen, weil er auch für die Feldarbeit untauglich war.
Nachdem er eine Weile mit geschlossenen Augen vor der Verandatür gedöst hatte, fiel ihm das kleine Kätzchen ein, mit dem er spielen könnte. Aber wo steckte es? Er rief es ein paar Mal, aber nichts rührte sich. So musste er sich notgedrungen aufrappeln und es suchen gehen. Da ihn die Sonne oder die Langeweile durstig gemacht hatte, wollte er zuvor etwas trinken. Er ging ins Haus, die Treppe hoch und in die Küche, wo er sich ein Glas Saftwasser mischte.
Dann ging er über den Hof zum Schweinestall, um dort nachzusehen, von dort zum Kohlenschuppen. Nichts! Er kuckte über den Zaun zur Straße, aber auch die war leer. Dann schaute er in den Pferde- und Hühnerstall. Auch nichts. Nach dieser Anstrengung setzte der Junge sich wieder vor die Verandatür und überlegte, wo es wohl sonst sein könnte. Vielleicht hatte das Kätzchen Heimweh und ist nach Hause gelaufen, dachte er. So wie der alte Peter, der war auch wieder nach Hause gelaufen. Denn es war noch nicht lange her, dass seine Eltern und er vom See, wo sie so viele Jahre gewohnt hatten, hoch ins Dorf gezogen waren. Der schwarze Kater, der unten am See groß geworden war, wollte sich einfach nicht an die neue Umgebung gewöhnen und ist immer wieder fortgelaufen, bis es seine Eltern aufgaben, ihn vom See hochzuholen. Deshalb hatten sie sich jetzt ein neues Kätzchen angeschafft, das sich sicher schnell eingewöhnen würde, weil es noch so jung war.
Er stand abermals auf, ging in die Werkstatt seines Vaters und schaute dort in alle Ecken und unter jede Hobelbank. Vielleicht lag es irgendwo zwischen den Spänen und schlief. Er durchsuchte den Maschinenraum und den Bretterschuppen. Umsonst. Vom Bretterschuppen aus gelangte er durch eine Tür in den Garten hinunter, wo er den Buchsbaumweg entlangging bis zu den Resten der alten Stadtmauer. Der Junge schaute sich nach allen Seiten um und rief immer wieder das vermisste Kätzchen. Sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass er, wenn er schon nicht mit aufs Feld wolle, wenigstens auf das Haus aufpassen müsse. Nun fragte er sich voller Bange, was ihm mehr Ärger einbringen würde, das Verschwinden des Kätzchens oder wenn er kurz zur Promenade runter ginge. Da er in den Nachbargärten niemanden sah, der hätte petzen können, öffnete er die hintere Gartenpforte und lief runter zur Promenade, wo sich hinter einem breiten Schilfgürtel der Damm-See erstreckt. Aber auch hier war von dem kleinen Biest weit und breit nichts zu entdecken. Enttäuscht stieg er wieder zum Garten hoch, schloss sorgfältig hinter sich die Pforte und stapfte missmutig in Richtung Bretterschuppen. Er passierte gerade den großen Apfelbaum, der auf halber Höhe stand, als er rechts im Nachbargarten eine Bewegung registrierte. Er blieb stehen und wartete gespannt. Und tatsächlich, da bewegte sich wieder etwas. Im Gras hinter dem kaputten Zaun, es war ganz deutlich zu sehen. Gespannt starrte er auf die Stelle neben dem alten Johannisbeerstrauch. Plötzlich schob sich ein gelb getigertes Wollknäuel mit großen Augen aus dem Gras. Erschrocken hielt es inne, als es den Jungen im Weg stehen sah, kam aber dann mit aufgerichtetem Schwanz auf ihn zu getapst.
„Da bist du ja endlich! Wo hast du so lange gesteckt, ich habe dich überall gesucht?" Er nahm das Kätzchen auf den Arm, drückte es an seine Brust und ging mit ihm zurück in den Hof, wo er sich wieder auf den warmen Steintritt vor der Verandatür niederließ. Dort zog er eine Schale mit Wasser heran, aus der auch die Hühner tranken, und setzte das Kätzchen davor, weil es vielleicht durstig war. Es schleckte tatsächlich von dem Wasser, wobei es immer wieder prustete und sich das Wasser von der kleinen Schnauze schüttelte.
„Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt", sagte der Junge und streichelte ihr den Rücken, der sich jedes Mal aufbäumte. Dann setzte er es auf seinen Schoß und kraulte es im Genick. Es dauerte nicht lange, bis es genüsslich zu schnurren anfing. Dann erwischte es den kleinen Finger seiner anderen Hand und begann daran zu saugen, wobei es mit den Vorderpfoten wechselseitig gegen seine Hose stampfte, und zwar mit einer Tiefenwirkung, die ihn angenehm berührte. Der Junge, er war gerade elf geworden, lehnte den Kopf gegen die Tür, blies eine blonde Strähne aus der Stirn und schloss die Augen. Je intensiver das Kätzchen saugte, um so kräftiger stampfte es mit den Pfoten, was dem Jungen durchaus nicht unangenehm war, ihn aber auf eine folgenschwere Idee brachte. Er hob das Kätzchen vom Schoß, knöpfte die Klappe an seiner Lederhose auf und förderte seinen vom Stampfen angeregten Schniepel ans Tageslicht. Dann setzte er das Kätzchen zurück, das ohne Umschweife mit dem Saugen und Stampfen fortfuhr, ohne sich daran zu stoßen, dass es nicht mehr der kleine Finger war. Amüsiert schaute der Junge zu und wunderte sich, wie leicht man ein kleines Kätzchen hereinlegen konnte. Das Saugen bewirkte ein eigenartiges Kribbeln und ein weiteres Größerwerden seines Schniepels, der schnell sein Maximum erreichte. Das Kätzchen war unermüdlich, obwohl aus diesem Zitzenersatz keine Milch floss. Wenn es sein Treiben doch einmal unterbrach, dann nur um tief Luft zu holen und den Jungen anzugrinsen. Dem Kätzchen schien es zu gefallen, dem Jungen sowieso, der es mit geschlossenen Augen genoss. Warum bin ich nicht schon eher darauf gekommen, tadelte er sich in Gedanken. Als wir noch kleine Lämmer hatten.
Plötzlich wurde ihm die Sache unheimlich. Er riss das Kätzchen hoch und blickte besorgt auf seinen steifen Puller. Stramm glänzte die Eichel in der Sonne. Der kleine Spalt stand offen. Ein komisches Gefühl hatte sich zwischen ihm und dem Kätzchen eingeschlichen. Er wartete. Rechts von ihm, in der Ecke zwischen Veranda und Werkstatt, stand eine große schwarze Regentonne, in der sich das braune Wasser von den Pappdächern sammelte und eklige nackte Maden mit langen Schwänzen tummelten. Auf ihrem Rand saß ein neugieriger Spatz, der sie schon geraume Zeit beobachtete.
„Du musst aufpassen, sonst puller ich dir ins Maul", sagte der Junge zu dem Kätzchen und sah ihm ernst in die Augen. Das hätte ihm zwar nichts ausgemacht, seiner Hose und folglich auch seiner Mutter schon. Aber eigentlich, dachte er, fühlt sich das anders an, wenn ich pullern muss.
„Sieh dich mit deinen Zähnen vor, rate ich dir!" Vielleicht liegt es an denen, dachte er.
Das komische Gefühl war inzwischen verschwunden, der Kleine stand aber noch tapfer aufrecht und hoffte. Versuchen wir es noch einmal, dachte der Junge und setzte das Kätzchen zurück an seine Zitze, das unverdrossen seine Arbeit wieder aufnahm. War das ihre kleine raue Zunge, die er gerade spürte? Ihre Pfoten lagen jetzt direkt auf seinem kleinen Sack, den er vorsorglich auch heraus befördert hatte. Er schloss bis auf einen kleinen Schlitz die Augen und blinzelte in die Sonne. Soviel Spaß hatte er schon lange nicht. Aber was war das? Da war es wieder, dieses komische Gefühl, das neu war für ihn, dass er so bisher nicht kannte und ihm Angst machte. Wieder riss er hastig das Kätzchen von seinem Schniepel fort. Frech steckte es ihm die Zungenspitze raus, von der ein dünner durchsichtiger Faden waberte, der an seiner Eichel endete. Was ist das, dachte er und wischte mit dem Finger darüber, den er dann an die Nase hielt. Er roch nichts. Dann wischte er ihn an der Hose ab. Obwohl ihm die Sache nicht geheuer vorkam, konnte er nicht anders, als das Spiel von vorn zu beginnen. Das Kätzchen machte bereitwillig mit. Diesmal sollte das Spiel aber ein böses Ende nehmen. Nach noch kürzerer Zeit und zehnmal heftiger war das komische Gefühl über ihn gekommen. Er schwankte zwischen Handeln und nicht Handeln. Seine Furcht gebot ihm, das Kätzchen ein für alle Mal wegzunehmen, aber der Teufel hielt es fest. Als er sich endlich entschloss, der Furcht gewaltsam nachzugeben, war es bereits zu spät. Zwar schwebte das Kätzchen bereits in der Luft, aber aus seinem steifen Schniepel spritzte eine klebrige Flüssigkeit, die in hohem Bogen auf seiner Brust landete.
„Scheiße, was ist das? Was geschieht mit mir? Muss ich jetzt sterben?" Einigermaßen erschrocken besah er sich die Bescherung, fühlte sich aber kerngesund und sehr befriedigt. „Siehst du nun, was du gemacht hast!" Er schimpfte das Kätzchen aus, das sich vergnügt das Maul leckte. Nachdem der Schreck verflogen war, zog er sein Taschentuch aus der Hose und wischte damit die Schmiere von dem Plaste-Edelweiß der Hosenträger. Dann dämmerte ihm langsam die Tragweite des Geschehens und die sich daraus ergebenden künftigen Vergnügungen.
„Das müssen wir nachher noch einmal machen", beschwor er das Kätzchen. Das schien nichts dagegen zu haben. Er blieb noch eine Weile sitzen und betrachtete seinen Schniepel, der sich nur zögerlich von der gerade überstandenen Aufregung erholte.
„Was glotzt du so blöd? Hau gefälligst ab, du bist noch viel zu klein dafür." Der Spatz hockte noch immer auf dem Tonnenrand, drehte den Kopf hin und her um nichts zu verpassen, und war nicht von seinem Posten zu vertreiben, egal wie heftig der Junge mit den Armen wedelte. Erst als der Junge aufstand und einen Schritt näher kam, flog er auf, flatterte eine Etage höher und setzte sich auf die Dachrinne der Veranda, plusterte sich auf, drehte ihm sein Hinterteil zu und ließ einen kleinen Klecks fallen, genau dorthin, wo vorher der Junge gesessen hatte.
„Du bist wohl ein bisschen doof?", schimpfte der Junge. „Was bist du überhaupt für ein Spatz? Ich habe noch nie einen gesehen, der ein grünes und ein blaues Bein hat. So was gibt es gar nicht! Hast wohl zwei verschiedene Strümpfe an?" Dann wandte er sich dem Kätzchen zu, das danebensaß und wartete, und sagte zu ihr: „Dann müssen wir eben woanders hin." Er stopfte seinen Puller, der sich noch immer nicht vollständig beruhigt hatte, in den Schlüpfer und knöpfte die Hosenklappe zu. „Du wartest hier, verstanden!" Er sah das Kätzchen mit ernstem Gesicht an, das prompt mit dem Kopf nickte, als Zeichen guten Willens. Aber kaum hatte er die Tür zur Werkstatt geöffnet, war es ihm zwischen den Beinen hindurchgeschlüpft und in den Maschinenraum gelaufen, wo es mit großem Geschick über die unter dem geöffneten Fenster liegenden Holzabschnitte kletterte und hinaus sprang, ohne dass der Junge etwas dagegen tun konnte. Der rannte so schnell er konnte durch den Maschinenraum in den Bretterschuppen und von dort in den Garten, aber das Kätzchen war bereits über alle Berge. Auch das Rufen konnte er sich sparen. Er ging in die Küche hoch, die Treppe war auch von der Werkstatt aus erreichbar, trank ein weiteres Glas Saftwasser, und legte sich anschließend unter dem großen Apfelbaum im Garten auf die Lauer.
Die Zeit verging. Beinahe wäre der Junge im Schatten eingeschlummert, als ein Spatz haarscharf an ihm vorbei flatterte und sich auf einen höheren Ast schwang und lachte. Aber es war nicht irgendein Spatz, es war der mit den Strümpfen. Wenige Augenblicke später erschien auch das Kätzchen wieder, auf genau dem gleichen Weg wie vormals. Er schnappte es sich unsanft und gab ihm einen Klaps auf den Po.
„Warum haust du einfach ab, du weißt genau, was wir noch vorhaben. Du musst dich nicht immer vor der Arbeit drücken. Das sagt meine Mutti immer."
Er hielt das Kätzchen fest, darauf bedacht, es nicht wieder entwischen zu lassen, und ging mit ihm unter den Fliederbusch an den Resten der Stadtmauer, wo ein Liegestuhl stand. Dort hinein setzten sie sich. Ohne jede Verzögerung knöpfte er die Hosenklappe seiner Lederhose auf und … Die Prozedur kennen wir bereits. Im Großen und Ganzen war der Ablauf vollkommen mit dem vorherigen identisch, nur das aufseiten des Jungen keine Angst mehr im Spiel war, der Strumpfspatz jetzt im Fliederbusch saß und auch einige Mücken am Saugen beteiligt waren, wovon der Junge allerdings nichts merkte. Als dann alle fertig waren und sich beruhigt hatten, schubste er das Kätzchen vom Schoß, verscheuchte die Mücken, holte das Taschentuch heraus etc. etc.
„Das muss ich sofort Gerdchen erzählen!" Schon machte er sich auf den Weg zu seinem besten Freund. Rechtzeitig fiel ihm aber ein, dass er das Grundstück nicht verlassen durfte. Dafür hatte er schon einmal Prügel bezogen. Und die hielt noch eine ganze Weile vor. Dann eben morgen, dachte er.
In der ersten großen Pause des nächsten Tages nahm er Gerdchen auf dem Schulhof beiseite: „Ich muss dir unbedingt was sagen!"
„Ich auch", antwortete Gerdchen. „Du wirst es mir nicht glauben, was mir passiert ist."
„Aber lass mich zuerst erzählen", bat der Junge.
„Nein, ich", beharrte Gerdchen, denn er war immer und in allem der Bestimmer.
„Na gut, dann du."
„Gestern war ein kleines Kätzchen bei uns auf dem Hof. Zweimal sogar", betonte Gerdchen.
„Ein Kätzchen, was für ein Kätzchen denn?", unterbrach ihn der Junge misstrauisch.
„Das will ich dir doch gerade erzählen. Hör endlich zu." Gerdchen wurde ungehalten.
Der Junge zog genervt die Augenbrauen hoch.
„Also, das war so ein gelb getigertes", fuhr Gerdchen fort.
„Ach so?" Dem Jungen schwante Böses. Hatte Gerdchen ihn beobachtet und wollte ihn jetzt verscheißern?
„Jaaa! Das ist mir auf den Schoß gesprungen."
„Sag mal, willst du mich verarschen?", fragte der Junge ihn ganz direkt.
„Nein, wieso sollte ich." In Gerdchens Stimme und Augen lauerte kein Schabernack. „Dann hat es mit den Vorderpfoten, es war unglaublich …"
Was der arme Junge jetzt zu hören bekam, können wir uns lebhaft vorstelle. Er hörte Gerdchen zu, ohne ihn ein weiteres Mal zu unterbrechen. Über den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte bestand kein Zweifel, weswegen sich seine Begeisterung in Grenzen hielt.
„So und jetzt du", forderte ihn Gerdchen auf.
„Ach, es ist weiter nichts, ich wollte nur sagen, dass es jetzt auch bei mir kommt." Der Junge war maßlos enttäuscht und ärgerlich. Na warte, du kleines Biest, dich werde ich kriegen, dachte er. Mit Gerdchen redete er den ganzen Tag kein Wort mehr.
Noch am selben Nachmittag ging der Junge in die Werkstatt, um einen für sein Vorhaben geeigneten Schuhkarton zu suchen, den er auch bald auf den Furnierböcken fand. Jetzt brauchte er eine stabile Strippe, was auch kein Problem darstellte. Es fehlte nur noch eines. Nachdem er in Haus und Hof nicht fündig geworden war, begab er sich mit seinen Utensilien, seinen Eltern aus dem Weg gehend, in den Garten und setzte sich unter den Apfelbaum. Auch der Spatz war nirgends zu sehen. Nach geraumer Zeit kam das Kätzchen, sich noch immer das Maul leckend, auf ihrem gewohnten Weg schnurstracks auf ihn zu.
„Komm nur zu mir, mein geliebtes Kätzchen. Wo warst du schon wieder? Sag nichts, ich weiß Bescheid, du Verräter! Wir setzen uns noch einmal in den Liegestuhl, da sieht uns niemand."
Der Spatz erwartete sie schon. Nachdem sie fertig waren und der Junge sich notdürftig gesäubert hatte, nahm er den Deckel vom Schuhkarton, die Strippe heraus und setzte das ahnungslose Kätzchen hinein. Mit einer Hand streichelte er ihm den Rücken, mit der anderen ergriff er den Deckel und stülpte ihn über den Karton. Das Kätzchen, dem es im dunklen Karton unheimlich wurde, drückte mit dem Köpfchen den Deckel hoch, um zu fliehen, was der Junge zu verhindern wusste. Schnell wickelte er die Strippe mehrmals kreuz und quer um das düstere Gefängnis, sodass an Flucht nicht mehr zu denken war. Vorsichtig schaute er zum Maschinenraum und zum Küchenfenster hoch, es war aber niemand zu sehen. Dann verließ er durch die Pforte den Garten, ging zur Promenade hinunter und schlenderte mit dem Karton unter dem Arm in Richtung Fischerhütte. Dort angekommen vergewisserte er sich, dass keiner von den Fischern anwesend ist. Bis auf die Möwen, die in großer Zahl auf dem Damm-See heimisch waren und stets ein fürchterliches Gezeter veranstalteten, war alles ruhig und das Vorhängeschloss zu. Diesen Ort mochte der Junge besonders gern. Mit seinem Freund war er schon öfter hier, wenn sie auf ihren Streifzügen auf Abenteuer aus waren. Die Hütte, deren Holz von Wind und Wetter fast schwarz war, stand in der Mitte über einem langen Holzsteg auf Pfählen im Wasser und erinnerte an die alte Biberburg, die die Jungs aus einer Lichtbildergeschichte kannten. Der Steg, der nur rechts mit einem Geländer versehen war, drückte auf dieser Seite das Schilf zurück. Links war eine Art Kanal ausgehoben, sodass die Fischer mit dem Boot bis ans schlammige Ufer staken konnten. Überhaupt war der See im Untergrund ziemlich morastig, was die überall aufsteigenden Blasen verdeutlichten. Hierin und mit dem breiten Schilfgürtel, in dem sich Weidensträucher, hohe Grassockel und verschiedene Tierpfade abwechselten, kam er der Fantasie der Jungen sehr entgegen. Schon oft hatte der Junge versucht, die Hütte zu durchstöbern, aber die Fischer gaben ihm keine Gelegenheit dazu. Und bis dahin war auch noch kein passender Schlüssel für das Schloss aufzutreiben gewesen. Auch mit seiner Mutter war er bisweilen hier, um mit einer alten Schaumkelle nach Entenflott zu fischen.
Er ging mit dem Karton bis zur Hütte, wohin der Schilfgürtel nicht heranreichte, sodass auf beiden Seiten des Steges freies Wasser war, setzte ihn links hinein und gab ihm einen Schubs. Leider war der nicht ausreichend. In ungefähr einem Meter dümpelte der Karton auf der Stelle. Auf dem Steg lagen einige von den Stangen, mit denen die Fischer im See die Netze befestigten. Der Junge nahm eine davon und beförderte damit den Karton so weit hinaus wie möglich. Ein letztes Mal hörte er ein leises Miauen, dann war der Karton zu weit weg. Ein leichter Wind trieb ihn auf die Schilfkante zu. Der Junge legte die Stange wieder ab und beobachtete den Karton, der von den Schilfhalmen hin und her geschubst wurde und keine Anstalten machte, unterzugehen. Ein Blesshuhn schwamm hinzu und untersuchte ihn mit dem Schnabel. Auch der Spatz mit den verschiedenfarbigen Strümpfen flog hinüber, ließ sich auf dem unsicheren Floß nieder und pickte an der Strippe herum. Die stecken alle unter einer Decke, dachte der Junge. Ein paar Löcher hätte die Sache beschleunigt. Da es noch Stunden dauern konnte, verließ er gelangweilt den Steg und begab sich gemächlich nach Hause, wo er seiner Mutter gegenüber andeutete, dass dieses Kätzchen wohl weggelaufen sei.
„Ach, die Katze kommt schon wieder", sagte seine Mutter dazu. „Die bringt so schnell nichts unter."
Am nächsten Tag berichtete ihm Gerdchen in der Schule, dass das Kätzchen wieder bei ihm war.
„Gestern?"
„Ja, aber heute Morgen auch schon!"
„Sag mal Gerdchen, hast du schon mal einen Spatz mit bunten Beinen gesehen?"
„Ja, aber woher weißt du …?"


Rostock im Mai 2009



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