Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Glück mit Ölsardinen


Die Geschichte, die ich heute erzählen möchte, trug sich Mitte der Siebziger des vergangenen Jahrhunderts zu. Mir fiel sie wieder ein, als ich vor ein paar Tagen den Namen Edmund las. Denn genauso hieß auch der Junge, den ich damals kennenlernte: Edmund Glück.
Ich lebte damals in Prenzlau, einer Kreisstadt in der Uckermark, und muss so um die vierundzwanzig gewesen sein, natürlich ledig, war aber schon mit einer eigenen kleinen Wohnung gesegnet, was für meine Verhältnisse beileibe nicht selbstverständlich, aber sehr vorteilhaft war. Mit den Leuten im Aufgang verstand ich mich bestens. Das war zu der Zeit anders als heute. In der dritten Etage wohnte ein Junge, den alle nur Kuno riefen. Wir beide hatten ein ganz besonders inniges Nachbarschaftsverhältnis entwickelt. Aber davon darf ich hier nichts erzählen, wenn ich nicht schon zu Beginn dieser Geschichte vom Thema abschweifen will.
Eines sonntags ging ich in die Stadt, um mir in der Nachmittagsvorstellung einen Film anzuschauen, der lustig zu werden versprach. Da ich zeitig losgegangen war, blieben mir bis zum Beginn des Films noch etliche Minuten, in denen ich mich auf dem Vorplatz des Kinos und im Schalterraum herumdrückte. Dort sah ich ihn zum ersten Mal. Er kam allein die Stufen zum Vorplatz herauf und ging geradewegs zur Kasse. Groß gewachsen und viel zu schön, um mich zu beachten. Aber dieser kleine Augenblick, in dem er an mir vorüberschwebte, genügte meinem Herz, Kapriolen zu vollführen als wäre ich zu schnell gelaufen. Mein Hirn blendete ringsum alles aus, ich sah nur noch ihn. Das musste der Moment gewesen sein, den die alten Römer meinten, wenn sie sich von Cupidos Pfeil getroffen fühlten. So mancher wird dieses Gefühl kennen. Ich musste mir selbst Gewalt antun, um nicht sofort wie ein Hündchen schwanzwedelnd hinterher zu laufen. Aber kaum, dass er seine Platzkarte empfangen und im Saaleingang verschwunden war, hastete ich zum Schalter und verlangte von der Kassiererin: „Gleich daneben bitte!" Noch heute wundere ich mich über meine ungewohnt schnelle Reaktion. Meine Mutter wäre bestimmt stolz auf mich gewesen.
„Gehören sie zusammen?", wollte die neugierige Frau wissen.
„Ja, wieso?"
Nachdem ein paar Minuten verstrichen waren, betrat auch ich den Kinosaal. Mit zittrigen Fingern drehte ich meine Karte hin und her. Langsam und mit der Befürchtung, aller Augen seien nur auf mich gerichtet, ging ich den linken Gang hinunter bis zu der Reihe, in der er saß. Hier begann die mittlere Preisstufe. Mutterseelenallein saß er in der Mitte der Sitzreihe. Weder rechts oder links neben ihm, noch in den Reihen hinter oder vor ihm saß ein anderer Mensch. Nur ich strebte zielsicher auf ihn zu. Jeder konnte sehen, wie mir das Herz in die Hose rutschte. Wenn wenigstens das Licht schon aus gewesen wäre. Wie erklärte ich ihm, dass ich ausgerechnet den Platz neben ihm hatte? Was, wenn er aufstehen würde, um sich einen anderen Platz zu suchen? Bei den wenigen Besuchern hätte sich wahrscheinlich niemand mehr in diese Reihe gesetzt. Während mir dies durch den Kopf schwirrte, ging ich weiter auf ihn zu, klappte dann neben ihm den Sitz herunter und nahm Platz, wobei ich ihm meine Karte so unter die Nase hielt, dass die Sitznummer zu erkennen war und als sei er der Platzanweiser. Er nahm es gelassener zur Kenntnis, als ich hoffen durfte. Vielleicht rechnete er damit, dass sich die Reihe eh füllen würde. So gut es ging hielt ich Abstand, um ihn nicht meinen erhöhten Puls spüren zu lassen. Auch wagte ich es nicht, ihn von der Seite her anzusehen, ohne mich zu verraten. Nur ganz verstohlen blickte ich auf seine breiten Knie. Dann ertönte der Gong, das Licht dämmerte dahin und der Vorhang glitt zur Seite. Wir saßen noch immer allein in der Mitte des Saales. Nur die oberen und unteren Reihen waren besetzt. Schöne Scheiße, dachte ich, was mache ich, wenn er jetzt aufsteht?
Er tat es aber nicht. Möglicherweise hielt er mich für sympathisch, oder für harmlos. Es wäre geschwindelt, wenn ich behauptete, mein Puls hätte inzwischen wieder seinen Ruhewert erreicht. Und jetzt, da er sitzen geblieben war, wäre das Gegenteil wohl richtiger. Jeder wird mir abnehmen, dass ich heute nicht mehr weiß, wie der Film hieß. Aber das ist ohnehin nebensächlich. Es war jedenfalls etwas Lustiges, denn die Gören in den unteren Reihen grölten um die Wette. Auch meinen Nebenmann schien der Film zu belustigen. Inzwischen war ich behutsam näher gerückt. Und zwar soweit, dass sich hin und wieder, das heißt, immer wenn es die Handlung auf der Leinwand erlaubte, unsere Knie berührten. Da ich meinem mutigeren Knie in nichts nachstehen mochte, nutzte ich den nächsten Gag, um ihm vor lauter Begeisterung und aus Versehen mit der rechten Hand auf seinen linken Oberschenkel zu schlagen. Natürlich nicht so heftig, dass irgendwelche Folgen zurückbleiben würden. Er sah mich das erste Mal an. Vielleicht etwas erschrocken.
„Bitte verzeih mir meinen ungestümen Ausbruch", beeilte ich mich zu sagen. „Hat es wehgetan?"
„Nicht so schlimm, ich werde wohl noch laufen können."
Wir sahen uns in die Augen, so gut dies bei den gegebenen Lichtverhältnissen möglich war, und lachten. Da auch er sich über den Film amüsierte, war er bester Stimmung und nahm mir meine Entgleisung nicht übel. Die Absicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, hatte funktioniert. Während wir ab und an Bemerkungen zum Film austauschten, konnte ich ihn anschauen, ohne aufdringlich zu wirken. Mein Knie nahm auf derlei Feinheiten keine Rücksicht, es wurde immer hemmungsloser. Später ging das Licht wieder an und die Besucher verließen das Kino. Auch er, seinen Namen kannte ich noch nicht, war aufgestanden und hinaus gegangen, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen, durfte ihn jetzt auf keinen Fall entwischen lassen. Er schien es aber nicht besonders eilig zu haben. Vor dem Kino sprach ich ihn erneut an.
„Wo musst du lang?"
„Hier hoch", antwortete er und wandte sich in Richtung Hotel Uckermark.
In seiner Stimme und seiner Geste lag nichts Abweisendes, darum sagte ich: „Da will ich auch lang."
Gemeinsam schlenderten wir bis zum Hotel, das nur zweihundert Meter entfernt ist, und unterhielten uns. Genau genommen habe ich nur von meinen Hobbys geschwärmt, wovon ihn das Malen am meisten zu interessieren schien. Damit schaffte ich es immerhin, ihm eine Verabredung für den nächsten Tag abzuluchsen. Vor dem Hotel verabschiedeten wir uns, denn er müsse nach Hause und für morgen Hausaufgaben erledigen. Ich kehrte um und begab mich ebenfalls auf den Weg nach Hause, ohne der Versuchung, mich nach ihm umzusehen, nachzugeben.
Die Arbeitszeit zog sich am Montag wie ein Gummiband in die Länge. Ich war müde. Die halbe Nacht lang hatte ich gegrübelt, wie es mit meiner neuen Eroberung weiter gehen könnte, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich wollte ihn gewinnen und nicht verschrecken. Ich konnte mich nicht auf die Arbeit konzentrieren, war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Was, wenn er nicht kommen würde, nicht konnte? Dann wäre die Geschichte zu Ende, ohne überhaupt angefangen zu haben. Die Vorfreude wich nach und nach einer aufkeimenden Enttäuschung. Bis zum Feierabend blieb ich nicht vernünftig ansprechbar. Immer wieder warf ich mir vor, naiv zu sein, wenn ich mir einbildete, er würde tatsächlich zum verabredeten Treffpunkt kommen. Er hatte auf mich einen intelligenten Eindruck gemacht. Sicher, schwule Sau war damals noch kein fester Bestandteil der Umgangssprache unter Jugendlichen, aber er würde sich sicher auch Gedanken über diesen Typen gemacht haben, der ihn auf der Straße von der Seite angequatscht hatte. Er würde mir dann zeigen, zu welchem Ergebnis er gekommen war. Vielleicht hatte er sich tatsächlich vorgenommen, zu erscheinen, und irgendwas würde in letzter Minute dazwischen kommen. Seine Mutter, die Schule oder sonst was. Ich machte mich darauf gefasst, ihn nie wieder zu sehen.
Als es endlich soweit war, verließ ich das Gesundheitsamt in der Grabower Straße, schnappte im Hof mein Fahrrad, das ich dann durch den Park schob, am Polizeigebäude vorbei bis zum Hotel Uckermark, wo wir uns am gegenüberstehenden Zeitungskiosk treffen wollten. Da noch genug Zeit war, ging ich betont langsam und versuchte die Speichen des Vorderrades zu zählen, um mich abzulenken, was natürlich vollkommen sinnlos war.
Dann auf einmal sah ich ihn! Schon von Weitem. Da stand er, neben dem Kiosk, wie verabredet, und wartete schon. Ach, wäre ich nur schneller gegangen. Bei seinem Anblick, wie er in der Sonne stand und sich immer wieder umschaute, geriet mein Blut sofort in Wallung und nichts hätte es jetzt zur Ruhe gebracht. Mit immer schnelleren Schritten strebte ich meinem Ziel entgegen und konnte dabei nicht verhindern, dass ich übers ganze Gesicht strahlte. Auch er lächelte, als er mich sah. Dann begrüßten wir uns mit Handschlag, ganz wie alte Kumpels, wobei ich mich bemühte, seine Hand nicht über Gebühr festzuhalten, obwohl ich sie liebend gern nie wieder losgelassen hätte. Auf der Dachkante des Kiosks hüpfte ein Spatz entlang und beobachtete uns erwartungsvoll.
„Ich freue mich, dass du gekommen bist", sagte ich. „Wollen wir?"
Er nickte mit dem Kopf und zog die Stirn kraus. „Hast du gedacht, ich würde dich versetzen?"
„Na ja, ich hatte mir gewünscht, dass du kommst, aber nicht wirklich damit gerechnet."
„Dann hätte ich gestern schon gesagt, du sollst Leine ziehen." Er sah mich an und grinste.
Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken, er könne Bescheid wissen und es selber wollen. Während wir gingen, blickte ich mich hin und wieder um. Es wäre mir peinlich gewesen, irgendwelchen Bekannten über den Weg zu laufen. Darüber verschwendete er anscheinend keine Gedanken. Auch sonst schien sich niemand etwas dabei zu denken, uns zusammen zu sehen. Natürlich hatte ich mir ein paar Themen zurechtgelegt, über die wir reden konnten, denn bis zur Josef-Schares-Straße, wo ich wohnte, ist es zu Fuß ein ganzes Ende. Vorerst knüpfte ich da wieder an, wo wir am Vortag stehen geblieben waren, nämlich bei der Malerei. Das hatte ihn ja am stärksten interessiert.
Mit ihm an meiner Seite schrumpfte der lange Weg auf einen Bruchteil zusammen. Schon hatten wir in der Brüssower Straße die Bahngleise überquert und nach Kurzem den Igelpfuhl erreicht. Nun war es bis zur Josef-Schares-Straße nicht mehr weit. Auf diesem Weg machten wir uns aber auch bekannt. So erfuhr ich unter anderem, dass er Edmund Glück hieß, in welche Klasse er ging und wo er wohnte. Bei mir zu Hause angekommen, bugsierte ich als Erstes das Fahrrad in den Keller, während Edmund vor der Haustür auf der Bank sitzend auf mich wartete. Danach betraten wir die rechte Wohnung in der untersten Etage, die meine war. Ich übergab die leichte Jacke, die ich morgens überhatte, der Flurgarderobe und hängte den Beutel, in dem ich mein Frühstück zu transportieren pflegte, an einen Haken und zog mir die Schuhe aus. Unaufgefordert entledigte sich auch Edmund seiner Treter und fragte, ob ich ein paar Latschen für ihn hätte. Ich reichte ihm ein Paar und freute mich, dass er keine Gefahr befürchtete, bei der er Hals über Kopf fliehen müsse. Ich goss Brause in zwei Gläser, er nahm seines in die Hand und besah sich die Wohnung. Sie hatte ein Zimmer mit Ofenheizung und Balkon. Der schmale Flur trennte es von der kleinen Küche und dem Bad, dessen Grundriss die Form eines Lineals hatte. Alles in allem nicht besonders luxuriös, aber es war mein Reich, in dem ich halbwegs tun und lassen konnte, was ich wollte. Und wer konnte das damals in meinem Alter noch von sich behaupten!
Da ich Edmund hauptsächlich mit meiner Malerei hierher gelockt hatte, wollte er die nun auch sehen. Ich hatte jetzt den Eindruck, als glaubte er nicht wirklich daran, denn er war sichtlich von dem beeindruckt, was ich ihm zeigen konnte.
„Hast du gedacht, ich flunkere?", fragte ich ihn nebenher.
„Nein, gar nicht." Wieder grinste er übers ganze Gesicht.
Ich hätte zu gern in seinem schönen Kopf nachgeschaut, was da drinnen wohl vor sich ging. Er war von Anfang an nicht schüchtern und fühlte sich augenscheinlich in der für ihn fremden Wohnung recht wohl, was ich eigentlich nicht erwartete. Ich weiß genau, dass ich in seinem Alter auf gar keinen Fall mit einem fremden Kerl in dessen Wohnung gegangen wäre. Na ja, genau weiß ich es nicht, denn mir hatte das leider niemand angeboten. Er war jedenfalls bei mir, in meiner Wohnung, wo ich ihn hinhaben wollte, wo uns niemand sehen und hören konnte. Wegen der Nachbarn hatte ich mir noch nie sonderlich Gedanken gemacht. In der Jugend nahm man vieles auf die leichte Schulter. Jetzt konnte ich ihn ungeniert anschauen und seinen schönen Körper bewundern, was er, glaube ich, auch genossen hat. Er spürte aber auch, dass von mir keine Gefahr ausging. Wenn es anders gewesen wäre, hätte ich mir das nie verziehen.
Nachdem ich die Gläser wieder aufgefüllt hatte, kramte ich zwei Aquarellblöcke, Farben und Pinsel hervor, womit wir uns in der Küche breitmachten, soweit es die knappen zwei Quadratmeter zuließen. Aber die Enge konnte mir jetzt nur recht sein. Mit viel Optimismus begann ich, ihn in die Geheimnisse der Aquarellmalerei einzuweihen, soweit sie mir jedenfalls bekannt waren. Am liebsten experimentierte ich mit Farben und Pinsel herum. Damit konnte man schon immer sehr gut das eigene Unvermögen im wahrsten Sinne des Wortes vertuschen. Beispiele dafür finden sich in jedem modernen Museum, das was auf sich hält. Edmund war zwar ein begeisterter Schüler, aber leider mit nur wenig Talent versehen, was ich ihm seiner bezaubernden Augen wegen gern nachsah. Trotzdem war es eine Freude, seinen gepflegten Fingern zuzuschauen, wie sie den armen Pinsel quälten. Leider vergingen die Stunden viel zu schnell.
„Oh, ich muss sofort los, sonst bekomme ich Ärger zu Hause", sagte er, auf seine Armbanduhr schauend und selbst überrascht, wo die Zeit geblieben war. Edmund legte seine Bilder zum Trocknen beiseite und hastete in den Flur, wo er sich die Schuhe anzog.
„Sehen wir uns wieder, Edmund?", fragte ich beim Abschied mit klopfendem Herzen.
„Aber ja doch! Wir haben doch noch eine ganze Menge vor, denke ich. Am Mittwoch, wenn du Zeit hast, dann komme ich mit dem Fahrrad direkt hierher." Er hatte die Tür schon geöffnet und war die halbe Treppe hinunter gesprungen. Sein schelmisches Grinsen hing noch im Flur.
Ich ging in die Küche zurück, öffnete das Fenster und schaute ihm nach. Im Laufschritt blickte er zurück, winkte und war verschwunden. Ich schloss das Fenster, ging in den Flur und schloss auch die Wohnungstür. Das war also Glück, dachte ich und hatte mich wieder einmal unsterblich verliebt. Als ich mir später am Abend im Bett einen runter holte, träumte ich von dem Tag, an welchem wir uns zum Abschied küssen würden.
Edmund besuchte mich noch zwei- oder dreimal zu unseren Pinseleien, ohne dass ich ihm auch nur ein einziges Mal unzüchtig zu nahe gekommen wäre, obwohl er darauf zu warten schien, sich selbst aber auch nicht traute, den ersten Schritt zu tun. Ich mochte es mir auf keinen Fall durch übereiltes Handeln mit ihm verderben. Geduld ist mitunter der bessere Weg und die war schon immer meine Stärke. Tatsächlich aber stand mein Herz in Flammen, das ich dann nachts im Bett selbst zu löschen versuchte.
Aber dann musste ich für eine Woche nach Leipzig fahren, wo ich einen folgenschweren Fehler beging, den ich bis heute bereue. Mir, der jeden Schritt vorher abwägte und plante, um nichts dem Zufall zu überlassen, musste so ein Malheur passieren. Wenn man verliebt ist, setzt eben früher oder später der Verstand aus. Das ist erwiesen.
Auch in Leipzig war ich ins Kino gegangen. Es wurde die Viscontiverfilmung von „Der Tod in Venedig" gezeigt. Ob mir das Buch schon vorher bekannt war, kann ich nicht sagen, von dem Film war ich jedenfalls so begeistert und euphorisiert, dass ich mich im Anschluss sofort hinsetzte, um Edmund eine Ansichtskarte zu schreiben, auf der ich ihn mit dem jungen Filmhelden gleichsetzte. Sinngemäß schrieb ich, dass er mein Tadzio sei. Vermutlich kannten seine Eltern die Novelle, denn sie waren beide in intellektuellen Berufen tätig. Und das war dann auch das Ende vom Lied, denn fortan ließ sich Edmund nicht mehr bei mir blicken, so sehr ich auch wartete. Ich machte mir die heftigsten Vorwürfe, es half alles nichts. Er blieb weg! Ich war am Boden zerstört, mein Traum zerbröselte. Ich wollte mir die Seele aus dem Leib heulen, aber damals hatte ich noch keine Tränen. Tagelang haderte ich mit mir, war mir selbst und meiner Umgebung nicht grün. Das Schlimmste war, dass ich niemanden hatte, mit dem ich meinen Schmerz hätte teilen können. In meinem Treiben war ich zwar bisher immer recht unbekümmert gewesen, aber keinem meiner Freunde wollte ich ins Vertrauen ziehen, aus Angst vor abweisenden Reaktionen. Heute denke ich, dass es der eine oder andere verstanden hätte. Damals fehlte mir aber der Mut, ihnen mein Herz auszuschütten. Da das Leben weiter gehen musste, begann ich mir einzureden, dass aus uns beiden sowieso nichts hätte werden können, dass Edmund für eine dauerhafte Beziehung möglicherweise zu jung sei. Und dergleichen Schwachsinn mehr. Das half mir fürs Erste darüber hinweg. Und wer weiß, ob mir nicht in nächster Zeit erneut jemand über den Weg laufen und in den ich mich verlieben wieder würde.
Viele Wochen später sah ich Edmund in der Stadt. Prenzlau war damals und ist auch heute keine Stadt, in der sich Leute dauerhaft aus dem Weg gehen können. Er kam lächelnd auf mich zu und begrüßte mich, ohne erkennen zu lassen, dass er irgendwie sauer auf mich war. Das verwirrte mich ein wenig. Sollte doch noch was zu retten sein? Er versicherte mir glaubhaft, dass es ihm leidtue, mich nicht mehr besuchen zu können. Seine Eltern hatten ihn zur Rede gestellt und verboten, sich weiterhin mit einem so viel älteren Mann zu treffen. Ich wusste, dass sein Verhältnis zu den Eltern ausgezeichnet war, was wohl der Grund für die Einhaltung dieses Verbotes war. Wir standen nur ein paar Minuten beisammen, dann ging er weiter seiner Wege. Da ich mich inzwischen damit abgefunden hatte, ihn nicht zu bekommen, tat es kein bisschen weh. (Das ist gelogen!) Edmund war für mich nun endgültig passé. Und junge Herzen heilen sowieso schneller.
Es vergingen zwei Jahre. Ich musste noch immer regelmäßig nach Leipzig fahren. Eines Freitags kam ich spät abends von dort zurück. Der D-Zug hatte keine nennenswerte Verspätung gehabt, es war aber schon lange dunkel. Ich schnappte meine Reisetasche und stieg völlig geschafft aus. Der Zug war proppenvoll gewesen und ich hatte zusammen mit vielen anderen Leuten im Gang kampieren müssen. Wenn ich nur zu meinem Vergnügen nach Leipzig gefahren währe, ich hätte es gelassen. In der Bahnhofshalle warf ich noch rasch einen Blick ins Klo, da war aber nichts los. Danach begab ich mich schnurstracks zum Hotel Uckermark, um Abendbrot zu essen. Ich hatte fürchterlichen Knast. Die Frage war nur, ob ich um diese Zeit noch was bekommen würde. In meinem Kühlschrank zu Hause war jedenfalls Ebbe und ich konnte erst am nächsten Tag einkaufen gehen.
Ich weiß nicht, wann damals das Hotelrestaurant schloss, es saßen jedenfalls nur sehr wenige Gäste in dem großen Saal. Mit meiner Reisetasche ging ich an der Fensterseite an einem Tisch vorbei, der mit vier jungen Männern besetzt war, ohne mich für sie zu interessieren. Mein Selbsterhaltungstrieb gebot mir, jeglicher Gruppendynamik auszuweichen. Ich wählte einen Tisch im hinteren Drittel mit Blick auf den Kücheneingang. Das Hotel war das Größte in Prenzlau und das Einzige mit heilen Tischdecken. Die letzte Kellnerin, die noch arbeitete, war mit dem Eindecken anderer Tische beschäftigt. Als sie mich sah, kam sie an meinen Tisch und begrüßte mich.
„Was machst du denn noch um diese Zeit hier?", fragte sie. Es war Edeltraut, eine ehemalige Klassenkameradin.
Ich erklärte ihr, wo ich herkam und warum ich zu so später Stunde hier auftauchte.
„Die Küche hat zwar schon zu, aber ich kann dir ein paar Bratkartoffeln mit Spiegeleiern bringen", schlug sie vor.
„Das ist doch toll", freute ich mich und bestellte noch etwas Alkoholfreies zum Trinken. Das Getränk brachte sie sofort, die Bratkartoffeln dauerten ein paar Minuten. Bis dahin unterhielten wir uns ein wenig, denn wir hatten uns länger nicht gesehen. Das Essen schmeckte hervorragend, bei dem Hunger kein Wunder. Ich schob den leeren Teller beiseite und beobachtete gerade die Fliege an meinem Glas, als plötzlich jemand neben mir „Guten Abend" sagte. Ganz verdattert schaute ich von dem Glas auf in das strahlende Gesicht des Unruhestifters. Vor Überraschung brachte ich kein Wort heraus.
„Darf ich mich zu dir setzen?", fragte Edmund und zog sich den Stuhl zurecht, ohne auf eine Antwort zu warten.
„Ja doch, klar!", sagte ich, als der erste Schrecken vorüber war. Da saß er aber schon. Ich wäre der Letzte gewesen, der ihm das hätte verbieten wollen. „Wo kommst du auf einmal her?", wollte ich wissen, denn was Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein.
„Ich habe da vorne bei den Jungs gesessen", antwortete er und deutete in die Richtung des Tisches, an dem ich vorhin vorbei gegangen war, ohne ihn zu bemerken. Ich drehte mich um und blickte hinüber. „Die sind gerade gegangen", erklärte Edmund.
„Das ist ja eine schöne Überraschung. Ich freue mich riesig, dich zu sehe. Was treibst du hier?" fragte ich. Sein Strahlen verstärkte sich noch. Er war zwar noch größer geworden und kräftiger, sah aber noch immer himmlisch aus. „Ich bin wirklich erstaunt, dich hier anzutreffen." Das war natürlich blanker Unsinn, denn wann ging ich schon mal ins Uckermark.
„Schließlich bin ich jetzt zwei Jahre älter und kann mir ein paar Freiheiten mehr rausnehmen."
Ganz augenscheinlich, dachte ich. Als ich ihn dann fragte: „Möchtest du was zu trinken?", kam der zweite Schock.
„Nein, aber hast du was zu essen zu Hause?"
„Leider nein, ich komme gerade aus Leipzig." Scheiße, Scheiße, verdammte. „Höchstens irgendwelche Büchsen", versuchte ich die Situation zu retten.
„Gut, gehen wir!", sagte er und sah mich mit seinen großen Augen fragend an.
Mein Schwanz erkannte die Offerte schneller als mein Hirn. Wäre Edmund nur vor zwei Jahren schon so forsch gewesen! Edeltraut kam und fragte, ob sie uns noch was bringen könne, denn es sei gleich Schluss.
„Sag mal, kannst du mir ein paar Scheiben Brot aus der Küche besorgen?", bat ich sie.
„Ich kucke mal", antwortete sie und wandte sich zum Gehen.
Sie kam gleich zurück und stellte mir einen Teller mit fünf oder sechs Brotscheiben hin, die sie in Papierservietten eingewickelt hatte. Ich bedankte mich und beglich meine Rechnung. Dann standen wir auf und verabschiedeten uns. Ich nahm meine Tasche und ging mit Edmund nach draußen. Vor der Tür wehte ein willkommener Wind, der mir die Hitze aus dem Gesicht blies. Ohne Umschweife nahm er mir die schwere Tasche ab und trug sie bis zu mir nach Hause. Ich war die schwere Last zwar los, aber dennoch raste das Herz in meinem Brustkorb wild von einer Seite zur anderen. Auf dem ganzen Weg wurde nicht viel gesprochen. Ich glaube, das war nun auch nicht mehr nötig. Bestimmt dachte jeder an dasselbe, aber auf keinen Fall an die Brotscheiben, die ich in der Hand trug.
Im Küchenschrank hatte ich eine Büchse Ölsardinen vorrätig, die ich anstandshalber öffnete. Dazu wickelte ich das Brot aus. Die Gabel, die ich ihm reichen wollte, ließ ich fallen. Ich war vollkommen durch den Wind. Er aß im Stehen, aber ohne wirklich großen Hunger. Eigentlich stocherte Edmund nur darin umher, stellte die Dose endlich beiseite und blickte mich unschlüssig an.
„Komm, gehen wir in die Stube", forderte ich ihn auf.
Wir nahmen unsere Gläser mit, die noch voll waren, und setzten uns. Er in den weißen Kunststoffsessel, ich auf die Liege. Wir sahen uns in die Augen, dann auf die Pflanzen, die vor dem Fenster standen, und auf die Gläser, die vor uns auf dem Tisch warteten und an denen wir hin und wieder nippten. Während all dieser aufregenden Aktivitäten, die uns noch eine Weile in Anspruch nahmen, schwiegen wir uns an. Jeder wusste zwar, worauf alles hinauslaufen würde, war aber in seiner eigenen Nervosität gefangen. Als Edmund seine Finger zu kneten begann und wieder sein süßes Grinsen aufsetzte, raffte ich allen Mut zusammen.
„Möchtest du vielleicht hier schlafen?", fragte ich ihn vorsichtig und dachte, oh Gott,  wie wird er jetzt reagieren? Aber was konnte mir schon groß passieren. Im schlimmsten Fall könnte er Nein sagen oder aufstehen und sofort gehen. Er aber sagte gar nichts, sondern hörte auf zu grinsen. Seine Augen funkelten mich an, dann nickte er nur mit dem Kopf. Das wirkte für beide wie eine Befreiung.
„Gut, dann mach ich jetzt die Liege fertig. Du kannst ins Bad gehen, wenn du möchtest", sagte ich mit bebender Stimme.
Als er zurückkam, hatte ich alles fertig, zog nur noch die Vorhänge zu. Hastig zogen wir uns die Klamotten aus. Nur die Feinrippunterhose hatte jeder anbehalten. Verstohlen wagte ich einen Blick auf seine. Bei dem, was ich sah, wurden mir sofort die Knie weich. Eine gewaltige Beule kämpfte gegen den nicht minder starken Schlüpfergummi an, der nicht gewillt war, nachzugeben. Unterhalb meines Bauchnabels spielte sich ein ähnliches Drama ab. Auf dem Weg zum Lichtschalter zwängte ich mich ganz dicht an seinem geilen Knackarsch vorbei. Während ich das Licht ausknipste, legte sich Edmund ins Bett. Er lag auf der linken Seite mit leicht angezogenen Beinen. Im Dunkeln kroch ich hinter ihn, kuschelte mich dicht an ihn, sodass mein pochender Schwanz seine strammen Arschbacken berührte, legte behutsam meinen Arm um ihn und pustete meinen heißen Atem in sein Genick. Ich spürte, dass sein Herz noch schneller schlug als meines. Dann drehte sich Edmund langsam zu mir um.
Was dann geschah, möchte ich hier nicht in allen Einzelheiten breittreten. Jeder mag sich nach seinem eigenen Geschmack etwas zusammenreimen. Nur soviel sei gesagt: In den nächsten Stunden hatte ich sehr viel Glück, ich konnte es sogar mit Händen greifen. Das hatte aber plötzlich ein unerwartetes Ende, als er Anstalten machte, aufstehen zu wollen und sagte: „Es wird höchste Zeit für mich."
„Sehen wir uns wieder?", fragte ich glücklich.
„Vermutlich nicht!", flüsterte Edmund. In seiner Stimme schien etwas Schmerz mitzuschwingen, als er dann sagte: „Wir ziehen übermorgen weg. Nach Sachsen."

Rostock im August 2008



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