Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Spatzgeschichten

Texte > Spatzgeschichten

Karl-Friedrich, warum zitterst du denn so?


Im Dorf war Einschulung. Für die meisten der Betroffenen war es ein großer Tag, für wenige der Beginn eines langen und aussichtslosen Kampfes gegen eine Übermacht aus Buchstaben und Zahlen. Zu den Letzteren gehörte Gerdchen. Er war gerade mit seiner großen Schwester, die ihn begleitet hatte, nach Hause gekommen und stand nun auf einem großen, flachen Pflasterstein inmitten der Straße und schaute erwartungsvoll in den Fotoapparat, den sie eigens für diesen Augenblick mitgebracht hatte. Er hatte seinen Kopf auf die rechte Schulter fallen lassen und die Knie eingeknickt. Die Jacke, die er anhatte, stammte von den Stricknadeln seiner Schwester und leuchtete genauso hell wie sein strohblonder Bubikopf. Zur kurzen dunklen Stoffhose trug er Kniestrümpfe, die beim Gehen halb auf die Knöchel herunter gerutscht waren, und braune Sandaletten, deren Schnallen fürchterlich drückten. Am Hals baumelte eine neue Brottasche aus Leder, deren Riemen so lang war, dass sie ihm beim Gehen angenehm auf den Hosenschlitz klopfte. Auf dem Rücken prangte stolz sein Ranzen, ebenfalls neu und aus Leder. Das frohe Lächeln, das sein Gesicht von einem Ohr zum andern schmückte, rührte aber von der winzigen mit Bonbon gefüllten Schultüte her, die er eben von Frau Neels geschenkt bekommen hatte. Seine Mutter stand in Holzpantoffeln und Schürze neben ihm. Sie hatte extra für diese Aufnahme dem häuslichen Herd für kurze Zeit den Rücken gekehrt. Auch sie schaute in den Fotoapparat, aber ohne zu lächeln. Ihr Rücken zeigte zum Großen See, der aber nicht mit aufs kleine Foto passte. Dafür schickte er einen leichten Wind, der etwas Schwung in Mutters Kleid und Schürze brachte und sie gegen die große Schultüte drückte, die sie mit beiden Händen am oberen Rand festhielt. Die Schultüte reichte Gerdchen bis an die Schulter, ihre Spitze steckte vor ihr zwischen den Pflastersteinen. Es hatte einige Mühe gekostet, sie wenigstens annähernd zu füllen. Sie war Gerdchen in der Schule überreicht worden, einem großen, amtlich wirkenden Backsteingebäude am anderen Ende des Dorfes. Obwohl er lächelte, glaubte er in seinem Innersten ganz fest, dass die beiden Schultüten die einzig angenehme Seite dieser Schule bleiben werde. Den Kummer konnte er schon riechen. Neben den neuen Büchern fürchtete er vor allem die großen Jungs. Ihnen würde er auf dem Schulhof nicht aus dem Wege gehen können. Er schämte sich. Schon seit Tagen hänselten sie ihn mit ein und derselben Frage, die sie ihm von Weitem entgegenriefen, sobald er sich zeigte.
Den Hintergrund des Fotos nahm ein Teil des großen Neelsschen Wohnhauses aus roten Ziegelsteinen ein. Der zur Straße weisende Giebel zeigte noch alten Putz und die Drahtverspannung, an dem in besseren Zeiten Weinreben dem Licht entgegen gerankt waren. Da die vordere Hausecke bis ans Straßenpflaster heranreichte, war sie durch einen großen Steinblock geschützt. Von der Vorderfront des Hauses würde man nur einen Teil des Feldsteinsockels und zwei Fenster sehen. Frau Neels, von der Gerdchen wie gesagt die kleine Schultüte bekommen hatte, stand mit ihrer Tochter davor. Ein Huhn und ein Fleck des bedeckten Himmels über Mutters Kopf würden auch mit aufs Foto kommen, das war alles. Es klickte.
Unsere Geschichte, die sich um den kleinen Gerdchen dreht, wie der Leser sicher schon bemerkt haben wird, trug sich im Jahre sechsundfünfzig in einem Dorfe namens Fürstenwerder genauso zu, wie sie hier geschildert wird. Fürstenwerder liegt eingebettet in eine malerische Endmoränenlandschaft am Rande der Uckermark, zwischen dem Großen See und dem Damm-See. Von der einst wehrhaften Stadtmauer sind noch heute kümmerliche Reste zu bewundern und von den ursprünglich drei Toren das westliche Woldegker und das südliche Feldberger Tor. Gerdchen wohnte außerhalb der Stadtmauer in einem Haus am Großen See. Wollte er ins Dorf, führte ihn der Weg durchs Woldegker Tor. Hier unten gab es nur drei Grundstücke. Das Neelssche Gehöft war davon das größte. Eine Feldsteinmauer grenzte es zur Straße hin ab. Hinein führten zwei Einfahrten. Vor dem Wohnhaus lag ein kleiner Garten. In ihm standen verschiedene Obstbäume und ein geheimnisvoller, mit Efeu überwucherter Geräteschuppen, der immer verschlossen war.
Reini, der auf diesem Gehöft seiner Großeltern lebte und bester Freund unseres Helden war, saß ungeduldig vor der Haustür auf der Treppe. Die langen Stufen aus behauenem Granit, denen noch der Donner des letzten Krieges in den Fugen steckte, kühlten dabei sein Gemüt. Schon seit dem Mittag wartete er darauf, dass Gerdchen endlich raus komme und über die Einschulung Bericht erstatte. Reini war nicht annähernd so blond, das machte aber nichts. Dass er ein ganzes Jahr älter und darum mindestens einen halben Kopf größer war, gab Gerdchen Anlass zu allerlei Grübeleien. Reini stand auf, ging vor zur Straße und kletterte dort auf die Feldsteinmauer, deren ursprüngliche Robustheit auch schon lange verschwunden war, ließ die Beine baumeln und blinzelte nun seinem Freund entgegen, der eben auf der anderen Straßenseite durch die Hofpforte des Nachbargrundstückes geschlendert kam. Sie strahlten einander entgegen, als hätten sie sich Ewigkeiten nicht gesehen und was so gut wie eine Begrüßung war.
„Oh Scheiße, die Hühner!", rief Reini.
Gerdchen hatte wieder die Tür offen gelassen, obwohl er bereits mehrmals deswegen Ärger mit der alten Parlow hatte. Gemeinsam scheuchten sie mit lautem Händeklatschen die Hühner in den Hof zurück. Zum Glück waren nur wenige schlau genug gewesen, die Chance einer Horizonterweiterung zu nutzten. Sie versperrten sorgfältig die Tür und zogen sich vorsichtshalber zurück, noch bevor jemand nach ihnen rufen konnte, der vielleicht irgendeine Arbeit für sie hatte. Die Stallungen des Neelsschen Gehöfts, in denen längst nicht mehr überall Vieh stand, und die Böden darüber, in denen Stroh und Heu für die damals noch strengen Winter gelagert wurden, aber auch Getreide zum Trocknen ausgebreitet lag, boten den beiden abenteuerlustigen Jungen das idealste Rückzugsgebiet. Dazu gehörte natürlich auch die alte Fachwerkscheune. Wegen des Geländeanstiegs lag sie zwei Meter höher als die Jauchegrube im großen Hof. An verschiedenen Stellen waren bereits die Lehmziegel herausgefallen. Reinis Opa besaß selbstverständlich andere Vorstellungen davon, was ein Spielplatz für kleine Jungen war. Er glaubte ohnehin nicht an die Notwendigkeit des Spielens, sondern nur an die des Arbeitens. Sie mussten sich eben in acht nehmen, was aber wegen seiner geschwächten Gesundheit kein größeres Problem darstellte. Seine asthmatische Lunge kündigte ihn rechtzeitig an.
Sie betraten die Scheune durch eine leicht zu bewältigende kleine Tür auf der hofabgewandten Seite. Der Tennenboden aus gestampftem Lehm war durch reihenweise angeordnete kleinere und größere Löcher ganz narbig. Die Regentropfen, die überall durchs morsche Dach dringen konnten, hatten sie ausgewaschen. In beiden Giebeln befand sich ein großes hölzernes Tor, wovon eines zur Straße wies. Vor dem gegenüber befindlichen, welches ebenfalls von außen durch ein Vorhängeschloss gesichert war, lagen zwei geschorene Schafe mit aufgeblähtem Bauch. Die Köpfe lagen traurig auf der Seite. Es waren welke, trockene Augen, auf die die Knaben schauten. Aus jedem Maul hing die Zunge weit heraus, und obwohl die Tiere unzweifelhaft tot waren, mausetot sogar, schienen sie sich dennoch hin und her zu bewegen, als lecke jedes Schaf ein letztes Mal Salz vom Boden auf. Aus den aufgerissenen Mäulern purzelten weiße Maden. Die beiden Kadaver schienen für jede Untersuchung dankbar zu sein, die ihnen für einige Augenblicke die Schwärme grünlich und schwarz glänzender Brummer und Fliegen vom Leibe fernhielt. Unsere jungen Forscher, die in ihrem kurzen Leben schon ganz andere Fälle zu bearbeiten hatten, machten sich sofort an die Arbeit. Nicht alle Tage bekamen sie schließlich Untersuchungsobjekte, die so willig stillhielten, wie diese beiden, die hier auf ihren Abdecker warteten, der eines Tages mit einem grässlich stinkenden Lkw kommen und sie zu den anderen toten Tieren auf die Ladefläche zerren würde. Aus hygienischen Gründen hielten sie sich mit der einen Hand die Nase zu, während sie eine Weile mit dem Stock, den sie in der anderen hielten, an allen möglichen und unmöglichen, aber deswegen um so interessanteren Stellen der toten Schafe herumstocherten. Aber bald verloren sie die Lust am toten Fleisch. Wenn es wenigstens einmal gezappelt oder geblökt hätte. Sie ließen die Instrumente in den Patienten stecken und erkletterten den Sims, der rings um alle Innenwände der Scheune führte. Das war nicht ungefährlich, denn der Sims war selbst für kleine Füße sehr schmal, mindestens doppelt so hoch wie Gerdchen und bröckelte an manchen Stellen ab, auch wenn sie noch so vorsichtig darüber schlichen. Den Rücken dicht an die Wand gepresst, tasteten sie sich seitlich Schritt für Schritt voran. In der Rückseite der Scheune klaffte ein Loch. Sie schlüpften hindurch und gelangten auf den dahinter liegenden ersten Heuboden, der gut gefüllt war. Im Heu ließ es sich herrlich herumtoben, vorausgesetzt der Opa war nicht zufällig im Stall darunter, denn an den Ohren hatte er leider nichts. Und es roch so gut. Besser als auf der Tenne. Sie erklommen einen Querbalken und hopsten einer nach dem anderen, der kleinere immer voran, ins weiche Heu. Bei jedem Sprung lachten und jaulten sie, den Alten ganz vergessend. Das Hemd klebte ihnen am ganzen Körper. Sie schossen Purzelbaum und bewarfen sich mit Heu, bis sie auch davon genug hatten, weil der Staub allzu sehr in den Nasen kribbelte. Hier hatten sie oft friedlich beieinandergelegen und sich Witze erzählt, natürlich solche, die Erwachsenen nicht hören durften. Hier hätten sie ungestört Doktor spielen können, aber nur einmal hatte sich Reini, der sonst bei allem Quatsch mitmachte, dazu verleiten lassen. Ein zweiter Versuch war an seinem Desinteresse gescheitert.
Lange hielten sie es auch hier nicht aus, denn es war, obgleich die Sonne nicht direkt vom Himmel schien, ziemlich warm unter dem schwarzen Pappdach. Sie kletterten zurück und liefen die Straße zum Großen See hinab, wo sie am Ufer auf Herbert trafen, der mit kleinen Steinen auf die weißen Enten zielte, die im flachen Wasser schwammen. Herbert war der erste Sohn des Schäfers, der bei Reinis Oma zur Untermiete wohnte, ging noch nicht zur Schule und war darum einen halben Kopf kleiner als Gerdchen. Der nutzte diesen nicht zu übersehenden Umstand genüsslich dazu aus, dem kleineren Freund Befehle zu erteilen, die der nur annahm, weil er immer dann stotterte, wenn er sich dagegen zu wehren versuchte. Reini ließ sich bedauerlicherweise nichts befehlen. Das Ufer war matschig. Bei jedem Schritt traten sie in die dunkelgrüne Kacke der vielen Enten und Gänse, die überall Löcher schnatterten. Im Ufergras wuchsen Inseln wilder Kamille, die die Luft mit ihrem Aroma erfüllte. Hier waren keine Kiesel zu finden. Wollten auch sie damit werfen, mussten sie dahin zurückgehen, wo das Straßenpflaster begann. Reini und Gerdchen sammelten jeweils eine Handvoll zusammen und taten es Herbert gleich. Platschend schlugen die Geschosse bedrohlich nah bei den Enten ins Wasser, die, nicht schlauer als die Hühner, gierig danach schnappten. Sie tauchten ihren Kopf ins Wasser und hinterließen, wie die Steine, nur flüchtige Ringe. Gerdchen verlor auch hieran rasch die Lust, denn durch ihr hin und her Gepaddel gaben die Viecher nur sehr unbefriedigende Ziele ab. Und außerdem würde er mit seiner Mutter Ärger bekommen, wenn er wieder mit durchnässten Kniestrümpfen nach Hause käme.
Oben auf der Straße ging Norbert vorbei, ein Junge von dreizehn Jahren, der schon lange Hosen trug. Er zog einen kleinen Handwagen hinter sich her, dessen Räder geräuschvoll über das runde Kopfsteinpflaster holperten. Norbert gehörte in das Haus, welches dem Großen See am nächsten stand. Zudem war es höher als alle anderen. Norbert wohnte ganz oben. Seiner Familie gehörte das Haus. Ihre Wohnung, die aus unzähligen Zimmern zu bestehen schien, betrat Gerdchen stets mit großer Ehrfurcht und Staunen. Die Einrichtung war alt und vornehm. Ein riesiger, schwarz lackierter Flügel, unübersehbarer Blickfang in der guten Stube, und die schweren Möbel strahlten etwas Unbekanntes aus, das er von zu Hause nicht kannte. Große Palmen, die in blank polierten Kübeln wuchsen, Jagdtrophäen afrikanischer Tiere an den Wänden, darunter gedrehtes Antilopengehörn, tiefschwarz, lang und spitz, und riesige Schildkrötenpanzer, die überall in den Ecken standen und auf denen Gerdchen zuweilen sitzen durfte, erzeugten eine geheimnisvolle Exotik.
Die drei Knaben rannten nacheinander zur Straße hoch und umringten Norbert mit seinem Wagen. Sie brauchten ihn nicht lange zu bedrängen, denn er war den kleineren gegenüber schon immer gut gewesen. Er öffnete bereitwillig die Spannkette, zog die Vorder- und Rückwand heraus und stellte sie innen an die Seitenwände. Nur so hatten die drei Jungen auf der kurzen Ladefläche annähernd Platz. Reini beanspruchte als der größere von ihnen den besten Platz, also gleich hinter der Deichsel, wo er seine langen Beine ungehindert nach vorn ausstrecken konnte. Der kleine Herbert wurde in ihre Mitte gequetscht. Sobald alle saßen, ließ Reini über ihren Köpfen seine unsichtbare Peitsche knallen.
„Hü, hü!", rief der Kutscher laut und forderte das Pferd zum Anziehen auf. Es parierte spontaner und kraftvoller als erwartet. Die Vorderräder des leichten Wagens schossen in die Höhe und sausten nach vorn durch die Luft. Noch bevor sie wieder Bodenberührung bekamen, hatte Gerdchen, der mit angewinkelten Beinen und wenig Halt im Fond saß, nicht nur das Gleichgewicht, sondern auch seinen Platz im Wagen verloren. Infolge des verunglückten Saltos rückwärts schlug sein Hinterkopf ziemlich unsanft aufs warme Pflaster. Dort blieb Gerdchen solange ruhig liegen, bis sein Verlust grölend bemerkt wurde. Dann herrschte verunsichertes Schweigen, gefolgt von angstvollem Gebrüll. Zuerst lief Oma Neels herbei, dann Elfi, Gerdchens große Schwester, seine Mutter und nach und nach alle anderen Anwohner, die abkömmlich waren. Zuletzt Schwester Irmgard, Gemeindeschwester des Dorfes. Sie war eilends herbeigeschafft worden, um eine behördliche Bestandsaufnahme des Schadens durchzuführen. Sie hatte keine Mühe, die Umstehenden zu beruhigen und den todbleichen Gerdchen zu trösten. Weit schwieriger war es, an die stark blutende Wunde heranzukommen. Von den anderen Jungs wegen seiner Verletzung bewundert, aber von seiner Mutter festgehalten, versuchte der Schwerverletzte Schwester Irmgard, aber vor allem die Schere in ihrer Hand, auf gebührenden Abstand zu halten. Je mehr sie beteuerte, sie werde ihm nicht wehtun, sie wolle lediglich ein paar von den blutverkrusteten Haaren wegschneiden, damit sie ein Pflaster über das Loch heften könne, desto lauter schrie und zappelte er. Erst als seine Mutter ein an seinen Hintern gerichtetes Machtwort sprach, ließ er die kalte Schere der geduldigen Frau Zimmermann an sich heran. Die Wunde war rasch versorgt, denn sie tat wirklich nur das, was sie versprochen hatte. Größerer Aufwand war trotz des vielen Blutes nicht nötig. Und es hatte überhaupt nicht wehgetan. Schon bald würde er vergessen, dass angetrocknetes Blut und ein Pflaster seinen Hinterkopf zierten.
„Nächsten Sonntag fahren wir zusammen Boot", hatte Norbert, dem der Sturz nicht weniger wehgetan hatte, versöhnlich und unter Zeugen angeboten.
„Versprochen?"
„Versprochen ist versprochen."
Gerdchen wusste, dass am Ende des Bootssteges, der sich hinter dem großen Haus durchs Schilf ins Offene drängte, mehrere Ruderkähne im Wasser dümpelten, die nicht nur am Bug, sondern auch am Heck mit einer stabilen Kette gesichert waren. Da weder Reinis noch Gerdchens Familie ein Boot besaß, war die Aussicht auf eine Ruderpartie schon etwas ganz Besonderes und es würde ratsam sein, so dachte Gerdchen, die Zeit bis dahin zu nutzen, Norbert regelmäßig an sein Versprechen zu erinnern. Er tat es bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Endlich war der ersehnte Tag heran. Norbert verschwand im dunklen Geräteschuppen, hinter dem die Beeke Wasser aus dem Großen See zum Damm-See führte. Als er wieder herauskam, trug er in der einen Hand die beiden Riemen, in der anderen die Dollen. Gerdchen hatte seine beiden Freunde, die an der Schiffsreise teilhaben sollten, zusammengetrommelt. Erwartungsvoll liefen sie Norbert auf dem Weg zum Bootssteg nach. Das Grundstück der Kapings, das vom Großen See, der Beeke und der hier endenden Straße umschlossen wurde, besaß einen direkten Zugang zum Seeufer. Das Schilfrohr wuchs hier besonders üppig. Links neben dem Schuppen standen mehrere aus alten Abfallbrettern zusammengezimmerte Buchten. Die Türrahmen waren mit dünnem Maschendraht bespannt. Mehr oder weniger ordentlich neben- und übereinandergestapelt beherbergten sie ein oder mehrere Kaninchen. Als die Jungs vorbeigingen, drückten die Langohren auf Futter hoffend ihre Nasen schnuppernd an den Maschendraht. Während die anderen bereits auf dem Steg warteten, trödelte der kleine Herbert noch immer vor den Kaninchenbuchten herum. Er bohrte einen Zeigefinger durch den Draht einer Tür und flüsterte: „Komm, komm!" Statt beherzt hineinzubeißen, flüchtete der eingesperrte Bock an die Rückwand seines Käfigs und schlug mit den Hinterläufen kräftig auf den Rosinenberg. Derweil kletterten Gerdchen und Reini an Bord. Norbert steckte die Dollen in die Löcher des Bootes und legte die Riemen ein, die zum Schutz vor Abnutzung an der entsprechenden Stelle mit Leder beschlagen waren. Er kramte einen Schlüssel aus der Hosentasche hervor und öffnete das Schloss, welches die Bugkette mit einem Pfahl am Steg verband. Nachdem er Schloss und Kette unter den Bugsitz geworfen hatte, rief er Herbert: „Willst du nun mit oder nicht?" Der kam im Galopp und hopste im letzten Moment in den Kahn. Reini durfte die Heckkette lösen. Sie blieb am Pfahl hängen. Norbert stieß das Boot vom Steg ab, wartete einen Augenblick und begann dann zu rudern.
Das grüne Boot schwamm schon weit draußen als Norbert fragte: „Na, bist du nun zufrieden?" Er musste sich kräftig ins Zeug legen, denn der Kahn war ziemlich robust gebaut.
„Versprochen ist versprochen", wiederholte Gerdchen.
„Ja, das muss man dann auch halten", sagte Norbert zu Gerdchen. Dann wandte er sich an die anderen: „Ihr könnt das Wasser ausschöpfen, wenn ihr nicht wollt, dass wir wie die Ratten absaufen", und warf Reini und Herbert, die auf der Heckbank saßen, zwei alte verrostete Konservenbüchsen vor die Füße, in denen ausgetrocknete Regenwürmer klebten. Gehorsam hoben sie den Lattenrost hoch und kellten das darunter angesammelte Wasser über Bord. Norbert ruderte beharrlich weiter. Erst in Richtung Spitzenecken, dann am Zeesenwerder vorbei rüber zum Scheunenwerder. Herbert, der mit Gerdchen den Platz getauscht hatte, kniete vorne im Boot, spielte mit den Fingern im Wasser und gab keinen Mucks von sich.
Nach einer Weile des Schweigens begann Norbert vorsichtig: „Sag mal, Gerdchen, was ich dich schon lange fragen wollte, was war da eigentlich im Zelt los?"
Ach so ist das also mit der Bootsfahrt, dachte Gerdchen. Das musste ja kommen, hätte er sich denken können. Dieser blöde Kerl. Musste er hier und jetzt damit anfangen? Noch dazu in Reinis Beisein, der noch gar nichts davon wusste und auch nichts zu erfahren brauchte. Glaubte Norbert, dieser Blödmann, vielleicht, er würde ihm alles haarklein erzählen? Da hatte der sich ganz gehörig geschnitten. Scheiße war nur, dass er nicht wegkam, festsaß wie in einer Mausefalle. Es gab keine Möglichkeit, davonzulaufen.
„Nun sag‘s schon!", beharrte Norbert.
„Was für ein Zelt?", fragte Gerdchen. Um Zeit zu gewinnen.
„Stell dich nicht so an! Du weißt schon, was ich meine."
„Weiß ich nicht!" Wenn der nur sein Maul halten würde, dachte Gerdchen bitter. Reini kuckte auch schon ganz neugierig.
„Ist doch nicht schlimm, kannst uns doch ruhig sagen, was da gewesen ist."
„Wo?"
„Na, im Zelt. Tu nicht so." Norbert schien nicht gewillt, aufzugeben. Wieder und wieder hakte und bohrte er nach.
Gerdchen hingegen war nicht gewillt, klein beizugeben. Eher beiße ich mir die Zunge ab, dachte er. Nichts würde er erzählen, überhaupt nichts!
„Karl-Friedrich, warum zitterst du denn so? Das hast du doch gesagt oder nicht? Wir haben es ganz deutlich gehört." Norbert ruderte weiter.
„Ich will nach Hause!", sagte Gerdchen trotzig und blickte Hilfe suchend um sich. Aber es war niemand da, der ihn aus dieser verfahrenen Kiste hätte heraushelfen können. Ringsum nur Wasser und grünes Schilf, welches das Ufer der Halbinsel säumte, und die schwarzen Blesshühner und Taucher, die darin Zuflucht suchten. Könnte er es ihnen nur gleichtun. Ihm war zum Weinen zumute, die Tränen lagen bereits auf der Lauer. Er wandte sich ab, damit Norbert nicht sehen konnte, falls eine davon herauskullern sollte. Warum ließen sie ihn nicht in Ruhe? Würde das niemals aufhören? Überall, auf den Straßen im Dorf, auf dem Schulhof, am See, selbst hier, immer wenn er einem dieser blöden Kerle über den Weg lief, der gleiche verdammte Satz: „Karl-Friedrich, warum zitterst du denn so?" Hätte er nur seinen Mund gehalten! Aber was wäre dann geschehen? Womöglich noch Schlimmeres.
Norbert lachte und sagte: „Ist ja gut, ich höre schon auf." Er besaß genug Taktgefühl, um zu wissen, wann es besser war, aufzuhören.
Und Gerdchen war alt genug, schweigen zu können. Er hatte immer geschwiegen. Wie ein Grab oben auf dem Friedhofsberg. Nie wollte er auch nur ein Sterbenswörtchen verraten. Es war ihr Geheimnis und das sollte es auch bleiben. Gerdchen wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sein Freund Karl-Friedrich selbst brühwarm ausgeplaudert haben könnte. Nun spielte er ungewollt das hilflose Ziel des Spottes seiner Kumpane. So fürchterlich war er noch nie auf den Arm genommen und verlacht worden. Wie besengt war er davon gerannt, geflohen wie der Fuchs vor der Büchse des Jägers. Mit ihrem Gelächter in den Ohren, das noch lange nachschallte. Was, wenn seine Eltern Wind davon bekämen? Oder die alte Klassenlehrerin? Alles hatte ganz einfach begonnen und hätte so in alle Ewigkeit weitergehen können.
Erst hatte Gerdchens Vater in einer Tischlerei oben im Dorf eine Anstellung gefunden, dann war die Familie aus dem acht Kilometer entfernten Woldegk hierher umgesiedelt. Das geschah vor vier Jahren. Seither wohnten sie am See zur Untermiete. Seine Mutter, die gezwungen war, wie andere Frauen auch, etwas dazu zu verdienen, half während der Erntezeiten und wann immer Bedarf bestand, neben ihrem Haushalt und dem wenigen Vieh, was zu versorgen war, auf den Feldern eines Großbauern, dessen Hof innerhalb der Stadtmauer lag, nur wenige Schritte hinter dem Woldegker Tor. In den ersten Jahren musste Gerdchen während dieser Zeiten in den Kindergarten, was ihn nur wenig behagte, weil er dort wegen einer dummen Angewohnheit der Tante des Öfteren mit dem Gesicht zur Wand in einer Zimmerecke stehen musste. Später durfte er dann mit aufs Feld hinausfahren. Das war was! Darauf konnte er sich freuen. Zum Glück war er noch zu klein, um mit anpacken zu müssen. Schon allein die Fahrt lohnte sich, mitzumachen. Fuhr der Bauer zum Heumachen hinaus, dann wurden die Pferde, es waren schwere und große Tiere mit langem Schweif, vor einen Leiterwagen gespannt. Sonst zogen sie einen einfachen Gummiwagen, auf dessen Ladefläche mehrere Bänke gestellt waren. Die Frauen, in Arbeitskitteln und mit Kopftüchern geschmückt, die sich morgens auf dem Hof des Bauern versammelt hatten, kletterten auf den Wagen. Sobald auch Gerdchen hinauf gehoben war, ging die Kutschfahrt los. Den Frauen war es weitaus lieber auf Bänken zu sitzen, als die Beine durch die Sprossen des Leiterwagens stecken zu müssen. Es war herrlich, oben auf dem Wagen zu sitzen, vielleicht sogar vorne neben dem Bauern, der ein kleiner, unscheinbarer Mann war, den Geruch der Pferde in sich aufzunehmen, durchs Dorf zu fahren und sich von den anderen Kindern neidvoll bewundern zu lassen. Auf dem Feld oder der Wiese, je nachdem wo es hingegangen war, empfand es Gerdchen dann eher langweilig. Die Frauen hatten keine Zeit für ihn, denn sie sollten arbeiten. Er musste sich selbst beschäftigen, da andere Buben fast nie mitkamen.
Das beste an diesen Ausflügen waren mit Abstand die dick belegten Bauernstullen zur Mittagszeit, die in einem großen Weidenkorb hinaus gebracht wurden und im Gras sitzend mit Heißhunger verzehrt wurden, und das gemeinsame Abendessen in der großen Bauernküche nach der Heimfahrt, an dem unverständlicherweise nicht alle Frauen teilnahmen. Gerdchen und seine Mutter blieben immer, was vielleicht mit der Tatsache zusammenhing, dass der Vater Handwerker war. Die Bäuerin, eine herzensgute Frau, hatte den ausladenden Tisch mit Mengen von Leckerbissen gedeckt, von denen Gerdchen sonst nur träumen konnte. Da standen gekochte Eier, unter einem wollenen Tuch warmgehalten, Gläser mit duftender Leberwurst, armdicke Mettwürste, die verlockend nach Rauch schnupperten, richtige Butter, die sie selbst gebuttert hatte, und sogar ein angeschnittener Schinken, aus dem der Knochen ragte. Auf dem gewaltigen Herd hielt sie herrliche Bratkartoffeln bereit, deren Aroma nicht nur die ganze Küche, sondern auch den halben Hof erfüllte. Wer wollte, konnte auch Kartoffelsalat oder Milchsuppe bekommen. Hier aß Gerdchen von allem, selbst von der Leberwurst. Es gab nichts, was er verschmähte. Nach einem langen Tag an der frischen Luft und in Gesellschaft der anderen wäre es geradezu unnatürlich, wollte er nicht einen unbändigen Appetit verspüren. Auch zu Hause musste er nicht hungern, aber solch ein märchenhaftes Tischleindeckdich hatten seine Eltern nicht, obwohl der Vater Tischler war. Seine Mutter konnte nur nicht auf eine ebenso prall gefüllte Speise- und Räucherkammer zurückgreifen. Sparsam wirtschaften war angesagt. Dazu gehörte dann auch, dass klein Gerdchen die Wrukensuppe zum Abendbrot aufgewärmt bekam, die er mittags mit langem Gesicht hatte stehen lassen. Das nannte er dann ein gewaltiges Unglück.
Das größte Abenteuer blieb der Bauernhof selber. Er nahm die ganze Breite zwischen der nördlichen Stadtmauer und der wesentlich höher gelegenen Hauptstraße des Dorfes ein. Prunkstück und unübersehbarer Mittelpunkt des abschüssigen Hofes, den man von der Straße her über eine gepflasterte Zufahrt und durch einen massiven Torweg erreichte, war der riesige, mit viel Liebe gepflegte Misthaufen, um den sich alles drehte, das wirtschaftliche Zentrum sozusagen. Er war quadratisch angelegt und ruhte still auf einer undurchlässigen Wanne aus Vorkriegsbeton. Seine Seiten verjüngten sich nach oben als wolle sich der Bauer eine Pyramide aus Kuhscheiße errichten. Ihre derzeitige Höhe war bereits für den kleinen Gerdchen nicht mehr überschaubar. Eine provisorische Rampe aus schwankenden Holzbohlen führte hinauf. Die Stallungen befanden sich praktischerweise ebenerdig, und zwar für die permanent quiekenden Schweine auf der West-, für die Kühe und die vier Pferde auf der Nord- und für die Schafe und Ziegen auf der Ostseite. Ein Furcht einflößender Puter herrschte nicht nur über seine Handvoll Hennen, sondern auch über den ganzen Hof samt Misthaufen. Wenige Meter oberhalb der noch unvollendeten Mistpyramide befand sich gemäß einer uralten uckermärkischen Tradition der Brunnen für die Wasserpumpe und unweit davon der Eingang zur paradiesischen Küche. Darüber lagen ehemalige Vorratsräume, in denen sich der Bauer mit seiner Familie behelfsweise wohnlich einrichten musste, da das Wohnhaus, welches unmittelbar an der Straße gestanden hatte, einer Fliegerbombe im Wege war. Über den Stallungen gab es weitere Lagerräume sowie Heu- und Strohböden. Der Getreidespeicher war Tummelplatz aller Hofkatzen, die ihre Haufen mit Vorliebe in dem Korn vergruben, das hier zum Trocknen ausgebreitet lag. Unter der Traufe der flachen Teerdächer klebten überall Schwalbennester, sogar unter die Kuhstalldecke hatten die Schwalben ihre kleinen Festungen angebracht. Die Schar Hühner besaß zusammen mit den Flugenten, denen ein Flügel gestutzt war, hinter den Stallungen einen eigenen Geflügelhof. Daneben gab es einen kleinen Gemüse- und Kräutergarten, in dem wie üblich verschiedene Obstbäume standen.
Dem Bauer standen bei der Arbeit mehrere Söhne zur Seite. Der Jüngste davon hatte eben die Schule beendet. Er versorgte mit seinen vierzehn Jahren vorwiegend den Hof. Bald bestand zwischen ihm, er hieß Karl-Friedrich, und Gerdchen eine innige Freundschaft. Das bescherte Gerdchen nicht nur einen fast uneingeschränkten Zugang zu allen Stallungen, sondern auch so manches freie Abendessen, ohne sich vorher den Strapazen eines langweiligen Feldaufenthaltes aussetzen zu müssen. Auf die erbaulichen Kutschfahrten brauchte er dennoch nicht verzichten. Auf dem Hof gab es Ecken und Kanten, die düster und muffig waren, Kühe und Pferde, die ihm zu groß und gefährlich schienen, dass Gerdchen sich trotz seiner Abenteuerlust nicht getraute, überall allein hineinzukriechen. Karl-Friedrichs Rockzipfel in Reichweite war ihm lieber. In dessen Nähe fühlte er sich sicher. Außer bei den Kühen, die sich mit ihrer langen muskulösen Zunge ständig in der Nase bohrten, ohne, dass irgendjemand etwas dagegen einzuwenden hatte. Mit den großen Glasmurmelaugen sahen sie ihn zwar liebevoll an, kamen aber mit dem feuchten schwarzen Maul bedrohlich nahe. Die Pferde waren ebenso hinterhältig. Sie schlugen nach hinten aus, grundlos und ohne Vorwarnung. Besonders wenn sich Gerdchen auf Indianerweise anschlich. Drum beobachtete er den Wallach vorsichtshalber von der Tür aus.
In diesem Sommer hatte es den kleinen Jungen oft zu Karl-Friedrich auf den Hof gezogen, öfter als in den Wochen davor, denn er half ihm gern beim Füttern, so gut er es vermochte, oder stand ihm wenigstens dabei im Wege. Karl-Friedrich hatte große Geduld mit ihm. Und außerdem hatte Karl-Friedrich ein neues Spiel erfunden und mit ihm gespielt.
„Komm, wir gehen runter in den Keller", sagte der eines Tages.
Karl-Friedrich hatte in jeder Hand eine große Kiepe aus Weidengeflecht, Gerdchen bekam einen leichteren Drahtkorb. Karl-Friedrich öffnete vor dem Schweinestall die beiden schweren Flügel einer Falltür, hinter der eine Steintreppe sichtbar wurde, die zu einem Gewölbe hinab führte, stieg hinunter, betätigte auf halber Höhe einen Lichtschalter und verschwand unter dem Tonnengewölbe. Gerdchen stand noch immer staunend auf der ersten Stufe und blickte ihm nach.
„Kommst du nicht?", hörte Gerdchen aus der Tiefe des Gewölbes eine fremde Stimme rufen.
Noch nie hatte er ein Abenteuer ausgeschlagen, aber dieser Gang hinab in die Finsternis sah unheimlich aus. Den Griff des Korbes fest umklammert, stieg er dem Rufer vorsichtig nach. Mit jeder Stufe wurde es feuchter und kühler, dann dämmrig und immer gruseliger. Das kleine Herz in seiner Brust begann zu hämmern. Plötzlich flatterte irgendwas über ihn hinweg ins Freie. Ruckartig zog er seinen Kopf zwischen die Schultern. „Wo bist du?", rief er ängstlich ins Labyrinth hinein. „Ich kann dich nicht sehen!" Von der Decke hingen graue Staubfäden, die im Luftzug spielten. In den Fugen hatte sich stellenweise der Mörtel gelöst und war zu Boden gefallen. An den Wänden krabbelten Spinnen mit überlangen Beinen.
„Hier hinten!" schallte es von irgendwo.
Aber wo war hier hinten?
„Den Gang immer geradeaus!"
Gerdchen wagte sich nur Schritt für Schritt tiefer in den Keller vor, bis er endlich seinen Karl-Friedrich gefunden hatte. So schlimm war es eigentlich gar nicht. Aber würde er hier alleine wieder herausfinden? Karl-Friedrich hatte unterdessen begonnen, mit einem alten, spitz zulaufenden Schlachtermesser Runkeln zu putzen, die er dann in eine Kiepe warf. Die erste war bereits bis zum Rand gefüllt.
„Da ist noch ein Messer!", sagte er.
Gerdchen nahm es in die Hand und hockte sich an den Rand des Runkelberges, der fast bis zur Decke reichte, und fischte die größte heraus, die er sehen konnte. Erst schabte er die feuchte Erde ab, um dann die behaarte Wurzelspitze wegzuschneiden, ganz so, wie er es Karl-Friedrich hatte tun sehen. Er zerrte das schwere Ding in seinen Korb, der kaum mehr fassen konnte als die eine.
„Ist das so richtig?", fragte er.
„Ja. Aber musst du unbedingt die größte nehmen?", antwortete Karl-Friedrich, warf eine weitere Runkel in die Kiepe und kratzte sich dann mit den schmutzigen Fingern am Hosenschlitz, wo sie deutlich sichtbare Spuren hinterließen.
„Das geht doch dann viel schneller", rechtfertigte sich der Kleine und beobachtete Karl-Friedrich. „Na gut, dann nehme ich eben kleinere, wenn du willst", sagte er. Die großen waren ihm sowieso zu schwer. Hätte er geahnt, dass eine lumpige Runkel ein derartiges Gewicht erreichen konnte, hätte er ohnehin die Finger davon gelassen. Die nächsten tat er mit in die zweite Kiepe. Sie überschritten nur unwesentlich die Größe von Mohrrüben. Gerdchen war nicht mehr ganz bei der Sache. Für das leidige Runkelputzen, das in Arbeit auszuarten drohte, hatte er nur noch ein Auge übrig, das andere brauchte er, um verstohlen auf Karl-Friedrichs Hosenstall zu schielen. Wieso fummelt der sich laufend daran herum, fragte er sich. Und wo kam plötzlich die Beule her? Als sie mit den Rüben fertig waren, nahm Karl-Friedrich den Besen, der an der Wand lehnte, und fegte den Dreck auf einen bereits vorhandenen Haufen. Dann fasste er die Kiepe beim Griff und wuchtete sie sich auf den Rücken. Tief gebeugt trug er die Last hinaus. Gefolgt von Gerdchen, der an seinem Korb derart schwer zu schleppen hatte, dass er nur mit Mühe den Anschluss halten konnte, aber auf keinen Fall allein in diesem Runkelbergwerk zurückbleiben wollte. Wieder oben, trugen sie die Runkeln gleich in die Futterküche, wo an der Wand ein eiserner Apparat mit einem Trichter und einem großen Kurbelrad stand. Gerdchen durfte die sauberen Runkeln nacheinander in den Trichter werfen, währenddessen Karl-Friedrich die Kurbel drehte. Es entstanden ein schmatzendes Geräusch und kleine Runkelschnitzel, die aus dem Apparat unten herausfielen. Das Drehen war so schwer, dass Karl-Friedrich, von kräftiger Statur, die Kurbel mit beiden Händen fassen musste. So fand er keine Gelegenheit, sich am Hosenschlitz zu kratzen. Selbst die Beule, die er solange gehegt und gepflegt hatte, war dieser Anstrengung gewichen.
Die Verantwortung über den Hof erfüllte Karl-Friedrich mit berechtigtem Stolz. Die Aufgaben aber, und es waren derer sehr viele, die damit verbunden waren, hielten beide zwar für notwendig, waren ihnen aber einigermaßen lästig. Trotzdem fanden sie ausreichend Zeit, herumzualbern und einander zu necken, denn sie waren oft ganz allein auf dem Hof, wenn alle anderen draußen auf den Feldern waren. Dies war es ja, was für den Kleinen den eigentlichen Reiz des Zusammenseins mit dem soviel älteren Karl-Friedrich ausmachte. Aber auch dem Älteren war die Anwesenheit des Jüngeren nicht unangenehm.
Sie gingen in den Kuhstall. Mit einer breiten Forke hob Karl-Friedrich flaschengrüne Kuhscheiße vom Boden auf, sie war von den Hinterbeinen der unruhigen Viecher gleichmäßig durchgeknetet, und rannte damit hinter Gerdchen her. Der hatte geahnt, was ihm bevorsteht, und war deswegen längst auf den Hof hinaus geflüchtet. Natürlich befand er sich nicht ernsthaft in Gefahr. Solche Attacken gehörten einfach zum Hofalltag dazu. Und er liebte es, sich jagen und fangen zu lassen. Besonders wenn niemand weiter da war. Karl-Friedrich streute frisches Stroh unter die Hufe, welches er durch eine Luke in der Stalldecke gestoßen hatte. Damit fertig, fegte er den langen, breiten Futtertrog aus, in dem man bequem hin und her gehen konnte, um frisches Leitungswasser hineinzulassen. Die Achse des rotbraunen Troges zeigte zum Hof und reichte von einer Stallwand zur anderen. Sie teilte den Kuhstall in zwei separate Abteilungen, weswegen er für die Kühe zwei Zugänge haben musste. An der Hofseite spendeten mehrere Fenster Tageslicht. Sie waren aufgeklappt, damit die Schwalben ein und aus fliegen konnten. Unter den Fenstern führte eine Treppe über den Trog hinweg von der einen Stallseite zur anderen. Schon mehrmals hatte Karl-Friedrich versucht, Gerdchen in diesen Trog zu locken, über dem die Krippe hing und der ständig voller Kuhköpfe war. „Die tun dir nichts!", hatte Karl-Friedrich zwar immer wieder behauptet, aber die Sache war Gerdchen nicht geheuer. Wenn den Kühen auch eine gewisse Blödheit nachgesagt wurde, so blöd, ihn in Frieden zu lassen, waren sie ganz sicher nicht. Er sah doch, wie sie Karl-Friedrich mit gieriger Zunge die Stiefel beleckten. Wie sie ihn mit den großen, glänzenden Augen anblinzelten und die gebogenen Hörner schüttelten, das verriet nichts Gutes. Schon über die Treppe von einer Seite zur anderen zu steigen, erforderte seinen ganzen Mut. Und den sparte er sich für andere Sachen auf. War er aber erst einmal oben, weil sein großer Freund ihn abgeschirmt hatte, ließen sich wunderbar die Fliegen beobachten, die in den Spinnweben in den Fensterecken gefangen hingen. Musste er unbedingt auf die andere Seite, dann ging er lieber außen herum und durch den Pferdestall. Die Pferde standen tagsüber nur selten im Stall. Sie waren draußen bei der Arbeit. Auch für sie musste Karl-Friedrich das Futter vorbereiten.
„Los, jetzt geht‘s wieder nach oben!", verkündete Karl-Friedrich ein paar Tage später und zwinkerte Gerdchen grinsend zu.
Gerdchen wusste sofort Bescheid, was Karl-Friedrich meinte, und freute sich im Voraus. Er wartete, bis Karl-Friedrich die lange Leiter, die auf zwei eisernen Haken an der Stallwand hing, an die Bodenluke angestellt hatte, und kletterte dann als Erster hinauf zum Strohboden, wo sie schon in den vergangenen Tagen wie junge Hunde herumgetobt hatten. Es war nicht ungefährlich, hier zu spielen. Gerdchen musste bei den Verfolgungsjagden gehörig aufpassen, nicht durch eine offene Luke auf die Rindviecher hinabzustürzen. Zwischen den aufgestapelten Strohballen gab es gefährliche Spalten und Hohlräume, in die ein kleiner Junge wie er mühelos und unauffällig hineinrutschen konnte. Er wäre unauffindbar und müsste darin elend ersticken. Gerdchen bliebe für immer verschwunden. Das alles war freilich kein hinreichender Grund, nicht mit Karl-Friedrich auf dem Stroh herumzukrabbeln und sich mit ihm zu balgen. Die Gefahr steigerte nur noch den Reiz des Spieles. Aber bevor diesmal die wilde Jagd beginnen konnte, musste zuerst für die Pferde eine Portion Haferstroh, das separat gelagert war, gehäckselt werden. Der Häckselschneider stand in der Raummitte. Er besaß eine hölzerne Aufnahmevorrichtung, die wie ein Trog gearbeitet war und in die beinahe eine ganze Garbe von dem langen Haferstroh auf einmal hineingeschoben werden konnte. Durch Walzen wurde es zusammengepresst und zum Messer beförderten. Karl-Friedrich musste seine ganzer Körperkraft einsetzen, um ein Strohbund nach dem anderen in einen ansehnlichen Haufen kleiner Schnipsel zu verwandeln. Zum Glück war Karl-Friedrich nicht die arme Müllerstochter, aber das der blöde Apparat kein Spinnrad war, war echt schade. „Fertig!", sagte Karl-Friedrich, als ihm der Haufen groß genug erschien, und wischte sich mit einem Taschentuch von der Größe eines Tischtuches den Schweiß von der Stirn. Ein Rest Stroh blieb in der Maschine zurück. Kaum hatte Karl-Friedrich das Taschentuch weggesteckt, griff er mit beiden Händen nach Gerdchens Rippen. Der hatte schon darauf gewartet und sprang schnell nach rückwärts. Der Große setzte ihm zwar mit einem gewaltigen Satz nach, aber gerade nur soviel, dass Gerdchen eben noch laut kreischend entwischen konnte, und hetzte ihn dann mehrere Runden um die Häckselmaschine. Strohflocken stoben durch die Luft und der arme Häckselhaufen lief ernsthaft Gefahr, über den ganzen Boden verteilt zu werden.
„Ich krieg dich, ich krieg dich!", rief Karl-Friedrich hinter ihm.
„Na krieg mich doch", lachte Gerdchen und drehte weiter seine Runden. Aber so schnell würde Karl-Friedrich ihn nicht kriegen wollen, das wusste er. Auch wenn es mitunter so aussah, als greife er endgültig zu. Massenhaft aufgewirbelter Staub spielte im einfallenden Sonnenlicht. Gerdchen plagte sich, schnell genug voranzukommen, denn der strohbedeckte Boden war rutschig. Wie ein gehetzter Hase schlug er Haken und rannte zu den aufgestapelten Strohballen. Mit letzter Kraft gelang es ihm, sie halb zu erklimmen, wurde aber von Karl-Friedrich an den Hacken gepackt und zurückgezogen.
„Jetzt hab ich dich!" Karl-Friedrich warf sich über ihn und kitzelte seine Rippen.
Gerdchen strampelte mit Armen und Beinen und wehrte sich so gut er konnte. Während er genüsslich kreischte und sich unter Karl-Friedrich hin und her drehte, sammelte sich in seinem Mund soviel Stroh, dass er spucken musste. „Ich kriege keine Luft, ich ersticke!", stöhnte er schließlich, was natürlich arg übertrieben war. Aber auch das gehörte mit zum Spiel. Karl-Friedrich lockerte den Griff und gab ihn vorsichtig frei. Der Unterlegene hörte auf zu spucken, nutzte die wiedergewonnene Freiheit, um aufzuspringen und erneut die Strohballen hinauf zu klettern. Durch den gewährten Vorsprung erwischte ihn der andere diesmal erst oben. Wieder hatte der Jäger die Beute von hinten angefallen, sie erbarmungslos umklammert und fest an sich gedrückt. Gerdchen wehrte sich nur zum Schein. Er war ja nicht wirklich in Gefahr. Und wenn, dann hätte er gegen Karl-Friedrichs Muskeln, die er am ganzen Körper spürte, sowieso keine Chance gehabt. Er liebte es, von seinem Freund so umklammert zu werden und sich mit ihm im Stroh zu wälzen. Eng umfangen und lachend kullerten sie hinunter. Noch mehrere Male. Bis sie am Ende erschöpft und aufeinander unten liegen blieben. Gerdchen lag bequem auf Karl-Friedrichs Bauch. Beide japsten gleichermaßen nach Luft. Plötzlich spürte er unter sich, dort, wo Karl-Friedrich sonst immer die Beule bekam, ein vorsichtiges Klopfen. Er sah seinen Freund, der übers ganze Gesicht griente, in die funkelnden Augen. Karl-Friedrich hatte seine Hände über Gerdchens Pobacken zusammengefaltet und drückte ihn sanft gegen dieses harte Etwas, das in dem Kleinen ein komisches Gefühl auslöste. Es war aber nicht unangenehm und er hatte auch keine Angst davor. Und er war alt genug, um zu wissen, was sich da bewegte. Es war nur neu in ihrem Spiel. Sonst hatte Karl-Friedrich sofort zu spielen aufgehört und war mit seiner Beule allein davongegangen.
„Was ist das?", fragte Gerdchen scheinheilig.
„Rate doch einfach!"
„Weiß nicht."
„Kannst du mal hochkommen?", bat Karl-Friedrich, der seine Hände gelöst hatte. Er fasste Gerdchen bei den Schultern und dirigierte ihn so, dass der auf seinen Oberschenkeln zu sitzen kam, während er selber auf dem Rücken liegen blieb. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung knöpfte er sich dann den Schlitz der Arbeitshose auf und brachte seinen prallen Puller ans Tageslicht des Strohbodens.
Gerdchen war erstaunt über dieser Tollkühnheit. Er hätte sich das nie getraut. Wenn er mit Reini zusammen war, dann war das was anderes. Die kraftstrotzende Mächtigkeit dieses lebendigen Apparates beeindruckte ihn außerordentlich. Mit großen Augen bestaunte er diesen gerade gewachsenen Puller, der sich ihm mit weit aufgerissenem Maul entgegen reckte. So was hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Neugierig verfolgte er alle Bewegungen, die Karl-Friedrich machte, deren Sinn ihm aber fremd war. Den eigenen, der in nichts mit dem hier vergleichbar war, hatte er bisher immer nur zum Pullern benutzt. Karl-Friedrich hatte seinen mit der ganzen rechten Hand umfasst, die er auf und ab bewegte. Mal schneller, dann wieder langsamer. Dabei drehte sich sein Kopf von einer Seite zur anderen. Die Augen blieben entweder geschlossen oder schauten Gerdchen an, als suchten sie bei ihm Hilfe. Schließlich hörte er auf und stützte sich auf beide Ellenbogen.
„Willst du auch mal versuchen?", fragte er Gerdchen, der die Sache bisher schweigend aber sehr aufmerksam verfolgt hatte.
Gerdchen sagte nichts, nickte nur mit dem Kopf. Von irgendwelchen Hemmungen war er weit entfernt. Trotzdem verhielt er sich etwas zögerlich, wollte sich lieber noch einmal bitten lassen. Er sah dem unter ihm Liegenden abwartend in die Augen, bis der ein aufmunterndes Grunzen von sich gab.
„Hast du Angst?", fragte Karl-Friedrich.
Er schüttelte den Kopf. Beherzt umklammerte er mit seiner kleinen Hand Karl-Friedrichs großen Puller und machte genau die Bewegungen nach, die er vorher gesehen hatte. Es war das erste Mal. Und es hatte auch noch nicht soviel Spaß gemacht wie an den folgenden Tagen.
„Du kannst ruhig beide Hände dazu nehmen", ermutigte ihn Karl-Friedrich. „Und ein bisschen fester zudrücken, wenn es geht." Er schien das Spiel belustigt, aber auch befriedigt zu betrachten und schloss wieder die Augen.
Gerdchen nahm die linke Hand zu Hilfe und drückte fester zu. „So?", fragte er. Die bewegliche Haut flog hoch und runter. Sie verschluckte den strammen, glänzenden Kopf des Pullers und gab ihn wieder frei.
„Ja, so ist es gut", hauchte Karl-Friedrich kaum hörbar. „Nicht aufhören!"
Gerdchen rubbelte weiter, er hörte nicht auf. Aber ihm dämmerte, dass anscheinend jedes Vergnügen irgendwann in Arbeit umzuschlagen schien. „Ist jetzt genug?", fragte er deshalb. „Ich kann nicht mehr. Und außerdem kuckt der blöde Spatz die ganze Zeit zu."
„Welchen Spatz meinst du?"
„Na, den da oben, auf dem Balken über dir."
„Der tut dir nichts. Mach bitte weiter!"
„Noch lange?", stöhnte Gerdchen erschöpft.
„Gleich! Bisschen noch", bat der Große flehentlich.
„Na, wann denn?" Runkeln zu putzen, war ja schon anstrengend, aber dies erstmal!
„Wirst schon merken!"
„Woran soll ich das merken?"
„Gleich. Gleich kommt es!"
„Was kommt?", fragte Gerdchen verwundert. Er hatte jedenfalls nichts gehört.
„Wirst schon sehen", sagte Karl-Friedrich. Plötzlich rief unten im Hof jemand seinen Namen. „Scheiße, mein Alter!", fluchte er. „Los, hoch! Wenn der uns hier erwischt!" Sie sprangen beide gleichzeitig auf die Beine. „Verdammt!" Karl-Friedrich zwängte hastig seinen Puller in die Hose und knöpfte sie zu. „Das du ja keinem was sagst! Zu niemandem! Verstanden?"
„Nein, bestimmt nicht", versprach Gerdchen erschrocken. Was dachte der sich eigentlich, er war doch keine Petze. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass das ein großes Geheimnis war und bleiben musste.
Karl-Friedrich trat rasch zur Bodenluke und meldete sich, denn er wollte keinen Ärger bekommen. Dann half er dem Kleinen, dessen Sachen noch über und über mit Strohfusseln bedeckt waren, sich zu säubern. Auch der sollte zu Hause keine Schimpfe kriegen. Gerdchens Mutter hatte bereits damit gedroht, dass er nicht mehr hierher dürfe, wenn die Sachen noch einmal so voller Stroh wären. Karl-Friedrich griff sich eine der Heugabeln, die überall herumstanden, und kletterte damit die Leiter hinunter. Gerdchen hinterdrein. Im Hof stand der kleine Bauer, der eben von seinem Fuhrwerk herabgestiegen war, und lächelte Gerdchen freundlich an, strich ihm übers blonde Haar und fragte: „Na, wart ihr wieder schön fleißig?"
„Hm, waren wir", sagte Gerdchen verlegen, kuckte seinen Freund an und nickte. „Jetzt muss ich aber nach Hause."
„Schon?", fragte der Bauer. „Ihr habt euch doch nicht gezankt?" Er sah von einem zum anderen, die beide mit dem Kopf schüttelten. „Und grüß deine Eltern, hörst du!", rief er Gerdchen hinterher, als der schon halb den Hof hoch war.
Gerdchen drückte sich vorsichtig am Puter vorbei, der sich ihm laut kollernd in den Weg stellte und die Schwanzfedern zum Rad schlug. Bevor er durch den Torbogen verschwand, drehte er sich um und winkte noch einmal zurück.
Gerdchen kam jetzt jeden Tag auf den Hof. Und jeden Tag häckselten sie langes Haferstroh in kleine Schnipsel, bevor sie zu jagen und zu tollen begannen, was regelmäßig damit endete, dass Gerdchen auf Karl-Friedrich saß, ohne je wieder gestört zu werden.
Eines Tages jedoch blieb er fort. Eine ganze Woche kam er nicht auf den Hof zurück. Der Bauer und die Bäuerin wunderten sich und fragten ihren Sohn, ob es irgendwelche Zwistigkeiten zwischen ihnen gegeben habe, ob sie sich gestritten hätten.
„Wo bist du denn solange gewesen? Gefällt es dir hier nicht mehr", fragte Karl-Friedrich mit einem Augenzwinkern, als Gerdchen wieder auftauchte.
Gerdchen hatte ihn im Schweinestall gefunden und bei seinem Anblick sogleich zu strahlen begonnen. Karl-Friedrich mistet den Stall aus und war für die Unterbrechung dankbar. Er baute sich breitbeinig und auf eine Forke gestützt vor ihm auf und nahm das Grinsen als gutes Zeichen mit Erleichterung auf. Das lange Fernbleiben hatte offenbar nichts mit ihren letzten Spielereien zu tun gehabt. Auch er war froh, seinen kleinen Freund nach so vielen Tagen endlich wiederzusehen, denn auch er hatte ihn vermisst und ernsthaft befürchtet, Gerdchen würde nicht wiederkommen.
„Meine Mutti hat mich nicht gelassen. Sie hat mich fürchterlich ausgeschimpft, weil meine Sachen immer wieder so voll Stroh waren. Und dann hab ich Stubenarrest gekriegt."
Was sie da eigentlich trieben, den lieben langen Tag, hatte seine Mutter von ihm wissen wollen und dann wahr gemacht, was sie bereits mehrmals angedroht hatte. Sie hätten nur ein bisschen im Stroh gespielt, mehr hatte er natürlich nicht verraten. Da käme er nicht wieder hin und zu Hause gäbe es auch genug zu tun, hatte sie geschimpft. Aber nach einer Woche war dann alles wieder gut und vergessen.
„Und was machen wir heute?", fragte Gerdchen erwartungsvoll. „Häckseln wir wieder Haferstroh?" Er musterte Karl-Friedrich von oben bis unten, konnte aber, außer den beschmierten Gummistiefeln, nichts Auffälliges an ihm entdecken.
„Heute nicht."
„Ooch, warum denn nicht?", beklagte sich Gerdchen enttäuscht.
„Lieber nicht!", wehrte Karl-Friedrich ab. „Sonst gibt es wieder Ärger. Und außerdem sind noch genug da. Ich schaffe es auch allein."
„Dann gehen wir in den Keller, ja?"
„Auch nicht!"
„Na, dann eben nicht", sagte Gerdchen trotzig. „Dann hätte ich ebenso gut zu Reini gehen können!" Es war schade, wo es doch soviel Spaß gemacht hatte. „Bist du mir böse?"
„Nein, warum sollte ich", antwortete Karl-Friedrich. Ein wenig böse war er ihm schon, aber das wollte er nicht zugeben. Und den Kleinen etwas an der Leine zappeln lassen, konnte nicht schaden.
„Das riecht hier aber gar nicht gut", lenkte Gerdchen nach einer Weile ein.
„Bin gleich fertig", sagte Karl-Friedrich und amüsierte sich über dieses trotzige kleine Kerlchen. „Und dann gehen wir die Schafe hüten."
„Au ja! Und wo?"
„Hinter dem Garten. An der Promenade."
Während Karl-Friedrich die Arbeit im Schweinestall beendete, beobachtete ihn Gerdchen von der Tür aus. Dann gingen sie zu der Wassertonne, die unter dem Fallrohr der Dachrinne stand. In dem bräunlichen Wasser, das nach Teer roch, schwammen kurze dicke Maden, die einen langen Faden hin und her bewegten.
„Kuck mal, haben die einen dünnen Schwanz", kicherte Gerdchen und schöpfte mit einem Blechtopf Regenwasser, um es Karl-Friedrich über die Stiefel zu schütten, der sie mit einem Besen abschrubbte. Als sie sauber waren, zog er sie aus und stieg in seine Schuhe. Die Stiefel stellte er zum Trocknen in die Sonne. Zwischen den nassen Steinen ließen sie drei, vier kleine, hilflos zappelnde Wesen zurück. Dann verschwand Karl-Friedrich für kurze Zeit im Keller.
„Wir wollten doch die Schafe nach hinten bringen!", rief ihm Gerdchen ungeduldig nach.
„Geht gleich los", rief Karl-Friedrich von unten und kam auch schon wieder zum Vorschein. Er hatte die Hände in den Hosentaschen. Sogar beim Ersteigen der Treppe nahm er sie nicht heraus. „Drängle doch nicht so!", sagte er, als er oben war.
Beide gingen zum Schuppen neben dem Pferdestall, in dem drei Schafe fleißig ihren Mist festtraten. Der Steig, der vom Hof aus durch den Garten zur Stadtmauer führte, trennte den Schuppen vom Pferdestall. Karl-Friedrich nahm drei lange Ketten von einem Wandhaken und drei kurze Eisenstangen, die an einem Ende spitz und am anderen ganz breitgeschlagen waren. Die Eisenstangen gab er Gerdchen.
„Schaffst du das?", fragte er. Natürlich schaffte der das! Wenn auch nur gerade so, aber er packte es. „Und pass auf, dass du dir an den scharfen Kanten nicht wehtust!"
Auf diese Warnung hatte Gerdchen leider nicht warten können. An einem Finger quoll bereits ein winziges Tröpfchen Rot hervor. Es brannte zwar ein wenig, aber er schwieg. Jedes Schaf trug ein ledernes Halsband, an dem Karl-Friedrich eine der Ketten befestigte. Während Gerdchen die schweren Stäbe voraus trug, zerrte er an den bockigen Schafen. Sie wurden erst munter, als es durch den Garten ging, wo sie an den vielen bunten Blumen herumknapperten, die längs des Weges wuchsen. Nun hatte Karl-Friedrich Mühe, sie auf dem Weg zu halten. Noch schwieriger war es, sie durch die enge Pforte in der Stadtmauer und die wenigen Stufen, die dann folgten, hinunter zu bugsieren. Das Gelände hinter der Stadtmauer fiel terrassenförmig zum Damm-See ab. Auf der obersten Stufe wuchs saftiges, mit vielen Kräutern durchsetztes Gras, welches die Schafe kurz zu halten hatten. Kaum befand sich das Grün unter ihren Beinen, begannen sie mit der Arbeit. Der Bauernjunge steckte den ersten Pfahl durch den Ring, der sich am Ende einer jeden Kette befand, setzte seine Spitze ins Gras und schlug ihn mit einem schweren Hammer in den Boden. Das tat er noch zweimal. Die Schafe zeichneten nun drei Kreise, die sich nicht überschneiden durften.
„Du wartest hier!", sagte er zu Gerdchen. „Ich komme gleich wieder. Ich will nur was holen."
Ich weiß schon, dachte Gerdchen, der will bloß wieder alleine in den Keller. Eingeschnappt setzte er sich auf den Rand der Feldsteinmauer, die die Terrasse zur Promenade hin abstützte, und überlegte, ob er nicht einfach nach Hause oder noch lieber zu Reini gehen solle. Da es sehr warm war, könnte er mit ihm baden gehen. Er brauchte nur aufstehen, die Treppe zur Promenade runtergehen und weg war er. Unentschlossen wippte er mit den Beinen hin und her. Sollte er gehen oder doch noch einen Augenblick abwarten? Aber da hörte er hinter sich die Gartentür in den Angeln quietschen, aus der Karl-Friedrich mit einem großen Paket unter dem Arm hervortrat.
„Bin wieder da!", rief Karl-Friedrich und warf das Bündel dicht vor der Scheune ins Gras. Auch die Scheune war aus Feldsteinen gebaut und schmiegte sich an die Stadtmauer. Sie hatte zwei Torflügel, deren Holz durch Verwitterung schwarz gezeichnet und mit einem alten Vorhängeschloss vor unbefugten Zutritt gesicherte war. Es gab zu viele Vorhängeschlösser, fand Gerdchen. Karl-Friedrich hockte sich neben das Paket und bat Gerdchen, ihm beim Auseinanderpacken behilflich zu sein. Der formlose Haufen steifen Stoffes, eine Art Plane, entpuppte sich als ein kleines, aber für beide ausreichend großes Zelt.
„Das ist ja toll!", rief Gerdchen begeistert, der noch nie ein Zelt gesehen hatte und darüber seinen Ärger ganz vergaß. „Woher hast du das? Aus dem Keller?" Denn dort musste er augenscheinlich gewesen sei, wie er bemerkte.
„Nicht aus dem Keller. Es lag auf dem Zwischenboden über den Schafen. Wo das herstammt, weiß ich auch nicht."
„Und was macht man damit?", wollte Gerdchen wissen.
„Da drin kann man schlafen, wenn man unterwegs ist."
„Au ja!" Gerdchens Begeisterung steigerte sich noch. „Auch nachts?", fragte er.
„Na klar, auch nachts."
„Soll ich meine Mutti fragen?"
„Um Gotteswillen, bloß nicht!"
„Warum denn nicht?"
„Nein, das geht nicht. Dazu bist du noch zu klein."
„Ich bin nicht zu klein!", widersprach Gerdchen eingeschnappt.
„Schön, du bist nicht mehr zu klein, dass hast du ja schon bewiesen." Karl-Friedrich zwinkerte ihm wieder zu. Der Kleine strahlte. „Deine Alten würden das genauso wenig erlauben wie meine. Kannst mir glauben. Wir würden beide nur Ärger kriegen. Und soviel taugt das alte Ding auch nicht mehr. Das hätte bestimmt Spaß gemacht mit dir, aber es geht nicht. Zieh lieber die Ecke da stramm", sagte der Kommandeur des Zeltlagers und hämmerte die Heringe in die Erde. Dann kroch er unter die Plane und stellte die beiden Mittelstäbe auf. „Halt doch mal fest, sonst kippt die ganze Scheiße wieder um", rief er von drinnen.
Gerdchen belustigte sich über das hilflos aussehende Bauwerk, tat aber, was von ihm verlangt wurde und wiederholte: „Ich bin doch nicht zu klein."
„Ja, das wissen wir." Karl-Friedrich kroch heraus, um draußen eine Menge Schnüre zu verspannen. „Du kannst schon rein, wenn du willst", sagte er zu Gerdchen.
Gerdchen setzte sich in die Mitte des Zeltes. Es war nicht annähernd so gemütlich, wie er es sich vorgestellt hatte. Der Zeltboden war genauso feucht und fleckig wie die Zeltwände. „Hier regnet es aber ganz schön rein", stellte er fest, denn an vielen Stellen hatte die Plane bereits Löcher. Weil es faulig roch, krabbelte er zurück in den Sonnenschein.
„Ich wüsste nicht, was daran schön sein soll! Aber zum Glück regnet es ja nicht", meinte der andere und schlug die Plane vom Eingang zurück, damit die warme Luft ins Innere konnte. „Pass mal auf, gleich ist das Zelt trocken, und dann riecht es auch nicht mehr so blöd."
Sie hatten es an einer Stelle aufgestellt, wohin die Kastanienbäume und die Stadtmauer keinen Schatten warfen. Gerdchen hockte sich vor den Eingang und beaufsichtigte gespannt den rasch voranschreitenden Trocknungsvorgang. Es dauerte wirklich nur kurze Zeit, bis das Zelt trocken, der Modergeruch verflogen und er wieder hineinkrabbeln konnte. Karl-Friedrich, der trotz der großen Hitze die Hände in den Hosentaschen vergraben und abseitsstehend gewartet hatte, kam zu ihm hinein und legte sich auf den Rücken, die Hände unter dem Kopf gefaltet und ein Bein übers andere geschlagen. Heute geht die Beule überhaupt nicht wieder weg, dachte Gerdchen und fragte sich, wann sie wohl endlich ihr Spiel wieder aufnehmen würden.
Karl-Friedrich, der seinen Blick verfolgt hatte, fragte: „Willst du …", steckte seine Hand in die Hosentasche und umfasste die Beule. Der Kleine nickte befriedigt und rutschte näher heran. „Willst du einen Apfel haben?", fragte Karl-Friedrich mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen und zog seine Hand wieder heraus. Er reichte Gerdchen eine wunderschöne, blassgelbe Sommerscheibe entgegen. Gerdchen langte etwas verlegen, aber dankbar zu und biss dem Apfel gnadenlos in die runde Seite. Dann brachte Karl-Friedrich einen zweiten zum Vorschein, den er aber selber essen wollte. Nun war die Hosentasche leer und die wundersame Beule hatte sich geglättet. Während beide genüsslich schmatzten, sahen sie einander in die Augen. Jeder durchschaute den anderen und konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Obwohl es im Zelt wärmer und wärmer wurde, schickte sich Karl-Friedrich an, den Eingang zuzuziehen. Dann legte er sich wieder auf den Rücken und kaute weiter an seinem Apfel herum, aber ohne sichtlichen Appetit.
„Na, gefällt dir das?", fragte er und begann Gerdchen, der im Schneidersitz dicht neben ihm hockte, mit dem Knie zu schubsen.
„Ja, das ist wirklich ganz toll hier drin. Und was machen wir jetzt?" Gerdchen hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, denn immer wieder drückte ihn Karl-Friedrichs Knie zur Seite. Beinahe hätte er den Apfel fallen lassen. Mit dem linken Arm umklammerte er das angriffslustige Bein und hielt sich daran fest. Karl-Friedrich zog das Knie ruckartig an und riss den kleinen Gerdchen mit, der dem kräftigen Schenkel nicht gewachsen war. Kreischend landete er quer auf seinem großen Freund.
„Schrei doch nicht so laut!" beruhigte ihn Karl-Friedrich.
„Warum nicht?", jodelte Gerdchen. „Ist doch keiner hier."
„Und so soll es auch bleiben." Karl-Friedrich umarmte den kleinen Rebellen und drückte ihn fest an sich. Der aber rangelte hin und her und gab keine Ruhe. „Sei doch leiser. Bitte! Du verscheuchst uns noch die Schafe."
Gut, er wollte versuchen, leise zu sein, aber das war nicht so einfach, wenn er fortwährend gekitzelt wurde. Und dann war es auf einmal wieder da! Gerdchen merkte ganz deutlich das Zucken unter sich. Er blieb ruhig darauf liegen und knabberte am letzten Rest seines Apfels. Der andere hörte mit dem Kitzeln auf und begann stattdessen mit seinem Hinterteil auf und ab zu wippen. „Hoppe hoppe Reiter, wenn er fällt, dann …" Plötzlich raschelte es hinter ihrem Rücken. Das Blöken eines Schafes ließ sie jäh zusammenzucken. „Verdammter Mist!", fluchte Karl-Friedrich. „Hops rasch runter!"
Dem neugierigsten der Schafe war es gelungen, seinen Pflock aus der Erde zu ziehen. Und nun musste es unbedingt seinen dicken Kopf zu ihnen ins Zelt stecken, um dem Treiben darin auf den Grund zu gehen. Karl-Friedrich war gezwungen, ob er wollte oder nicht, sich aufzurappeln und es erneut, diesmal aber zuverlässiger, anzupflocken. Gerdchen besah sich die beiden anderen Pflöcke. Sie staken noch fest im Boden. Zur Belohnung hielt er einem der Schafe seinen Apfelgriebs hin.
„Gehen wir wieder rein?", forschte Karl-Friedrich. Ohne eine Antwort abzuwarten, war er im Zelt verschwunden.
Gerdchen, der schon befürchtet, sie müssten jetzt draußen bleiben und die dummen, aufdringlichen Schafe bewachen, pries noch immer seinen Apfelgriebs an. Das dumme Schaf aber wollte von einem Fremden nichts annehmen. „Dann eben nicht!", sagte er beleidigt, warf ihn an die Stadtmauer, ging zum Zelt und kroch hinein.
Karl-Friedrich hatte es sich inzwischen bequem gemacht und, wahrscheinlich der Wärme wegen, das karierte Hemd aus der Hose gezogen und aufgeknöpft. Vom Hals her verlor sich die Spitze eines sonnengebräunten Dreiecks auf seiner Brust. In der Mitte des Bauches bildete der Nabel einen kleinen feuchten Brunnen. Sogar die Hose war bis auf die Oberschenkel heruntergezogen. Die linke Hand auf den Boden gepresst, hielt er in der rechten seinen steifen Puller, der hier noch größer erschien als auf dem Strohboden. Mit stoischer Gelassenheit und als könne ihn nun nichts mehr aufhalten, vollführte er die bekannten Auf- und Abbewegungen, denen seine Eier lustig folgten. Über dem Puller ringelten sich dunkle, krause Haare. Gerdchen, der im Eingang verharrte, war über den Anblick weder überrascht noch beunruhigt. Interessiert beobachtete er die Sache ganz genau.
„Kannst du mal das Zelt zuknöpfen", bat ihn Karl-Friedrich, der bedächtig fortfuhr.
Ja, das war vielleicht sicherer, dachte Gerdchen und beeilte sich, denn er wollte sich dem Geschehen nicht zulange abwenden. Sie konnten jetzt wirklich keine Schafe hier drin gebrauchen. Er kroch dichter an ihn heran. Gerne hätte er wieder die großen Eier und die Haare eingehender untersucht, aber ohne ausdrückliche Aufforderung traute er sich noch immer nicht. Karl-Friedrich, der schneller geworden war, hielt abrupt inne und ließ seinen Puller los, woraufhin dieser über dem Bauchnabel rhythmisch zu zucken begann. Ein tiefer Seufzer entrang sich der bebenden Brust. Gleichzeitig verdrehte Karl-Friedrich die Augen.
„Tut dir was weh?", fragte Gerdchen besorgt. Bestimmt ist er zu groß geworden, dachte er.
„Nein", beruhigte ihn Karl-Friedrich. „Mir tut nichts weh. Im Gegenteil, das ist ein ganz irres Gefühl. Und beinahe wäre es gekommen." Dass Karl-Friedrich aufgehört hatte, betrachtete er als Einladung, weiterzumachen. Unverzüglich langte er zu. Doch der Große schob die kleine Hand beiseite. „Noch nicht, warte noch einen Augenblick."
Gerdchen verstand das Zögern nicht und wurde ungeduldig. Nachdem Karl-Friedrich seine Hand eine Weile geknetet hatte, führte der sie zu seinem Puller, der sich inzwischen beruhigt und flach auf den Bauch gelegt hatte. Kaum, das Gerdchen ihn in den Fingern hatte, begann er wieder zu wachsen und hart zu werden. Ein eigenartiger Geruch stieg ihm in die Nase: eine Mischung aus Schweiß und Schweinestall. Karl-Friedrich bestimmte das Tempo. Mal sagte er: „Schneller!" Nach einer Weile dann: „Langsamer!" Mitunter sagte er auch: „Gut so!" Gerdchen hatte den Eindruck, als wisse Karl-Friedrich nicht wirklich, was er wollte. Es machte zwar Spaß, war aber echt anstrengen. Gerdchen nahm die zweite Hand zu Hilfe und drückte kräftiger zu. Karl-Friedrich presste die Schenkel zusammen und richtete den Oberkörper halb auf. Den Kopf ließ er wie immer nach hinten hängen. Er bebte am ganzen Körper.
„Karl-Friedrich, warum zitterst du denn so?", fragte Gerdchen verblüfft.
Da war es dann plötzlich aus heiterem Himmel über sie hereingebrochen, das grausame Lachen! Schallend bis über alle Stadtmauern des Landes hinaus.
Walter, Karl und Norbert, die sich unbemerkt herangeschlichen und die beiden schon eine ganze Weile belauscht hatten, konnten sich vor dem Zelt nicht mehr bremsen. Grölend schlugen sie die Plane, die sie heimlich aufgeknöpft hatten, beiseite und steckten wie das Schaf blökend den Kopf hinein. Gerdchen schoss der Schrecken in alle Glieder und die Schamröte ins Gesicht. Mit ungeheurer Kraft sprang er auf, hastete hinaus, dass die drei Jungs zur Seite flogen, rannte die Treppe zur Promenade hinunter und war verschwunden. „Die sind ja so gemein, so gemein!", sagte er zu sich selber und sein kleines Herz raste vor Wut.
Das war das Ende seiner Freundschaft mit Karl-Friedrich, denn fortan ging er nicht mehr zu ihm.
Hätte es ein Mauseloch gegeben, das groß genug wäre, um sich darin zu verkriechen, er wäre hineingekrochen. Hätte ihn jemand mit fortgenommen, weit weg, bis ans andere Ende der Welt, er wäre ohne zu zögern mitgegangen. Aber er konnte sich weder verkriechen noch konnte er weglaufen vor diesem: „Karl-Friedrich, warum zitterst du denn so?" Wie ein Beil schwebte es über seinem kleinen Kopf, wohin er auch kam.
„Tut dir was weh?", fragte Gerdchen besorgt. Bestimmt ist er zu groß geworden, dachte er.
„Nein", beruhigte ihn Karl-Friedrich. „Mir tut nichts weh. Im Gegenteil, das ist ein ganz irres Gefühl. Und beinahe wäre es gekommen." Dass Karl-Friedrich aufgehört hatte, betrachtete er als Einladung, weiterzumachen. Unverzüglich langte er zu. Doch der Große schob die kleine Hand beiseite. „Noch nicht, warte noch einen Augenblick."
Gerdchen verstand das Zögern nicht und wurde ungeduldig. Nachdem Karl-Friedrich seine Hand eine Weile geknetet hatte, führte der sie zu seinem Puller, der sich inzwischen beruhigt und flach auf den Bauch gelegt hatte. Kaum, das Gerdchen ihn in den Fingern hatte, begann er wieder zu wachsen und hart zu werden. Ein eigenartiger Geruch stieg ihm in die Nase: eine Mischung aus Schweiß und Schweinestall. Karl-Friedrich bestimmte das Tempo. Mal sagte er: „Schneller!" Nach einer Weile dann: „Langsamer!" Mitunter sagte er auch: „Gut so!" Gerdchen hatte den Eindruck, als wisse Karl-Friedrich nicht wirklich, was er wollte. Es machte zwar Spaß, war aber echt anstrengen. Gerdchen nahm die zweite Hand zu Hilfe und drückte kräftiger zu. Karl-Friedrich presste die Schenkel zusammen und richtete den Oberkörper halb auf. Den Kopf ließ er wie immer nach hinten hängen. Er bebte am ganzen Körper.
„Karl-Friedrich, warum zitterst du denn so?", fragte Gerdchen verblüfft.
Da war es dann plötzlich aus heiterem Himmel über sie hereingebrochen, das grausame Lachen! Schallend bis über alle Stadtmauern des Landes hinaus.
Walter, Karl und Norbert, die sich unbemerkt herangeschlichen und die beiden schon eine ganze Weile belauscht hatten, konnten sich vor dem Zelt nicht mehr bremsen. Grölend schlugen sie die Plane, die sie heimlich aufgeknöpft hatten, beiseite und steckten wie das Schaf blökend den Kopf hinein. Gerdchen schoss der Schrecken in alle Glieder und die Schamröte ins Gesicht. Mit ungeheurer Kraft sprang er auf, hastete hinaus, dass die drei Jungs zur Seite flogen, rannte die Treppe zur Promenade hinunter und war verschwunden. „Die sind ja so gemein, so gemein!", sagte er zu sich selber und sein kleines Herz raste vor Wut.
Das war das Ende seiner Freundschaft mit Karl-Friedrich, denn fortan ging er nicht mehr zu ihm.
Hätte es ein Mauseloch gegeben, das groß genug wäre, um sich darin zu verkriechen, er wäre hineingekrochen. Hätte ihn jemand mit fortgenommen, weit weg, bis ans andere Ende der Welt, er wäre ohne zu zögern mitgegangen. Aber er konnte sich weder verkriechen noch konnte er weglaufen vor diesem: „Karl-Friedrich, warum zitterst du denn so?" Wie ein Beil schwebte es über seinem kleinen Kopf, wohin er auch kam.


Rostock im August 1996



106 - 108

Zurück zur Titelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt