Spatzgeschichten
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Die verpatzte Prophezeiung
Anfangs war der von Bäumen und Strauchwerk gesäumte Weg noch spärlich durch die immer seltener werdenden Straßenlampen beleuchtet gewesen. Aber je weiter er sich von der Stadtgrenze entfernte, desto finsterer wurde es. Da der aufgekommene Wind beständig schwere Wolken über den Himmel trieb, traf nur hin und wieder das Licht des Mondes den Weg. Er achtete deswegen auf das Geräusch seiner Schritte, um nicht vom Weg abzukommen, denn der war mit Kieseln bestreut. Im Schutz seines hohen Mantelkragens tastete sich der Mann die letzten hundert Meter bis zu dem Haus vor, über dessen Haustür eine altertümliche Sturmlaterne etwas flackerndes Licht verteilte. Der Mann griff zur Klinke, hielt einen Moment inne, drückte sie dann aber beherzt herunter und verschwand geräuschlos im Haus.
Die winzige Kammer war nur spärlich mit Mobiliar ausgestattet. Während des Tages sickerte ein wenig Licht durch ein kleines beschlagenes Fenster in den Raum. Wenn es geöffnet wurde, was nur viel zu selten geschah, gab es den Blick auf den nahen Friedhofshügel frei. Auf der dem Fenster gegenüberliegenden Seite stand hinter einem dunklen Vorhang das schäbige Bett, daneben der wacklige Schrank, aus glatten dunklen Brettern gezimmert. Unter dem Fenster stand der quadratische Tisch mit zwei Schemeln. Links davon drückte sich der schwarze Kanonenofen in die Ecke, dessen Rohr in hohem Bogen im Mauerwerk verschwand. In der Zimmerecke rechts vom Fenster stand ein rostiges Eisengestell, welches eine angeschlagene Emailschüssel trug, die als Waschgelegenheit diente. An der Wand darüber war eine Konsole angebracht, auf der einige wenige Hygieneartikel Platz fanden. Das gebrauchte Handtuch hing an einem Nagel, der in den Türrahmen gehauen war. Auch das Fenster war jetzt mit schwerem Tuch verhangen. Wie dem Bett, so entstieg auch ihm ein muffiger Geruch. Nur durch einen winzigen Spalt drang die Außenwelt herein. Der Tür gegenüber war ein alter Stich ohne Rahmen an die Wand gepinnt, der so ausgebleicht war, dass niemand sagen konnte, was auf ihm dereinst abgebildet war.
Dies war die ärmliche Behausung der Lady Wilt, die in ihren Blütejahren ein so prächtiges Frauenzimmer gewesen war, so erzählt man in der Nachbarschaft, dass sie bei Tage niemals unbemerkt über die Straße gehen konnte. Sie war die Schöne in den Salons der Reichen. Da sie schon seit Langem mit dem alten Stich an der Wand das gleiche Schicksal teilte, war ihre einst so zahlreiche Bekanntschaft mehr und mehr fortgeblieben und zuletzt auf ein Häuflein Erinnerung zusammengeschmolzen. Sie hatte sich in diese Klause zurückgezogen und nur selten machte sich ein Fremder die Mühe, die verwinkelten Treppenstiegen bis hinauf unters Dach emporzusteigen, um in ihr dunkles Gemach zu gelangen und ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.
An diesem Abend aber, es war schon geraume Zeit finster und der Herbstwind jagte welkes Laub um das alleinstehende Haus, da klopfte eine düstere Gestalt, in einen langen Mantel gehüllt, an ihre Tür. Nachdem der Fremde dreimal geklopft hatte, das letzte Mal energischer als zuvor, ließ Lady Wilt ihren Besucher endlich ein. Sie wies auf einen der Schemel am Tisch, auf dem sich die Gestalt sogleich niederließ. Unverzüglich begannen sie eine geheimnisvolle Unterredung, die so leise vonstattenging, dass selbst ihre Schatten kein Wort davon vernahmen.
„Schon gut, schon gut, ich tue es, ganz wie ihr verlangt“, sagte sie etwas barsch zu dem Mann mit dem pompösen Doppelkinn, unter dessen Mantel die Spitzen blankgewienerter schwarzer Lackschuhe zu sehen waren. „Es wird aber furchtbar“, gab sie zu bedenken und stand auf, um dem Schrank eine klare Kristallkugel und drei alte Knochen zu entnehmen. Auf dem Tisch formte sie aus den Knochen ein Dreieck, platzierte die Kugel im Zentrum und ließ sofort ihre Hände darüber schweben, nachdem sie sich wieder auf ihren Schemel gesetzt hatte, unablässig beschwörendes Kauderwelsch murmelnd. Die Alte beugte sich weit vor, sodass von ihrem Gesicht kaum mehr etwas zu erkennen war, da sie das große Schultertuch von der Farbe geronnenen Blutes über den Kopf bis weit in die Stirn gezogen hatte.
Vor diesem Bild sank der Fremde unmerklich auf seinem Schemel zusammen. Die Schweißperlen auf seiner Stirn glitzerten im Schein der dicken Kerze, die hinter der Kugel flackerte. Er begann zu bereuen, diesen verzweifelten Schritt getan zu haben.
Der Wind hatte an Stärke gewonnen. Im Gebälk über ihnen wurden Stimmen hörbar und die Flamme der schwarzen Kerze züngelte erregt nach dem Fenstervorhang. Von der Tür her war plötzlich ein scharfes Kratzen zu vernehmen.
„Das ist er ja endlich: Satan!“, raunte die Alte, wobei sie das Wort Satan unnötig in die Länge zog.
Dem Herrn mit den Lackschuhen fuhr bei diesen Worten eisiges Grauen durch alle Glieder. Die alte Lady unterbrach ihre Sitzung, stand auf und schleppte sich zur Tür, die sie vorsichtig öffnete. Hereinspazierte ihr alter Kater, der sich mit hoch erhobenem Schwanz und dunkel wie die Nacht zwischen ihren dürren Beinen hindurchdrängelte. Er beäugte den fremden Eindringling verächtlich, verschwand hinter dem Bettvorhang und kam auch nicht wieder hervor. Obwohl sie die einzige Bewohnerin des turmartigen Hauses war, in dem es scheinbar nur Treppen und dieses Dachzimmerchen gab, schloss die Alte leise die Tür und nahm die unterbrochene Beschwörung der Kristallkugel wieder auf, in derselben Weise wie zuvor. Nach unendlich langen schweißtreibenden Minuten nahm der Fremde ein seltsames Licht wahr, das von der Kugel auszugehen schien. Gebannt starrte er hinein, während Lady Wilt von einer übernatürlichen Erregung erfasst war. Von dem Fremden schien nur noch der schlotternde Mantel auf dem Schemel zu kauern. Sein kahler Schädel war nahezu vollständig im aufgestellten Mantelkragen versunken. Die Kerze begann zu weinen. Ein Tränenstrom lief über den Tisch und tropfte träge auf den Fußboden. Vom nahen Friedhof wehten schaurige Geräusche herüber. Die knorrigen Kastanien ächzten neben den frischen aufgeschütteten Gräbern und ergaben ein gespenstisches Bild im zerrissenen Mondlicht. Selbst die stärksten Äste beugten sich unter der Last des Sturmes. Ihre stachligen Früchte stoben durch die dunkle Nacht und prallten mit lautem Knall an die steinernen Grüfte. Ein wildes Rauschen polterte von Baum zu Baum. Keine einzige Menschenseele wagte sich zu dieser Stunde an diesen Ort.
„Höllenschlund und Drachenzahn, Hexenmund und Geisterwahn, Wurzelstock vom Eberich, dunkler Schleier hebe dich! Fliegenauge und Spinnenbein, Krötenlauge und Schlangenklein, totes Herz der Fledermaus, dunkler Schatten komm heraus!“ So und so ähnlich fuhr sie fort, auf die Kugel einzureden. Ihr verborgener Blick schweifte abwechselnd über die flammende Kugel, das Knochendreieck und den stummen Zuhörer. Ihre Finger zeichneten selbstständig mystische Figuren in die stickige Luft. Der Fremde klebte auf seinem Schemel und wagte kaum, Luft zu holen. Er fühlte sich ohnmächtig und der Alten hilflos ausgeliefert. Jetzt half es ihm nicht, ein Herr von Rang und Namen zu sei. Er war nur noch ein Häufchen Tragik, von dem sich der Mantel zu lösen und nach allen Seiten herab zu fließen schien. Vorsichtig schob er seine rechte Hand in die Manteltasche, verharrte dort einige Sekunden und brachte dann einen lederbezogenen Flachmann aus massivem Silber zum Vorschein, auf dem die Buchstaben F und T eingeprägt waren. Sein verschwommener Blick richtete sich auf den Verschluss, den er mit zitternden Fingern öffnete und sich dann einen kräftigen Schluck von dem Inhalt in den Hals goss. Mit einem verstohlenen Blick auf die dunkle Gestalt neben sich ließ er das Gefäß wieder verschwinden. Das Getränk trocknete zwar nicht seine Stirn, dazu gebrauchte er ein spitzenbesetztes Taschentuch, beruhigte aber seine wogenden Eingeweide. Draußen schrie noch immer der Sturm. Tief dahinjagende Wolken verwehrten den wenigen Menschen, die gezwungen waren, ihr Heim zu verlassen, den abendlichen Blick auf die Sterne. Mit Stöhnen und Jauchzen schob der eisige Sturm seinen Arm durch das rostige Abzugsrohr des Ofens, rührte in der noch heizen Glut, schlug die Ofenklappe auf und zerrte an der Kammertür. Ein rasch verlöschender Funkenregen ging auf die Dielen nieder und hinterließ einen beißenden Geruch. Die Alte, die unter ihrem Tuch das spärliche, längst ergraute Haar verbarg, hockte ungerührt auf ihrem Schemel und schien zu gigantischen Ausmaßen heranzuwachsen. Zumindest wurde ihr Schatten sichtlich größer. Während ihre Augen in die Glaskugel stierten, hatte sie unbemerkt die festgeklebte Kerze vom Tisch gelöst und vor sich aufgestellt. Jetzt spiegelte sich das Feuer direkt in ihren stechenden Augen, mit denen sie alles und jeden zu durchdringen vermochte. Die lebendige Flamme, die sich verzweifelt fortzupflanzen bemühte, das knöcherne Dreieck, das sich um die Kugel drehte, und die schimmernde Kugel selbst wurden mehr und mehr Eins, verschmolzen zu einem Ganzen. Die parallel verlaufenden Falten im Gesicht der Alten begannen sich zu glätten, die Brauen wurden schwarz und buschig, die tiefe Blässe wandelte sich in grünliche und bläuliche Töne.
Stummes Entsetzen packte ihren Gast, der zweifellos die Flucht ergriffen hätte, brächte er die Kraft dazu auf. Er saß erst eine halbe Stunde gebannt bei der Alten, hatte aber bereits Qualen erlitten, von denen er nie zu träumen gewagt hätte. Immer wieder verwünschte er den Augenblick, der ihm eingab, hierher zu gehen. Doch so groß war seine Ratlosigkeit, dass ihm, nachdem alle herkömmlichen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, kein anderer Ausweg offenblieb. Nun saß er aber hier auf diesem Schemel, in dieser kärglichen und düsteren Kammer, wo jedes Brett und jeder Balken lebte und Augen und Ohren hatte, wo Hunderte Stimmen auf ihn einschrien und wo er sicher nicht lebend davonkommen würde.
Die kleinen quadratischen Fensterscheiben klapperten hinter dem Tuch, der Bettvorhang blähte sich auf. Die Luft knisterte. Satan steckte den Kopf hervor und spähte verschlafen zum Tisch hinüber. Der Fremde war noch immer da. Ärgerlich zog er sich wieder zurück. Plötzlich hielt die Alte in all ihren Bewegungen inne. Zu doppelter Größe emporgewachsen und mit vorgestreckten Händen saß sie erstarrt vor ihrer Kristallkugel. Kein Muskel zuckte, selbst die Augenlider standen still. Draußen war die ganze Welt in Bewegung, hier drinnen herrschte eisiges Schweigen.
„Haben Euer Ehren an das Opfer gedacht?“ fragte sie plötzlich, indem sie sich ihm ruckartig zuwandte.
„Wie? Ja, doch, selbstverständlich!“ Für mehrere Sekunden war er gelähmt. Als er sich wieder in der Lage fühlte, griff er mit der Linken vorsichtig in die linke Manteltasche.
Unterdessen setzte Lady Wilt eine aus Kupfer getriebene Schale auf den Fußboden, direkt vor dem Bettvorhang. „Tun sie’s dort hinein!“ forderte sie ihn auf.
Der Unbekannte, so hatte er die Alte um einen Termin bitten lassen, hatte etwas in seiner Hand liegen, dass in karminroter Seide eingeschlagen war. Umständlich brachte er das Opfer zum Vorschein und schüttete es in die Schale, ohne es mit den Fingern zu berühren, woraufhin sich der Vorhang teilte und Satan vom Bett herunter sprang. Der Kater starrte misstrauisch auf das ihm zugedachte Opfer, stupste es mehrmals mit einer Pfote an und beschloss, die Annahme der Gabe angewidert zu verweigern.
„Sie Armseliger, was haben sie getan?“ kreischte die Alte, als sie bemerkte, dass Satan dem Opfer ausgewichen war. „Einen Spatz?“ kreischte sie weiter. „Einen Spatz? Und noch dazu einen toten! Sie haben sich versündigt! Versündigt, Undankbarer, der sie sind!“
Das Leuchten der Kristallkugel hatte schlagartig aufgehört, das Knochendreieck lag wieder wie festgenagelt auf dem Tisch und die Flamme der Kerze drohte zu verlöschen. Jegliche Stimmen waren erstorben. Es herrschte völlige Stille im Raum, nur draußen wütete noch immer der Sturm. Der Mantel saß gebeugt auf seinem Schemel, als erwartete er Schläge, und schaute bedeppert vor sich auf die ungefegten Dielen. „Meines Wissens nach, baten sie …“, versuchte er sich zu rechtfertigen, aber die Alte schnitt ihm das Wort ab.
„Ich hatte nicht um einen toten Spatz gebeten! Gehen sie! Gehen sie schnell.“
Niedergeschlagen erhob sich der Mann mit den schwarzen Lackschuhen, wandte sich der Alten zu, um noch einmal das Wort an sie zu richten. Sie winkte nur ab und deutete auf die Tür, die zum finsteren Treppenschacht führte. Diese öffnete der Mann in dem Mantel und schlich hinaus, am Boden zerstört. Denn die Treppe war indes verschwunden und er so ins Leere getreten.
Rostock, 07. 02. 2014
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