Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Spatzgeschichten

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Mit Norbert W. im Café


Was hältst du davon, wenn wir uns noch zwei Kaffee bestellen, die Kellnerin kommt gerade? Gut, ja? Und dann erzähl ich dir, was mir vor kurzem passiert ist.
Zwei Kaffee, bitte! Tassen, ja. Mit viel Zucker! Ach und bringen sie bitte gleich zwei Schwenker Weinbrandverschnitt mit. … Ja, welchen? Das ist eine gute Frage. Wir nehmen den hier, Nummer drei. Oder?
Erzählt sich viel leichter, wenn einem die Zunge nicht so fest im Mund liegt. Zieh doch mal den Vorhang etwas rüber, die Sonne sticht mir ja die Augen aus. Sag mal, seit wann rauchst du denn wieder? Ich denk, du bist davon ab?
Na ja, kann mir vorstellen, dass dir das ganz schön an die Nieren gegangen ist. Bin jetzt mit meinem volle sechs Jahre zusammen. Hätte auch nicht gedacht, dass es so was geben kann.
Klar, schon. Hin und wieder mal kleinere Kappeleien, ist doch ganz klar. Aber ernsthafte Katastrophen? Eigentlich nein. Hat es bis heute nicht gegeben. Ein kleiner Streit, ja. Aber das frischt die Liebe auf, sagt man doch. Und ein kleiner Streit lohnt sich immer, wenn man bedenkt, wie viel Spaß hinterher die Versöhnung macht. Donnerwetter, unser Nachschub kommt angerollt.
Stimmt genau! Solange eine Einrichtung noch neu ist, klappt alles noch einigermaßen.
Auf eine neue Liebe für dich! Oder worauf du willst.
Hat das nun endlich geklappt mit deiner Wohnung?
Ach ja, wann denn?
Sag bloß! In der Budapester? Da kenne ich jemanden. Und wann willst du die Studentenbaracke für immer verlassen und deinen beiden Blumentöpfen ein neues Heim bieten?
Das ist überhaupt keine Frage! Na klar, kommen wir. Du musst nur sagen, wann.
Ja, natürlich. Sollen wir irgendwelches Werkzeug mitbringen?
Stimmt, hast recht, ich wollte dir eigentlich was anderes erzählen. Brauchst aber keine Angst zu haben, wir haben noch genügend Zeit. Achim ist erst gegen drei fertig. Und bis er dann hier ist, dauert es auch noch ein Weilchen.
Nein, nein. Zwei oder drei Prüfungen hat er erst hinter sich. Das dauert noch.
Ja, ist ja gut! Pass auf! Ich fuhr vor kurzem, warte mal … heute vor genau zwei Wochen, mit dem Rad zum Strand. Du weißt schon, nach da hinten. Hatte an dem Tag zeitiger Feierabend, sodass es sich noch lohnte, ein paar von den Sonnenstrahlen einzufangen. Unten am Strand lagen kaum Leute. Und oben war auch nichts los. Ich hatte mich auf meine Decke geknallt und angefangen, in Whitmans Tagebuch zu lesen. Kennst du das? Kann ich dir mal geben. Wie der die jungen Kerle anhimmelt! Ein Wunder, dass sie das hier verlegt haben.
Mein Gott, bist du ungeduldig! Du musst dich viel mehr in Ausdauer üben! Also. Eine Stunde oder so hatte ich da zugebracht, dann wurde es mir doch zu kalt. Es war auch reichlich windig an dem Tag. Packte meine Klamotten zusammen und machte mich auf den Heimweg. Bin allerhöchstens dreihundert Meter gefahren, da lag links vom Weg ein Fahrrad. Ich rollte vorbei und bremste ganz vorsichtig. Damit es nicht quietschte, weißt du. Und ging ich die paar Schritte zurück. Ein Herrenrad! Zu sehen war niemand. Ich stellte mein Rad an einen Baum. Du weißt, wo ich meine?
Genau. Dahinter stehen doch diese Kartoffelrosen, die alles verdecken. Und das Gras ist da auch ziemlich hoch. Ich quetschte mich also vorsichtig durch das blöde Gestrüpp. Der Trampelpfad ist da ziemlich zugewachsen. Musste mir die Arme vors Gesicht halten. Als ich dann ins Freie trat und die Augen wieder richtig aufmachen kann, da stand ich plötzlich vor einem Bengel, der da mitten im Weg saß. Hatte nen ganz schönen Schrecken bekommen. Darauf war ich ja nicht gefasst. Na und der erstmal! Der wusste im ersten Moment auch nicht, was er machen sollte. Der saß ganz einfach da, lehnte mit dem Rücken bequem an einem riesigen Grasbüschel, und hatte die Beine weit auseinandergespreizt. Wär ihm beinahe draufgetreten. Seine weiße Turnhose und ne Badehose hatte er so weit wie möglich über die Schenkel geschoben. Mit der Linken hielt er sie fest, dass sie nicht wieder hochrutschen konnten. Mit der Rechten war er gerade dabei, sich einen runterzuholen. Kannst du dir vorstellen, wie geschockt ich war?
Das kann ich dir sagen. Dem schoss natürlich und sofort sämtliches Blut ins Gesicht. Und mir wollte das Herz aus der Brust springen. Ich weiß nicht, was du an meiner Stelle gemacht hättest, ich bin jedenfalls wie hypnotisiert, wenn ich so was sehe. Ich war unfähig, mich von der Stelle zu bewegen. Du hättest mir Feuer unterm Hintern machen können, ich hätte es nicht gemerkt. Als ich wieder zu mir kam, ging ich an ihm vorbei. Der ließ natürlich als Erstes alles los. Die Hosen schnellten sofort nach oben und begruben in sich den größten Teil. Ich ging bis zum Rand der Böschung vor und kuckte ganz verlegen und verzweifelt aufs Wasser. Ich hatte gerade noch die Kraft, im Vorbeigehen zu sagen, dass er vor mir nun wirklich keine Angst zu haben brauche. Denn der kuckte natürlich auch ganz schön verdattert drein. Ich weiß, wie das ist, wenn man dabei erwischt wird.
Du hast Recht, erwischt ist vielleicht nicht das richtige Wort. Hört sich so an, als tut man was Verbotenes oder was Unanständiges. Sagen wir überrascht? Auch nicht viel besser, was?
Ich musste so in demselben Alter gewesen sein, damals. Meine Eltern waren zum Feld und ich ganz allein zu Hause. Als mir wieder danach war, ging ich in den Bretterschuppen. So was Blödes aber auch von mir! Einen beschisseneren Platz hätte ich mir gar nicht aussuchen können. Das Tor geht zum Hof auf, die eine Tür zum Maschinenraum und die andere nach hinten zum Garten.
Ob ich schon fertig oder noch voll dabei war? So genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls geht plötzlich die Gartentür auf und meine Eltern kommen in den Schuppen. Ich hätte in den Boden versinken mögen. Die Tür knarrte immer beim Aufmachen! Das war mein Glück. Konnte mich gerade noch so mit vollem Karacho bücken. Auch noch meinen Schwanz einzupacken, war aber einfach nicht mehr drin. Was meinst du wohl, wie das wehgetan hatte! Überflüssigerweise fragte meine Mutter prompt, was ich da mache. Senta, das war unser Hund, hat hier was verbuddelt, sagte ich. Die beiden gingen dann in den Maschinenraum. Ob die mir das geglaubt haben, weiß ich nicht. Jedenfalls waren sie so rücksichtsvoll, sich nicht länger bei mir aufzuhalten. Ich hätte gar nicht wieder hochkommen können.
Oder stell dir vor, ich hätte die nicht kommen hören! Ich wäre dann tatsächlich im Boden versunken. Das ist mir aber nur einmal passiert, kannstʼe glauben.
Ist ja gut! Ich mein ja nur, dass mir der Schreck damals ganz schön in die Knochen gefahren war. Und so ungefähr wird es dem Bengel am Strand auch gegangen sein. Ich stand also vorne am Rand und kuckte blöd. Drehte mich dann zu ihm um. Er war aufgestanden und ich sah gerade noch, wie er sich die Turnhose richtig hochzieht und wohl abhauen wollte. Wart doch mal, sagte ich zu ihm, mir war noch immer ganz schwindlig im Kopf, ich hab vielleicht was für dich.
Hm, was meinst du, vertragen wir noch einen?
Na gut, dann noch zwei von derselben Sorte. Hier, stell doch mal die Gläser da rüber. Norbert!!
Hattest du was entdeckt?
Zu alt! Hier. Einfach darüber. Hier hast du nur zwei Gläser auf dem Tisch stehen und schon ist er voll. Neulich hatten die in dem Laden da drüben hübsche Nelken auf den Tischen stehen. In Weingläsern. Nur die Blüten, verstehst du. Solche großen Dinger! Meine hatten bisschen Schlagseite. Will sie zurechtrücken, da merke ich erst, dass die Dinger aus Plaste sind. Hier scheint das Zeug noch echt zu sein. Möchtest du noch nen Kaffee?
Nee, ich nehm auch keinen mehr.
Jaja, gleich. Lass die Kellnerin erst wieder weg sein. Sie kommt doch schon.
Gut, dass es hier nicht so voll ist. Na ja, bei den Preisen. Und trotzdem meist junge Leute. Möchte wissen, wie die sich das leisten können.
Ach, stellen sieʼs einfach hier her.
Kannst es nicht abwarten, was? Zum Glück wollte der Bengel wissen, was ich schon für ihn haben könne. Ob er nun wirklich neugierig darauf war, was ich für ihn hatte, kann ich nicht sagen. Vielleicht wollte er auch nur das Peinliche an der Situation überspielen. Auf alle Fälle rannte er nicht gleich weg. Ich nahm ihn mit zu meinem Fahrrad und kramte ein bisschen in der Tasche rum. So als wenn ich es nicht gleich finden konnte. Dann zog ich eine Plastetüte raus. Da waren Bilder drin.
Na du weißt schon, was für welche. Solche, die auf kleine Jungs mit Bestimmtheit eine anregende Wirkung haben.
Mit Zufällen musst du immer rechnen.
Das ist, glaube ich, ein Heft, ein paar Fotos und ein Kartenspiel. Haben wir Anfang der siebziger Jahre mal aus Polen mitgebracht. Rümpf jetzt nicht die Nase! Ich weiß, du hast das nicht nötig. Man hat oder man hat nicht. Und manch einer hätte ganz gern!
Siehst du! Ich nahm zuerst zwei, drei Fotos raus um den Geschmack anzureizen. Das klappt immer. Fast immer. Da kam gerade ein Ehepaar angefahren. Die gaben einen herrlichen Vorwand zum Ortswechsel ab. So am Weg war auch Scheiße! Wir gingen wieder zurück und setzen uns dahin, wo er zuerst gesessen hatte. Ich gab ihm den ganzen Packen und beobachtete, wie er sich die Bilder ansieht. Man merkte richtig, wie sein Herzklopfen zunahm. Na und meins erstmal. Ich saß rechts neben ihn. Wart mal, sagte ich zu ihm und tippte mit dem Finger auf das Bild, das er sich gerade bekuckte. Machte auch noch irgendeine Bemerkung dazu. Der hat nen Apparat, was! Oder so. Dann sinkt meine Hand versehentlich auf seinen Schenkel, wo ich sie erstmal stillliegen ließ. Keine Reaktion. Dann übten meine Fingerspitzen abwechselnd etwas Druck aus. Noch immer keine Reaktion. Die Sache hätte ebenso gut ins Auge gehen können. Mutig geworden, schob ich sie dann nach ner Weile vorsichtig bis direkt aufs Zentrum der weißen Turnhose. Zuerst sagte er nichts, sieht sich weiter die Bilder an. Erst nach ner ganzen Weile fragt er dann, was das soll.
Dann was Gescheites antworten, ist nicht einfach. Will nur mal sehen, ob du nen Steifen hast. Oder so. Was Besseres war mir nicht eingefallen. Na klar, Mann, hab ich einen Hammer, sagte er. Und das stimmte. Dass ich das sein lassen solle, hatte er aber nicht gesagt. Hatte sich auch nicht im Mindesten gesträubt. Bekuckte weiter die Bilder. Und ich fummelte weiter an seinem Schwanz rum. Der war inzwischen aus der Badehose gerutscht und stieß jetzt an den oberen Rand der Turnhose. Die war schon ganz vollgesabbert. Er hatte auch nichts dagegen, dass ich ihm das Ding wieder ganz rausholte. Ruck, zuck war er dann fertig. Bespritzte sich das ganze T-Shirt. Und ich meinte noch, er soll Bescheid sagen, wenn es kommt. Aber wie das so ist bei den kleinen Jungs, kein Stöhnen, kein Zucken, nichts! Plötzlich schießt es raus. Ich hatte ihm das Zeug zwar so gut es ging abgewischt, aber ich möcht nicht wissen, was seine Mutter dazu gesagt hatte.
Meinst du? Kann sein. Der Bengel …
Natürlich weiß ich, wie er heißt. Der Name tut doch nichts zur Sache. Oder?
Für dich viel zu jung. Der Bengel wollte nun unbedingt die Bilder behalten. Zumindest die Fotos. Das wäre auch gar kein Problem gewesen, die hab ich nämlich selbst abgezogen. Aber dann hätte ich ihn nie wiedergesehen. Ich druckste erst ein bisschen rum und versprach ihm dann, ein paar Abzüge für ihn zu machen. Das wird natürlich ein paar Tage dauern, sagte ich. Und wenn er keine Angst habe, dann könne er sich die bei mir abholen. Warum er denn Angst haben soll, fragte er. Ich mein ja nur, sagte ich. Ich riss eine Seite aus meinen Terminkalender und schreib meine Adresse drauf. Wir hatten uns dann für letzte Woche Montag verabredet. Und weißt du, was der Witz an der ganzen Sache war? Die ganze Zeit über saß so ein aufdringlicher Spatz nicht weit entfernt auf einem Stein und sah uns zu. Das glaubt man nicht! Und das Allerwitzigste war, der hatte verschiedenfarbige Beine! So was hab ich überhaupt noch nie gesehen.
Doch, das stimmt, kannst mir glauben. Sag mal, Norbert, wie spät ist es?
Eigentlich müsste Achim schon längst hier sein. Weiter! Kannst du dir vorstellen, wie ich diesem Montag entgegengefiebert habe? Das ist immer so eine Mischung aus besoffener Vorfreude, süchtiger Hoffnung und einer Art prickelnder Angst im Bauch, enttäuscht und entdeckt zu werden. Das war eine sehr lange Woche, sag ich dir. Die Bilder entwickelte ich einen Tag vorher, damit ich sie erst am Montag trocknen konnte, und dann richtete ich mich so ein, dass erst ein paar davon trocken waren, als er kam. Ich dachte, er würde sich sicher nicht mit den zwei, drei zufriedengeben und gleich wieder abhauen, sondern noch dableiben und auf die anderen warten.
Was heißt hier Schlitzohr? Not macht erfinderisch! Und, was soll ich dir sagen, ich hatte nicht umsonst gewartet. Pünktlich auf die Minute geklingelte es. Ganz aufgeregt kuckte ich vorsichtig durch den Spion. Stell dir vor, es wäre meine Nachbarin gewesen. Katastrophal, sag ich dir. Die wär ich im Guten nicht wieder losgeworden. Zum Glück stand mein kleiner Freund vom Strand draußen. Machte schnell die Tür auf, aber er blieb davor stehen. Scheiße, dachte ich. Komm rein, ich bin noch nicht ganz fertig, sagte ich. Er zögerte noch ‘n bisschen, kam dann aber doch rein. Ich bat ihn hundertmal um Entschuldigung, dass die Bilder noch nicht alle trocken seien. Er solle sich einen Augenblick gedulden, es könne nicht mehr lange dauern. Er sagte, er könne auch noch mal wiederkommen.
Das hätte mir noch gefehlt! Wo ich ihn nun schon mal drin hatte. Ich setzte den kleinen schwarzen Lockenkopf in die Stube. Aber länger als eine Stunde hat er keine Zeit, meinte er.
Ja, das stimmt. Mal ist sie zu kurz und mal zu lang. Was meinst du, was der für leuchtende Augen hat! Ich fragte ihn, ob er gleich hergefunden hatte, darauf sagte er, er wäre Sonntag schon mal hier gewesen, weil er sehen wollte, wo das ist. Dann fragte ich noch irgendwelches blöde Zeug, gab ihm Bücher zum Ankucken und weiß der Kuckuck was noch alles, bloß um meine Nervosität zu überspielen. Alles, was ich in die Hand nahm, flatterte. Zwischendurch legte ich neue Fotos in die Trockenpresse. Dafür interessierte er sich natürlich auch. Hundertmal lief ich zwischen Bad und Stube hin und her, bis ich ihn endlich fragte, ob er sich noch mal die Originale ansehen wolle. Ach ja, sagte er. Richtig begeistert! Wir setzten uns aufs Sofa. Alle Bilder waren längst trocken. Ich legte meinen linken Arm hinter ihm auf die Rückenlehne und meine rechte Hand wieder auf seinen Schenkel. Diesmal hatte er eine lange Hose an. Und während er sich die Bilder bekuckte, gingen seine Knie immer weiter auseinander …
Ah ja! Guten Tag, mein Schieter! Das hat aber lange gedauert. Willst du dich noch setzen oder müssen wir gleich los?
Na gut, wie du meinst.
Was, wie weiter? Mensch, bist du neugierig. Das kannst du dir doch selber ausmalen.
Machs gut, Norbert. Wir sehen uns.
Ja, auch gut. Die neue Nummer hast du ja.
Tschüss!

Rostock, Juni 1986



108 - 110

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