Spatzgeschichten
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Nancy und Betty
„Nein, ich weiß es auch nicht, warum sie uns nicht leiden konnten“, sagte Nancy zu der nur etwas älteren Betty.
Nancy und Betty kannten sich zwar seit mehreren Monaten, hatten aber erst vor Kurzem beschlossen, gemeinsam die geräumige und sonnige Ecke links oben im großen Fenster des Salons zu beziehen und diese künftig als ihr ureigenes Apartment zu betrachten. Gesagt, getan. Hier lebten sie nun so bequem, wie es ihre Zweisamkeit nur zulassen wollte, wenn auch nicht ganz ungefährlich, denn bei all ihrem Suchen nach einem geeigneten Plätzchen und des umständlichen Abwägens des Für und Wider eines Zusammenziehens hatten beide in ihrer Kurzsichtigkeit übersehen, dass die Spinne Berta in unmittelbarer Nachbarschaft ihr Domizil aufgeschlagen hatte. „Domizil“, das stand in kunstvollen Leuchtbuchstaben über dem rundlichen Eingang ihres Hauses, welches im Gegensatz zu ihrem Ruf einen recht gepflegten Eindruck machte. Sie waren sich schnell darin einig, dass Berta, die wegen ihrer etwas überüppigen Figur auch gern die dicke Berta genannt wurde, dann wohl eine Domina sei.
Nancy war von der Natur mit bildschönen Flügeln beschenkt worden und trug gerade französische Locken, die wieder in Mode gekommen und gleich um die Ecke zu einem sehr günstigen Preis zu haben waren. Betty war dagegen mehr für Bubikopf und hatte ein Faible für Charleston, dem sie jede freie Minute opferte. Wie tief und innig ihre Beziehung zu Nancy war, äußerte sich unter anderen darin, dass die sie anschließend wieder auf die Beine half. Betty war ringsum etwas nostalgisch angehaucht, schwärmte fortlaufend nur von den guten alten Zeiten, die sie selber natürlich nicht erlebt hatte, ihr aber durch Hörensagen hinreichend bekannt waren. Beide, Nancy und Betty, waren zwar von Geburt nur kleine Stubenfliegen von der Art Fannia canicularis, auch das wollte schon was heißen, hatten sich aber im Laufe der Zeit mit ausdauernder Geduld und aus eigener Kraft zu hochherrschaftlichen Insekten hinaufgearbeitet, denn sie versahen zuletzt ihren nicht unbeschwerlichen Dienst bei Lord und Lady Wilson auf deren bescheidenem Landgut, welches im Aus- und Ansehen einen recht zweifelhaften Ruf genoss. Als das Gut noch in jungen Jahren war, mag es vielleicht von akzeptabler Statur gewesen sein, jetzt sah es jedenfalls wie ein recht betagter Herr aus, dem man bereits aus beträchtlicher Entfernung ansah, dass ihm jeden Moment sein stützender Krummstock entgleiten und er zur allgemeinen Freude aller in den Mist stürzen müsste. Es würde seine verbliebenen Lebenskräfte überfordern, sich selbst aus der Scheiße zu befreien.
Die ländliche Anlage des Anwesens lag abseits von jeglichem Verkehr. Das betraf auch sämtliche Bewohner. Mit Ausnahme des toten Inventars. Bis zum nächsten bewohnten Ort waren an die achtundvierzig Meilen zurückzulegen. Wenn es denn unbedingt sein musste. Aber in letzter Zeit hatte niemand mehr Grund, etwas zurückzulegen. Dafür war es bis zu dem kleinen Tannicht nur ein Katzensprung, welches die Ehre hatte, die rauschende Kulisse zu unserem kleinen Schauspiel abzugeben und immer wieder vergeblich versuchte, mit seinen dürftigen Ausläufern das Gut zu umzingeln und somit gänzlich von der Außenwelt abzuschneiden.
Die Wilsons, die das Gut seit Generationen bewirtschafteten, gehörten dem uralten Adel an, zumindest sie waren fest im Glauben daran, der von alters her das Fundament des Staates bildete, auf dem mit bewundernswerter Zuversicht wie am Anbeginn der Welt auch heute noch gebaut wird. Seine Brüchigkeit, die man allgemein vernachlässigen zu können meinte, lag allein in der strikten Weigerung zur Kenntnis zu nehmen, das Nancy und Betty von noch älterem Adel waren. Dass diese unumstrittene Tatsache niemand außer ihnen selbst wahrhaben und anerkennen wollte, war für die Wilsons zeitlebens ein nur schwer zu tragendes Los gewesen und das in keinem Adelsmatrikel der Beweis für die Berechtigung ihres Glaubens verzeichnet war, sahen sie nicht nur als die liederlichste Schwäche dieses Werkes an, sondern als Verhöhnung aller ihrer Ahnen bis hinunter zu dem glorreichen Engel, der den Schafstall des Herrn rein hielt, zumal in diesem Machwerk nach ihrer Meinung Namen aufgelistet standen, die unnützer nicht hätten sein können. Die Annahme, man habe sie lediglich aus Platzmangel übergangen, verbot sich von selbst, da am Ende des Buches mehrere leere Seiten für Bemerkungen und Notizen vorgesehen waren.
Nancy und Betty blieben hiervon gänzlich unberührt, was wirklichen Adel ausmachte. Dennoch waren sie geneigt, ihren Glauben zu teilen. Es war praktischer, ihren Bekannten auch in dem Lichte zu erscheinen, welches die Wilsons ganz deutlich über ihren Häuptern flackern zu spüren vermeinten. Es bereitete ihnen eine heimliche Lust zu fühlen, wie alle Fliegen in der näheren Umgebung, die sämtlich auf ihrer niederen Rangstufe zurückgeblieben waren, mit Neid, und vielleicht auch mit etwas Achtung, aber das wusste man nicht so genau, zu ihnen empor schauten, wenn beide nach getaner Arbeit ihrem täglichen Rundflug um den hinter der Gartenmauer dahinsickernden Dunghaufen unternahmen, der untrennbar zu diesem Haushalt gehörte und ein ganz besonders betörendes Aroma verströmte. So ein geruhsamer Flug war erholend und Balsam für alle Sinne. Befand man sich in der herrschaftlichen Küche, konnte man ohne Umwege auf einer direkten Duftspurverbindung hierher gelangen, nur wenn man vom Schlafgemach der Wilsons aus aufbrechen wollte, war ein minutenlanger Freiflug an frischer Luft zwecks Neuorientierung anzuraten.
„Hatte ich dir eigentlich schon erzählt, Nancy, was mir vor drei Tagen passiert ist?“, fragte Betty. „Nein? Ich wollte ein paar freie Minuten zu einer gründlichen Kücheninspektion nutzen, als mir dieser Kerl von Wilson einen schmierigen Streich spielte, den ich ihm auch jetzt noch schwer übel nehme. Ich schwang mich vom Mist kommend durchs kaputte Küchenfenster ein, flog einen Bogen über den leeren Brotkasten und steuerte voller Erwartung den offenen Butterteller auf dem Tisch an. Ich hatte nicht erwartet, darauf auch nur die Spur eines Restes vorzufinden. Wieso das zerfurchte Ding überhaupt Butterteller genannt wird, ist mir ohnehin schleierhaft. Stell dir meine Überraschung vor, als ich einen großen Berg irgendeiner Substanz erblickte, Butter war es ganz sicher nicht, woher sollte die auch kommen, schon bis zur Durchsichtigkeit glasig, herrlich weich, es hatten sich schon kleine Pfützen gebildet wie draußen am Misthaufen, und der Duft erst! Na ja, als ich dann nahe genug war, musste ich leider feststellen, dass auf dem Abwaschwasser, das sie uns in der Spüle zurückgelassen haben, die Vorräte reichlicher schwimmen. Ach, wenn ich auf diesen schaukelnden Inseln nicht immer so seekrank würde. In meiner Euphorie war mir bedauerlicherweise entgangen, dass dieser Schatz eifersüchtig bewacht wurde, denn sicher hatten die Wilsons vor, noch mindestens eine Woche davon zu leben. Ich lande auf dem Rand, zieh mir die Hosenbeine etwas hoch und bin eben im Begriff, mir zu Fuß einen Weg über die dunklen Fugen zu bahnen, da bemerke ich mit Entsetzen den Schatten, der hinterrücks auf mich niedergerast kommt. Wenn ich daran denke … Halte mich fest Nancy, mir wird schwindlig! Es war grauenvoller als Sonntag vor einer Woche, wo der rechte Pantoffel des Alten wie eine Bombe neben mir einschlug. Zum Glück bleibt uns immer noch genügend Zeit für einen gut überlegten Blitzstart in die rettende Weite. Aus sicherer Entfernung erkundete ich nun die Ursache meines erneuten Nervenschocks. Wie zu erwarten war es der Alte, der seinen natürlichen Neigungen zu Gewalttätigkeiten freien Lauf ließ. Dieser Hungerleider, missgönnt unsereinem die kleinste Delikatesse nebenbei. Aber es bot sich mir ein Bild des himmlischen Trostes. Der Wucht des Schlages nicht standhaltend, hatten sich die Bestandteile dieses schwindsüchtigen Tellers strahlenförmig über die ganze Küche verteilt. Auf dem Tisch selbst waren kaum Reste verblieben. Einige Splitter waren gegen die Wände geschleudert worden und hatten dort kleine Krater im morschen Putz hinterlassen, andere hingen am Handtuchhalter, aber nicht nur weil sich auf ihnen noch ein klebriger Rest befunden hatte, nein, dort bleibt ja auch alles andere hängen, wieder andere waren bis unter die Kohlenkiste geschlittert, wo sie von der Mäusekacke, was die beiden immer für Kohlengruß gehalten hatten, abgebremst wurden. Der größte Teil des schönen Mahles ist gerettet. Er klebt an der Wand. Über dem Herd, gleich neben der Tomatensoße. Die Schimpftiraden, die bei derart missglückten Attacken über seine aufgepellten Lippen kommen, kennst du ja. Sie sind durchweg unanständig und unseren Ohren einfach nicht zumutbar, weswegen ich mich in den Garten verzog, um im Apfelbaum die nötige Ruhe zu finden. Da saß schon Karl, du kennst ihn, der dicke Brummer von nebenan, der sich prompt an meine Seite setzte, so tat als wolle er sich lediglich in meiner Gesellschaft die Flügel putzen, aber mir bald mit seinem ewigen Liebeskummer in den Ohren lag und meine Nerven bis zum Reißen strapazierte. Er sabbelte und sabbelte. Wie ein Wasserfall. Ich sag dir, der hat Sachen erzählt, die sollte man gar nicht glauben. Woher er das wohl alles hergenommen hat? Woher bei einem Wasserfall das viele Wasser kommt, hat mir mal eine Forelle erzählt, als ich mich auf einem Stein im Bach sonnte. Aber die wollte mich mit ihrem schönen Getue auch nur besoffen machen, genau wie Karl. Das dumme Ding wollte mich doch tatsächlich dazu überreden, dass ich sie ein kleines Stück den Bach hinunter begleite. Und immer in Reichweite ihres Maules! Du glaubst es nicht. Aber nun frage ich dich, Nancy, wo kommen bei ihm die vielen Worte her, die ihm unablässig über den Rüssel rieseln? Sag nichts! Du weißt es auch nicht. Der Arme ist übrigens noch in meinem Beisein von uns gegangen.“
„Ach, wohin denn?“
„Keine Ahnung. Ein schneller Spatz hat ihn mitgenommen. Aber das sage ich dir, den Wilson konnte ich die ganze letzte Zeit schon nicht mehr ausstehen. Wir hätten uns schon viel früher zu diesem Schritt entschließen sollen.“
„Wer hätte denn auch ahnen können, dass die Folgen so himmlisch sind“, stimmte Nancy wenn auch zögernd zu.
„Und dabei waren die läppischen Reste auf dem Teller für ihn nun wirklich nicht mehr genießbar. Und ich will dir sagen, ich hätte mir dabei auch nur die Füße schmutzig gemacht. Es war und bleibt eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.“
„Ja, das finde ich auch“, munterte Nancy Betty auf. „Das hätte dir aber überall passieren können.“
„Hast du eigentlich mitbekommen“, fragte Betty, jetzt richtig in Fahrt gekommen, „dass sie, ich meine unsere schöne Lady, in der vergangenen Woche einen geschlagenen Vormittag lang allein hinter mich her war?“
Bei dem Wort „Lady“ verzog Betty vielsagend ihren zierlichen Rüssel. Sie dachte unwillkürlich an den Mopp, der voller Staubflocken an der Innenseite der Tür zur Besenkammer hing. Der sah genau wie die Lady aus, als wäre er Opfer einer zu heißen Brennschere geworden.
„Das war doch dieser Tag, wo du nachmittags diese abscheuliche Migräne hattest. Ich weiß noch, dass absolut nichts mit dir anzufangen war.“
„Ach, erinnere mich nicht auch noch an den Nachmittag, der war ja noch schlimmer als der Vormittag. Angefangen hatte alles Unglück damit, dass ich mich zu früh in ihre Nähe verirrt hatte. Es war erst elf Uhr. Die Gnädigste klebte noch tief schlafend in ihrem Bett. Es war eine meiner keinen Schwächen, du weißt schon, die mich dorthin getrieben hatte. Also nichts Böses im Sinn, hielt ich geradewegs auf ihre spitze rote Nase zu, von der bereits an besonders exponierten Stellen einzelne Puderschichten abgebröckelt waren, wie ich zu meiner Freude feststellte. Ursprünglich hatte ich gar nicht vor, längere Zeit auf diesem verbeulten Blasinstrument zu verweilen, das in keinem Orchester der Welt gütige Aufnahme gefunden hätte. Nicht einmal setzen hatte ich mich wollen. Nur mal eine kleine Biege, dachte ich. Aber du kennst ja meine Vorliebe für alles Prähistorische, ein angeheirateter Schwippschwager war Archäologe und brachte diese Wissenschaft mit in unsere Familie, weißt, wie gerne ich ihre Puderschichten zähle. Ich bewege mich also mit größter Vorsicht über den rechten Hang und beginne mit dem Skizzieren der einzelnen Kulturschichten, was beileibe nicht einfach war, denn die einzelnen Horizonte unterschieden sich nur durch geringste Farbnuancen. Über deren eindeutige Datierung bin ich mir auch heute nicht ganz im Klaren. Einzelne Abschnitte des Hanges waren derart verwittert, dass schon die kleinste Berührung genügte, um einen Puderrutsch auszulösen. Es mag sein, dass ich mit der Zeit und im Eifer die nötige Vorsicht vernachlässigte, denn plötzlich klappten bedrohlich nahe die Kunststoffwimpern auf. Ein ohrenbetäubendes Gekeife schallte in den Raum, dass durch heftiges Schlagen mit den Armen begleitet wurde. Ich klemmte mir in aller Ruhe meine Sachen unter den Arm und flog zum Tisch hinüber, wo in einer Tasse noch herrlicher kalter Kaffeegrund schimmelte. Nach einer Weile, sie glaubte mich in die Flucht geschlagen zu haben, schloss sie beruhigt die Augen. Da ich mit meinen Studien noch nicht am Ende war, flog ich erneut zu ihr. Sie aber war voller böser und hinterhältiger Gedanken. Diesmal hatte ich wirklich Mühe, mit dem Leben davon zu kommen.“
„Mein Gott, wie aufregend“, stöhnte Nancy, wobei sie sich mit drei Armen gleichzeitig über den Kopf fuhr und ihre frisch gelegten Locken hoffnungslos durcheinanderbrachte.
Betty setzte ihren Bericht unbeirrt fort: „Die Gnädigste bot all ihre Kräfte auf, hüpfte wie eine junge Magd, die an der Seite ihres Herrn verschlafen hatte, aus dem Federn, um, nur sehr flüchtig bekleidet, kannst du dir was Grauenvolleres vorstellen, erneut Jagd auf mich zu machen.“
Nancy drehte sich vor dem Spiegel, um noch einmal ihre bildschönen Flügel prüfend in Augenschein zu nehmen und meinte zum wiederholten Mal: „Ach, ist das aufregend!“ Ganz gleich, was es gab, bei ihr war immer alles aufregend.
„Sag ich ja“, musste Betty zustimmen. „Das kannst du mir ruhig glauben, meine Liebste, selten hat es in unserem Haus etwas Aufregenderes gegeben als den Vormittag. Das Spektakel hatte natürlich auch seine lustigen Seiten. Ich durfte mit ansehen, wie erst der Spiegel über der Frisierkomode, dann ein Teil des Kronleuchters, der mir immer besonders gut gefallen hatte, weil er unzählige und so wunderbare Rundungen hatte, auf die ich gern meine kleinen schwarzen Punkte absetzte, und dann die kleine chinesische Vase, wer‘s glaubt, mit dem dummen vertrockneten Kraut darin, das mir schon lange ein Dorn im Auge war, in Scherben gingen. Aber ganz besonders drollig fand ich die hervorgetretenen Kulleraugen des alten Pfaffen, der mit seinen krummen Beinen kerzengerade vor der offenen Verandatür stand und unablässig Kreuze in die Luft schlug als habe er den Leibhaftigen vor sich. Sein Fahrrad lag hinter ihm im Staub. Bis die Gnädigste sich endlich zu erkennen gab, indem sie sich den faltigen Morgenrock überzog.“
„Ich sage dir, Betty, ich hatte mich schon lange gefragt, warum der alte Knopf in seinem Alter noch solche weiten Touren mit dem Rad auf sich nimmt“, flüsterte Nancy, obwohl sie im ganzen Haus niemand hätte hören können.
„Ja. Und ausgerechnet immer dann, wenn unser Lord zum Fischen war! Du, Nancy, ich könnte dir Sachen erzählen! Aber ich will nicht klatschen. Und außerdem schickt es sich nicht, den Leuten was Schlechtes nachzusagen. Aber wenigstens die Sache mit dem Steuerberater muss ich dir gelegentlich unbedingt erzählen.“
„Ach, hatten die was zu versteuern?“, fragte Nancy verwirrt.
„Sie mochten uns eben nicht!“, seufzte sie nach einer Pause.
„Und er war keinen Deut besser als sie. Hatte er nicht ernsthaft versucht, uns mit seinen albernen Papiergirlanden das Leben schwer zu machen? An den unmöglichsten Stellen musste man darauf gefasst sein, hängen zu bleiben. Aber da hatte er sich geschnitten, wir sind ihm nicht auf den Leim gegangen. Wenn die Hochfrisur seiner Alten nicht daran hängen geblieben wäre, die dann wie eine Ampel im Wind hin und her schaukelte, müssten wir heute noch Umwege fliegen. Die Sache mit dem grässlichen Spray war noch ein paar Gemeinheitsstufen bedrohlicher. Das Zeug stank abscheulich. Mir war tagelang übel. Kopfweh, Bauchweh, unregelmäßiger Stuhlgang, du kennst das ja. Das hätte glatt ins Auge gehen können. Zum Glück hatte er die Dose nach den ersten vergeblichen Anschlägen auf unser Leben nicht wiedergefunden. Ich lasse mir ja so allerhand gefallen, sonst wäre es auch zu langweilig, aber das er uns volle zwei Stunden in den dunklen Kühlschrank eingesperrt hat, das war das Tüpfelchen auf dem I, das konnte ich ihm nie verzeihen. Uns so reinzulegen! Sah die Wurst nicht lecker aus, der Schinken saftig, der Käse goldig? Und all das andere erst? Alles nur Pappe!“
„Du solltest ihm aber zugutehalten, dass er den alten Apparat nicht hat reparieren lassen", gab Nancy wohlwollend zu bedenken. „Komm, es war doch auch schön, oder? Lass uns hinüber zum Fensterbrett summen.“
Beide schlenkerten mit den Flügeln und stießen sich von der Sessellehne ab, auf der sie solange gesessen hatten. Betty flog voran, Nancy folgte im vorschriftsmäßigen Sicherheitsabstand. Es war früher Nachmittag und die Sonne meinte es außergewöhnlich gut für diese Jahreszeit. Auf dem appetitlichen Misthaufen vor der Gartenmauer scharrten die letzten fünf Hennen fleißig nach irgendwelchen Würmern, die sie gierig verschlangen, sobald sie sie nur sicher genug im Schnabel wussten.
„Ich mag mir das Elend gar nicht betrachten“, stöhnte Nancy und wandte sich mit Grausen ab von dieser mörderischen Szene.
Der zugehörige Hahn, der aufgeplustert auf der Mauer hin und her stolzierte, bewachte von oben herab das geschäftige Treiben seiner Frauen, wobei er besonders die Rückfront seiner Schönen im Auge behielt, die im Wechsel auf und nieder wippten. Sein Kamm begann, zu zittern und zusehends aufzublühen. Wie eine kleine Flotte alter Barken schaukelten seine fünf lustigen Weiber auf dem Dunghaufen im Kreis herum. Er, ihr Admiral, folgte ihren Wellen. Plötzlich ein kurzer Schwindel, die Wolken am Himmel drehten sich, dann die Ohnmacht, die ihn mitten in den Kreis seiner Angebeteten stürzen ließ und ihn so vor dem unfehlbaren Tode bewahrte. Kopf- und hilflos stob die Familie aus- und durcheinander.
Nancy und Betty, die von ihrem sonnigen Plätzchen aus alles interessiert mit angesehen hatten, konnten nicht umhin, ein amüsiertes Lächeln aufzusetzen.
Während sich Nancy noch in bester Stimmung befand, verfiel Betty in immer finsteres Grübeln. Nancy war feinfühlig genug veranlagt, dies zu bemerken. Vorsichtig zog sie sich einige Schritte zurück, denn sie wollte sich hüten, der unverhofft eingetretenen Stille, die nun schon lange drei Minuten andauerte, durch ihre Schuld ein jähes Ende zu bereiten. Doch plötzlich brach es wieder wie gewohnt aus Betty heraus: "Mir kommt es vor, als würden die Grillen jetzt lustiger, mit viel mehr Harmonie ihr Mittagskonzert betreiben.“
Jetzt kriegt sie auch noch das Philosophieren, dachte Nancy.
„Jetzt, wo wir alles hinter uns haben, fühle ich mich außerordentlich erleichtert, so unbeschreiblich frei. Weißt du, Nancy, sie haben sich alles selbst zuzuschreiben. Hätten sie nicht mit uns und den anderen in Frieden zusammenleben können? Ich weiß es und sogar du weißt es, dass wir alle, dass jeder seine Bestimmung zu erfüllen hat. Nein nein, wir brauchen überhaupt keine Gewissensbisse zu haben. Das war schon in Ordnung, das mit dem Schalter. Glaubst du etwa, Rudi hat das Kabel nur uns zuliebe benagt? Der hatte auch genug Frust im Bauch, sonst wäre er nicht so schnell dabei gewesen.“
„Was meinst du“, fragte Nancy, „sollen wir die Kellertür auflassen?“
Rostock, 02. Juni 1993
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