Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Palastgeschichte


Fred glaubte, seinem eigenen Wunsch zu folgen, als er auf einen alten hölzernen Hocker stieg, um die Türen des mittleren Schrankaufsatzes öffnen zu können, in dem er eine Vase vermutete. Es ist nicht die Mühe wert aufzuzählen, was er dort alles vorfand, eine Vase war jedenfalls nicht darunter. Das war auch völlig egal, denn er brauchte sowieso keine Vase. Was ihm aber in die suchenden Hände fiel und seine sofortige Aufmerksamkeit erregte, denn eigens zu diesem Zweck hatte ich ihn dort hinaufklettern lassen, war ein alter zerknitterter Briefumschlag, auf dem „Gerhard H. Sommer ’76“ geschrieben stand und der eine ganze Reihe von Schwarz-Weiß-Fotos beinhaltete. Noch in schwindelerregender Höhe lasse ich ihn den länglichen Umschlag auffalten und probehalber zwei oder drei Bilder davon herausnehmen. Dann stieg Fred herab, wobei in ihm Erinnerungen aufstiegen und er seufzend dachte: Gerhard!

Vielleicht begann der Tag wie heute, trübsinnig und verheißungslos, wettermäßig aber nicht unfreundlich, als Fred morgens zum Bahnhof ging, um auf blauen Dunst nach Berlin zu reisen. Er verließ seine kleine Einraumwohnung mit Balkon, die er vor vier Jahren von der AWG bekommen hatte, und das Neubauviertel, dessen gleichförmige Wohnblöcke sich um einen kleinen unansehnlichen Tümpel scharrten, der für den Namen des Viertels Pate gestanden und dadurch eine ungerechtfertigte Aufwertung erfahren hatte: Igelpfuhl. Igelpfuhl, Block 17, Nr. 25 stand noch lange nach seinem Einzug als Anschrift in seinem Personalausweis, bevor die Straßenzüge ihren endgültigen Namen bekamen. Igelpfuhl und Block 17 wurde später durch Robert-Schulz-Ring ersetzt. Wer Robert Schulz war, blieb für die meisten Anwohner von untergeordnetem Interesse. Fred durchquerte die graue Betonwüste auf kürzestem Weg. Methoden eines anderen Bauens waren aus ökonomischen Gründen noch gänzlich unmöglich. Er gelangte so in die Brüssower Straße, wo zu beiden Seiten alte, noch durch Kriegsnarben gezeichnete Häuser standen, auf der er möglicherweise Brüssow, aber sicherer und in entgegengesetzter Richtung das Zentrum der Stadt erreichte. Ich muss mich berichtigen: Da Prenzlau im letzten Krieg seines Zentrums auf tragische Weise verlustig ging, hatte es seitdem keines mehr vorzuweisen. Wozu braucht der Mensch ein Zentrum, wenn er gesund ist. Fred marschierte auf der Schattenseite und blickte zu den ungestrichenen Fenstern auf, die, obwohl aus ihnen der blaue Morgenhimmel herausschaute, den Eindruck vermittelten, als hingen Jesuskreuze in der Mitte tiefer schwarzer Löcher. Von Fahrzeugen wurde die Straße gern gemieden. Einesteils der geschlossenen Bahnschranken und anderenteils des ruinierten Pflasters wegen. Denn Prenzlau war, wie jeder nachschlagen könne, seit alters her auch Garnisonsstadt. Zwei innig befreundete Armeen schickten seit Kriegsende auch über dieses Pflaster ihre Panzer zu gemeinsamen Manövern ins Feld. Fred erklomm die neue Fußgängerbrücke, die über die Gleise führte und die Bauernschenke mit der Welt dahinter verband. Oben blieb er stehen und sah sich um. Rechter Hand war der Bahnhof zu erkennen, linker Hand die neue Straßenbrücke, auch aus grauem Beton. Er blickte auf die rostbraunen Schienen hinunter und auf die zahllosen Zigarettenkippen, die im Schotterbett lagen. Zwischen den beiden Gleisen, auf denen fast pausenlos Züge verkehrten, war er vor Jahren mit einem alten Wartburg, den er als Dienstwagen fuhr, liegen geblieben. Ohne Schaden zu verursachen.
Bis zum Bahnhof blieben nur noch fünf Minuten, die er leichten Schrittes bewältigte, denn an Gepäck führte er nur eine kleine wildlederne Umhängetasche mit sich, die ein paar Klamotten für zwei, drei Tage beinhaltete. Für alle Fälle sozusagen. Er brauchte nicht viel. Das Wetter sollte sich angeblich halten und Pläne hatte er keine gemacht. Mal hierhin gehen, mal dorthin schauen, er würde es nehmen, wie es kommen sollte. Fred wollte durch die Hauptstadt schwimmen wie ein trockenes Blatt in einem Bachlauf ohne eigenen Antrieb. Diese Berlinfahrt sollte lediglich als Auftakt seines Sommerurlaubs dienen. Natürlich erhoffte er sich das eine oder andere kleine Abenteuer, was in seiner Heimatstadt nicht so ohne weiteres zu finden war.
Fred lehnte den Kopf an die Rückenlehne. Er hatte die Augen geschlossen, genoss das Gleichförmige und Einschläfernde der Zugfahrt und das wohlig wärmende Sonnenlicht, das durch die dicken Scheiben zu ihm ins Abteil drang. Der Morgen war unangenehm kühl gewesen. Fred hatte sich zwar für die Fahrt eine Lektüre mitgenommen, brachte aber nicht die Kraft auf, darin zu lesen. Nach jedem dritten Satz fielen ihm unweigerlich die Augen zu. Er ergab sich dem Unvermeidlichen, zwang sich aber aus Pietätsgründen nicht einzuschlafen.
Für gewöhnlich schritt Fred vor dem Einsteigen die ganze Länge des Zuges ab, um ein Abteil zu finden, in dem bereits eine hübscher Junge saß, dem er sich zwanglos gegenübersetzen konnte und mit dem sich während der langen Fahrt ein unverbindliches Gespräch anknüpfen ließe, was in den meisten Fällen damit endete, dass er eine Birne oder ein Stück Schokolade und seine Adresse hinterließ. Leider war es ihm in noch keinem Fall gelungen, so nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, dass sich irgendwelche schönen Folgen ergeben hätten. Oft hatte aber die Furcht einflößende Schönheit seines Gegenübers oder dessen außergewöhnliche Sturheit jede mündliche Kommunikation verhindert. Fred musste sich dann damit zufriedengeben, wenigstens etwas zu haben, worauf er hin und wieder blicken konnte, wenn die schon so oft erlebte Landschaft zu blöde wurde.
Diesmal hatte er weder einen Ansprech- noch einen Ankuckpartner gefunden, sodass er ein gänzlich leeres Abteil in Anspruch nahm und hinter sich die Tür schloss, was aber zwei rundliche Ehepaare nicht davon abhielt, hineinzustürmen und sich auszubreiten. Aus der gesunden Gesichtsfarbe schloss Fred, dass alle vier auf dem flachen Lande beheimatet waren. Sofort setzten sie ein durch häufiges Jauchzen unterbrochenes landläufiges Geplapper in Gang und wohl sortierte Verpflegungskörbe auf ihren Schoß. Es stellte sich heraus, dass sie zu einem größeren Kollektiv gehörten, welches sich der komplizierten Züchtung von Schlachtschweinen hingab und nun ebenfalls auf dem Weg nach dem ohnehin gestressten Berlin waren.
Das kann ja heiter werden, dachte Fred. Die Chance, dass sich doch noch was Gescheites in sein Abteil verirren würde, war damit unter null gesunken. Das Gesicht der Landschaft, die am Zug vorbeifuhr, wechselte von Augenblick zu Augenblick, das der Abteilgenossen blieb bis zum Ende der Fahrt dasselbe.
In der Hauptstadt angelangt, vollkommen zerschlagen und mit hängendem Magen, kümmerte sich Fred zunächst um ein halbwegs anständiges Frühstück. Die MITROPA bot ein mit vielen Preisen ausgezeichnetes Rührei aus ausgesuchten Frischeiern mit Toastbrot an. Sein Hunger war derart groß, dass es zu keinerlei Überlegungen hinsichtlich der Wahl kam. Sein aufgestauter Durst ließ auch den gereichten Tee großartig erscheinen.
So, wie geht es jetzt weiter, dachte er. Wohin hatte eine Provinzdrossel in Berlin zu gehen, wollte sie was erleben. Fred hatte nicht die leiseste Vorstellung davon. Er könnte Lothar besuchen. Aber bei dem war er nicht angemeldet und wer wusste, ob der überhaupt in Berlin war. Und wenn ja, ob Fred ihn allein antreffen würde. Mit Sicherheit wäre der um diese Zeit auf Arbeit. Er nahm sich vor, am späten Nachmittag bei ihm zu klingeln. Möglicherweise ergab sich dabei ein Plätzchen für die Nacht. Die Aussicht darauf war allerdings nicht all zu groß, denn Lothar hatte immer haufenweise andere Kühe zu melken. Ich muss mich erneut berichtigen: Bullen zu melken. Außerdem vermittelte ihm Lothar immer das Gefühl zu stören, ungelegen zu kommen. Dabei hatte Fred ihn durchaus gern und sie sahen sich eh nur alle paar Jahre einmal.
Kennengelernt hatten sich beide bereits vor vielen Jahren. Eines Tages war Fred einen Brief ins Haus geflattert, von einem Lothar, der sich mit ihm treffen wollte. Dieser damals noch vereinsamte Lothar hatte in der dunklen Greifswalder Bahnhofsklappe Freds Adresse gefunden und sie als erwartetes Zeichen des Himmels gedeutet. In der Prenzlauer Bahnhofshalle, wo Fred ihn erwartete, war es dann zu einer ersten Begegnung gekommen, der in mehr oder weniger kurzen Abständen weitere folgten. Sie trafen sich ausschließlich an Wochenenden, an denen man zwar nichts Großartiges unternahm, die aber Lothars riesigem Prügel wegen dennoch sehr intensiv durchlebt wurden. Natürlich kam es gelegentlich vor, dass beide zum Tanzen in den sogenannten Schuppen am Unter-Ueckersee gingen, besonders, wenn Freund Peter sie dazu drängte. An einem dieser Wochenenden, es war im Mai ’75, entstand Freds legendäres Stiefmütterchen im Format von hundert mal hundert Zentimeter. Eines Tages kam Lothar mit der Nachricht, dass er die Möglichkeit habe, nach Berlin zu gehen, und der Frage, was er machen solle. Bis dahin hatte es ihn kaum über den Rand seines Nestes am Greifswalder Bodden hinausgetrieben, abgesehen von seinen zaghaften Ausflügen nach Prenzlau. Und nun sollte er in das große Berlin gehen? Das war ihm nicht geheuer. Obwohl, reizen, würde es ihn schon. Zumal er jetzt wusste, wie leicht Bekanntschaften zustande kommen konnten, war man erst einmal von Mutters Schürze losgelassen. Fred hatte ihm offenen Herzens zugeraten. Er brauche vor der großen Stadt mit ihren vielen Menschen und all dem Neuen, was natürlich unweigerlich auf ihn zukommen werde, keine Angst zu haben. Die Hauptstadt sei schon etwas anders als sein Ostseedorf, ganz ohne Frage, aber er solle sich mal die vielen verlockenden Möglichkeiten ausmalen, die ihm der Großstadtdschungel böte, während er zu Hause lediglich in der Saison die Jungs am Effi anmachen könne, was zweifellos auch seinen Zauber habe, und das immer nur mit einem Auge nach hinten, dass ja kein Bekannter darauf zukäme. Berlin würde für ihn auf alle Fälle einen Schritt vorwärts bedeuten, wenn auch gleich ein ganz gewaltiger.
Mit seinem Überlebensdrang gelang es Lothar, in ganz kurzer Zeit Fuß zu fassen, die Stadt schnell und die entscheidenden Leute noch schneller kennenzulernen, was ihm bald eine eigene Wohnung einbrachte und ihn von Grund auf verwandelte. Er befand sich auf einem regelrechten Emanzipationstrip, auf dem er Fred weit hinter sich zurückließ. Wenn Fred ihn nicht anders kennengelernt hätte …
Erstmal hin zum Alex und dann weiter sehen, dachte Fred. Mit der S-Bahn waren es nur Minuten. Oder sollte er besser mit der U-Bahn fahren? Dort angekommen tauchte er in den beständigen Strom ein, der ins Centrum drängte, und ließ sich von ihm über sämtliche Rolltreppen bis ins oberste Stockwerk fluten, um dann langsam von Etage zu Etage wieder nach unten zu fließen. Nur schauen wollte er, nichts kaufen: Seine Ansprüche waren seinem Gehalt angepasst. Fred war sechsundzwanzig Jahre, blauäugig, vielleicht etwas zu blauäugig, und ein Angestellter von eins siebzig. Er schlenderte zum Hotel Berlin, welches die Ehre hatte, das höchste Haus am Platze zu sein, wo er sich die Freiheit nahm, im Wartebereich des ebenerdig gelegenen Herrenfrisiersalons einen Stuhl zu besetzen. Nicht, dass ihn die Notwendigkeit hier hineingetrieben hätte, nein, es war die pure Langeweile. Aber immerhin hatte er in Betracht gezogen, seine blonde Mähne etwas stutzen zu lassen, bevor sie am Nachmittag die Schultern erreichen würde. Fred war mit dem Einprägen der wartenden Gecken noch nicht halbwegs zurande gekommen, denn er wollte in der Hauptstadt nicht dadurch unangenehm auffallen, dass er nicht wusste, wann er an der Reihe war, als eine bekittelter Vortänzer zwar höflich, aber entschieden fragte, ob man denn einen Termin habe, denn ohne einen solchen liefe hier gar nix. Fred schaute erschreckt auf und in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen schien. Ganz offensichtlich war er gemeint, daran bestand kein Zweifel. Der Kittel grinste ihn an und wartete. Auch einige der wartenden Herren. Fred lief ob seiner provinziellen Naivität rot an, stand vorsichtig von dem Stuhl, der nicht seiner sein sollte, auf, trat ein paar kurze Schritte auf den Kittel zu und fragte bescheiden, wo man denn beantragen könne und ob überhaupt noch Möglichkeiten bestünden. Hilfe suchend blickte er in die fröhliche Runde mitleidiger Gesichter.
Friseur musste ja auch nicht unbedingt sein, sagte er sich, wieder draußen in der Sonne stehend, und schickte sich an, zum Fernsehturm hinüber zu schlendern. Noch so eine Attraktion, die man besucht haben musste! Vor dem Einlass zum Fahrstuhl schmolz eine unabsehbare Schlange in der Sonnenhitze dahin. Das Gepäck von sich geworfen, rieben sich die Leute mit einem Taschentuch irgendwelche Erfrischungsmittelchen auf die Oberarme und glatten Schädel. Fred betrat das zu Füßen des Turms gelegene weiträumige Ausstellungszentrum, in der eine Fotoausstellung zu bewundern war. Die Bilder waren durchweg von großem Format, wenige sogar in Farbe, und fanden sein ungeteiltes Interesse, bis eine größere Gruppe Jugendlicher, möglicherweise ein Klassenausflug, seine Aufmerksamkeit weckte, was ihn dazu veranlasste, sich doch lieber den laufenden Bildern zuzuwenden.
Da es wieder an der Zeit war, machte er sich in der Rathauspassage über einen halben Broiler her, der mehr als nötig tropfte, was ohne Serviette einigermaßen problematisch war. Dazu trank er Kola vom Fass. Nachdem Fred auch vom letzten Knochen den weichen Knorpel abgeknappert hatte, sich unter dem tropfenden Schirm eines kleinen bronzenen Mädchens, das zusammen mit anderen Figuren auf einem Zierbrunnen stand, so gut wie möglich gesäubert hatte, lenkte er seine nicht mehr ganz so forschen Schritte zum Palast der Republik, den er zwar schon kannte, aber dennoch immer wieder gern besuchte, denn er hatte Freude an dem großzügigen Bau mit seiner grenzenlosen Geräumigkeit und gläsernen Helle gefunden. Er schritt zum wiederholten Male die Galerie ab, in der nebeneinander moderne Gemälde deutscher DDR-Künstler in ihrer ganzen Monstrosität miteinander wetteiferten. Kleine Schildchen, die sich im Gegensatz dazu eher bescheiden ausnahmen, wiesen durchweg die bekanntesten Namen aus. Hier könnte er sich stundenlang aufhalten. Wie viel Neues gab es da nicht alles zu entdecken. Fred könnte sich aber auch zum Beispiel in einen der vielen weichen, lederbezogenen Sessel einsinken lassen und an dem Cocktailglas nippen, das er sich vorher an einer der Hallenbars erstanden hätte, oder sich einfach ans Geländer der Galerie stellen und von oben herab die vielen Leute beobachten, die unten scheinbar kopflos wie die Hühner hin und her irrten.
Fred hatte sich in seiner Weitsicht erst zu dem einen und dann zu dem anderen entschlossen. Deswegen stand er jetzt am Geländer, die Ellenbogen auf das unangenehm kalte Metall aufgestützt und den Kopf mit beiden Händen festhaltend. Hinter sich wusste er das weinrot uniformierte Personal überwiegend weiblichen Geschlechts, welches unermüdlich Runde um Runde in vorgeschriebener Weise patrouillierte. Dem war er bereits als observierungswürdiges Subjekt aufgefallen, als Fred über den Palastcañon hinweg auf der anderen Seite der Galerie ein ganz bestimmter Junge auffiel und sein Interesse weckte. Fred, der vor jeder Änderung seiner Situation grundsätzlich Angst hatte und sich sonst mit dem Fassen von kleinsten Entschlüssen außerordentlich schwer tat, brauchte in diesem Fall nur Bruchteile von Sekunden. Er schlenderte, schnellen Schrittes versteht sich und immer unter den Augen des aufmerksamen Personals, zur gegenüberliegenden Seite, um sich dort unauffällig, sofern das mit seinem Anputz überhaupt möglich war, denn er hatte eine gelbe Schlaghose und ein gelbrot-kariertes langärmliges Hemd an, in die Nähe des Jungen zu manövrieren. Fred war ganz Kunstliebhaber, zeigte sich entzückt von den aufgehängten Bildern und studierte ausgiebig solange die unbedeutendsten Details, bis er endlich in die unmittelbare Nähe seines Ziels vorgedrungen war, das er keine Sekunde aus den Blickwinkeln verloren hatte. Der Junge, knackige Jeans, helles T-Shirt, darüber eine Jeansweste, schien keine besondere Absicht zu verfolgen. Sein langsames Trotten über die Auslegware machte einen eher gelangweilten Eindruck. Er schaute hierhin und mal dorthin, ohne aber etwas Bestimmtes zu suchen. Blieb dann seinerseits für einige Minuten am Geländer stehen, um in die große Halle hinunter zu blicken, die von einer riesigen stilisierten Blume aus modernem blassgrünen Glas bestimmt wurde. Schließlich benutzte der fremde Junge eine schmale, weiße Steintreppe mit in Messing eingefassten Stufen in die nächsthöhere Etage. Fred zögerte angemessen, ließ erst eine gewisse Distanz entstehen. Sie sollte allen eventuellen Beobachtern seine Absichten verbergen und ihn dem Jüngling gegenüber nicht allzu aufdringlich erscheinen lassen. Gleichzeitig war Fred aber peinlich darauf bedacht, den Abstand nicht allzugroß werden zu lassen, denn der Junge sollte gleichzeitig und unbedingt spüren, dass er Gegenstand eines bestimmten Interesses geworden war und gefälligst positiv darauf zu reagieren habe. Eine ganze Weile schlich er so seinem Schwarm nach, wie ein Dieb auf leisen Sohlen, ohne dass sich auch nur eine einzige Gelegenheit ergeben hatte, sich ihm direkt zu nähern. Der blonde Hübsche stellte sich ans schwingende Ende der Schlange, die sich dort am Tresen der kreisförmigen Bar gebildet hatte. Mit den anderen wartete er geduldig darauf, von der ungewöhnlich tief dekolletierten, für die meisten wohl nicht unattraktive Bardame mit einem Drink bedient zu werden. Aus unauffälligen Lautsprechern plärrte laute und aufdringliche Tanzmusik auf die Barbesucher nieder. Die Einhaltung des vorgeschriebenen Anteils aus einheimischer Produktion war darin nicht zu erkennen. Alle Gäste, die nicht in der Schlange standen, waren entweder mit ihrem Glas beschäftigt, standen allein oder mit Bekannten oder Freunden besonders locker in der Gegend herum oder hingen in den Kunstledern. Der Junge war zwei Leute vor Fred dran und erhielt ein für DDR-Verhältnisse außergewöhnlich langstieliges Glas mit Zuckerrand über den Tresen gereicht, woraufhin er zur Brüstung ging und heftig an dem Trinkröhrchen zu saugen begann. Fred bestellte einen Martini. Er nahm immer Martini, egal, ob er ins Theater, in eine Bar oder sonst wohin ging. Er war aber diesem dekadenten Getränk keineswegs verfallen, nein, er tat dies nur, um den Geschmack zu vergleichen. Ihm hatte sich schon bei vielen Gelegenheiten die Möglichkeit geboten, dieses Getränk zu probieren, wobei er feststellen durfte, dass Martini nicht überall zwangsläufig Martini sein musste. Er nahm in einer großzügig bemessenen braunen Sitzecke Platz, schlürfte den ersten kühlen Schluck, das Eis im Glas war noch scharfkantig, und stellte dann das Glas vor sich auf den Glastisch ab. Fred hatte mit Bedacht diese Ecke gewählt, weil er von hier aus das Geschehen, und vor allem den Jungen, am besten im Blick behalten konnte. Er musste notfalls sofort bereit sein, aufzuspringen und wieder die Verfolgung aufzunehmen, sollte sich der Junge plötzlich in Bewegung setzen.
Vor genau zwei Jahren, erinnerte sich Fred, saß er zusammen mit einem Freund in eben dieser Ecke. Damals war er voller Begeisterung und Hoffnung nach Berlin gekommen. Die Idee dazu hatte Lutz geboren, dieser ahnungslose Junge aus seiner Straße. Sie könnten dann sogar bei seiner Schwester übernachten, hatte Lutz vorgeschlagen, allerdings müssten sie sich, da Platzmangel herrsche, eine Liege teilen. Das hatte Fred sofort überzeugt und sich im Geiste diese nicht vermeidbare Unbequemlichkeit in den erotischsten Farben ausgemalt. Daran zurückdenkend bedauerte er noch immer, dass daraus nichts wurde, denn sie hatten die Schwester nicht angetroffen. Genau wie diesmal stand Fred damals an der Bar an, als ihn ein junger Mann, so um die Dreißig, von der Seite ansprach und die bescheidene Frage äußerte, ob er so nett wäre, ihm zwei Drinks mitzubringen. Fred hatte rasch den Schock angenehmer Überraschung überwunden, die Frage bejaht und nach der Art des erwünschten Getränks geforscht. Dieser Mann, vielmehr dessen wesentlich jüngerer Begleiter, war ihm eben erst auf der Treppe aufgefallen. Lutz und Fred waren beim Hinaufgehen, während das andere Paar ihnen entgegenkam. Dabei hatte es sich ergeben, dass Fred dem jungen und wesentlich besser aussehenden Freund für lange Sekunden, gebannt von dessen magischer Ausstrahlung, tief in die Augen blickte, ohne dass der seinem Blick auch nur andeutungsweise ausgewichen wäre. Fred hatte sich in seinem tiefsten Innern getroffen gefühlt. Ein Blitz war durch seinen wehrlosen, für Momente gelähmten Körper gefahren. In Bruchteilen von Sekunden hatte sich zwischen beiden, ja, zwischen beiden, Fred täuschte sich da nicht, vermittelt allein durch den Blick, eine vollkommene Übereinstimmung hergestellt, die Fred mit Worten hätte nicht beschreiben können. Er wusste aber sofort: Das war es, wenn die Leute sagen, es habe gefunkt. Sein Herz war polternd die Treppe hinunter gekullert und unter den Füßen der Besucher für immer verloren. Wieder einmal hatte sich alles gegen ihn verschworen. Zum einen waren sie beide nicht allein und zum anderen hatte Fred einen Freund dabei, der auf beiden Augen blind war und nicht im Mindesten begriff, worum es ging. Selbst als er Lutz dann andeutete, nur um seine Reaktion zu prüfen, dass das wohl ein Freundespaar sei, für das er gerade die Drinks mitgebracht habe und von denen sie jetzt ganz aus der Nähe erwartungsvoll beobachtet wurden, schnallte er noch immer nichts. Oder konnte er sein Wissen um die Dinge nur besonders geschickt verbergen? Wie gern hätte sich Fred zu ihnen gesellt und wenigstens ein paar nette Worte mit den beiden gewechselt. In Prenzlau hatte Fred einen weiteren Freund wohnen: Der hieß Peter. Ich hatte ihn anfangs schon erwähnt. Auch mit dem war kein Reden. Was aber möglicherweise nicht Peters Schuld war, denn vor offenen Worten hatte Fred selber panische Angst. Ihm fehlte das bisschen Mut, ihm offen und ehrlich zu gestehen, was Fakt war. Vielleicht wäre ein vertrauliches Gespräch unter Freunden weit besser ausgegangen als vermutet und Peter hätte ganz einfach okay gesagt. Nur durch versteckte Hinweise und wage Andeutungen sollte Peter von selbst darauf kommen, was der natürlich zu tun sich hütete. Peter begriff mit Beharrlichkeit gar nichts. Oder wollte er nicht? Obwohl sie sich schon lange kannten, fürchtete Fred in ihm noch immer einen jener Spatzen, die scharenweise auf den Rändern der Dachrinnen saßen und nur darauf zu warten schienen, solche pikanten Neuigkeiten von oben auf die liebe Gemeinde herabflöten zu können, wie etwa: Fred ist schwul! Nur zu genau waren Fred noch die Gerüchte und das Getuschel in den Ohren: Haben sie schon gehört, der Drogist … ja und der andere macht die Frau! Diese widerliche Falschheit in den biederen Gesichtern! Peter hatte darüber hinaus noch eine weitere unverzeihliche Eigenschaft: Er war meist im Wege, wenn Fred jemanden abschleppen wollte.
Fred hatte seinen Martini längst ausgenippelt und schon geraume Zeit abwesend mit dem leeren Glas gespielt. Er wollte es auf den Tresen zurückstellen, als ihm bewusst wurde, dass auch der Junge schon lange sein leeres Glas gelangweilt in den Fingern drehen musste. Wie auf Kommando stellte auch der das Glas zurück. Sportlich räumte Fred ihm einige Meter Vorsprung ein und nahm von Neuem die Verfolgung auf. Der Junge benutzte die enge Treppe, auf der dichtes Gedränge herrschte, und stieg eine Etage tiefer und dann noch eine. Fred hatte Mühe ihm auf den Fersen zu bleiben. In kurzen Abständen sah sich der andere um, als suche er jemanden. Fred glaubte schon, er selbst sei derjenige, nach dem der Junge Ausschau hielt, oder täuschte er sich. Plötzlich, eben noch hatte das observierte Subjekt den ersten Fuß hinab auf die erste Stufe der ausladend breiten Treppe gesetzt, die zum Grund der großen Halle führte, da war er Freds Augen entschwunden, war wie vom Erdboden verschluckt. Verdutzt blieb Fred stehen und stierte in das Loch, das der andere hinterlassen hatte. Das konnte doch unmöglich sein, ärgerte er sich. Er hatte ihn keinen Moment aus den Augen gelassen und doch war der Junge nun unauffindbar. Hatte der geile Hades den armen Jungen gierig zu sich in die Tiefe gerissen? Fred schaute sich um, konnte aber nirgends die Spuren eines Spaltes entdecken, der sich unversehens quer durch den Palast aufgetan hatte. Weder unterirdisches Brodeln und Grollen noch schleimige Nebelschwaden, gelb und nach Schwefel und Hölle stinkend, beunruhigten die Besucher, die nach wie vor ahnungslos ihrer Wege gingen. Nichts! Der Junge war einfach weg, abgängig, von der Katz gefressen. Für immer.
Fred fühlte sich allein gelassen, verraten und verkauft. Wie im Dunkel tappte er die Treppe hinunter, stieß blind die Leute an, die ihm entgegenkamen. Verzweifelt und vergebens versuchte er, zwischen den fremden Gesichtern das eine schon vertraute wiederzufinden. Auf der anderen Seite ging er die Treppe wieder hinauf, umrundete noch einmal die Galerie, blickte fragend in die verschlossenen Fratzen des Personals, stieg abermals in die Halle hinab und verließ den Palast der Republik durch das gläserne Hauptportal. Nicht einmal eine Episode, dachte er, als er den sonnenüberfluteten Marx-Engels-Platz überquerte, der gewöhnlich als Parkplatz genutzt wurde. Zwischen den Pkws hindurch und an den Reisebussen vorbei suchte er sich seinen Weg zur Neuen Wache neben dem alten Zeughaus. Dort stellte er sich zwischen die Leute und griente ganz offen dem linken Wachsoldaten ins Gesicht, dem unter seinem Helm die Hitze zu Kopf stieg. Er sah nicht hässlich aus, war aber für Freds Geschmack eine Idee zu hoch. Auf der anderen Straßenseite befand sich das Operncafé, das auf seine Besucher nur wenig Eindruck hinterließ. Während Fred unter den Linden von Schaufenster zu Schaufenster bummelte und dann nach rechts in die Friedrichstraße einbog, verblasste nach und nach das blonde Gesicht des Schmetterlings, der ihm im Zickzackflug davongeflogen war und den er vergebens mit seinem Kescher einzufangen versucht hatte. Hier flatterten genug andere in der Sonne herum oder saßen auf den sparsam aufgestellten Bänken um die schillernden Flügel zu spreizen und damit irgendwelche hungrigen Prachtfinken anzulocken, ohne sich wirklich picken zu lassen. Sie alle waren wirklich strahlend, aber nur so bunt wie zulässig. Einigen darunter, wahre Exoten, die eigentlich aufgespießt und unter Glas gehörten, hätte Fred ganz gern einmal die zarten Flügel befingert. Zum Glück waren aber jedem Naivling aus der Provinz natürliche Schranken gesetzt, die ihn davor bewahrten, sich an diesen Feuervögeln, denn es waren nur scheinbar zerbrechliche Falter, die Finger zu verbrennen.
Obwohl es später Nachmittag geworden war, brannte die Sonne noch immer erbarmungslos und drückend. Die Stadt litt und stöhnte. Die wenigen Bäume in den Straßen wirkten alt und schwach. Ihre Blätter, die mit einem dicken, zähen Staubfilm überzogen waren, schrien genauso nach Wasser wie jeder Stein, aber nichts deutete darauf hin, dass in absehbarer Zeit mit einer erfrischenden Dusche zu rechnen war.
Fred ging über den Weidendamm und Kupfergraben, an der Museumsinsel vorbei, zurück zur Karl-Liebknecht-Straße. Beinahe wäre er ins Bodemuseum gegangen, ließ sich aber von dem Pulk Touristen, der gerade mit mehreren gut aussehenden Bussen herangekarrt worden war, davon abhalten. Ausgehungert strebte er erneut dem Alex zu, wo er versuchen wollte, etwas Ess- und Trinkbares aufzutreiben, bevor er von dort aus mit der U-Bahn bis Dimitroffstraße fahren würde. Die Eberswalder Straße, in der sein Freund Lothar in einem Hinterhaus ein geräumiges Zimmer mit Küche, aber ohne Bad und Klo, bewohnte, lag gleich um die Ecke. Wenigstens einen Versuch musste er unternehmen, wenn er schon mal hier war.
An der Südwestseite des Platzes war es zwischen Weltzeituhr und Centrum einem Café erlaubt, Tische und Stühle vors Haus zu stellen, was von zahlreichen Kunden dankbar angenommen wurde. Zwei aufgestylte junge Damen gaben sich denn auch redlich Mühe, den Wünschen ihrer Gäste nachzukommen. Ohne die entsprechende Aufforderung abzuwarten, nahm Fred an einem der freien Tische Platz und bestellte, nachdem eine der beiden Damen missmutig hinzugetreten war, ein Kännchen Kaffee, ein Stück Obsttorte und einen großen Weinbrandverschnitt. Unbewusst hatte er einen Stuhl gewählt, von dem aus er freie Sicht auf die plump wirkende Weltzeituhr hatte, die beliebter Treffpunkt für alle möglichen Verabredungen war. Bis seine Bestellung realisiert war, vertrieb er sich die Wartezeit mit dem Beobachten des regen Treibens im Umkreis dieses sich beständig drehenden Metallgebildes. Wie es schien, war man auf seinen Besuch vorbereitet, denn die junge Dame kam umgehend mit einem großen Tablett zu seinem Tisch zurück und baute vor ihm schweres olivgrünumrandetes Porzellan auf, das teilweise angeschlagen war. Fred goss selbst den Kaffee in die Tasse, tat sämtlichen Zucker und die Hälfte der Milch hinzu, rührte befriedigt um und probierte einen ersten Schluck. Dann roch er am Weinbrandverschnitt, um sich eine gewisse Vorfreude zu verschaffen, und ergriff die Kuchengabel. Er rückte den Stuhl etwas dichter zum Tisch, zog den Teller mit der Obsttorte mehr zu sich heran, und zwar genau auf die unglückliche Position, auf die Sekundenbruchteile später eine gehörige Portion weißgrau gesprenkelte Sahne, vom Himmel hoch, da kam sie her, äußerst satt auf den Teller klatschte. Heulend wie ein Stuka hatte eine Spreemöwe ihre unheilvolle Last sicher ins Ziel gebracht und war nun zur Vollzugsmeldung auf dem Rückflug. Etwas verwirrt über soviel Glück winkte Fred der jungen Dame zu, die durchaus Verständnis zeigte, als er ihr die ungebetene Bescherung präsentierte. Das Ersatzstück wurde gänzlich unbürokratisch herausgegeben, sogar der Zucker, den er sich zusätzlich erbeten hatte, machte keinerlei Probleme. Sie kassierte aber vorsichtshalber. Die schwarze Börse, in die sie das Geld gesteckt hatte, ließ sie auf geheimnisvolle Weise in dem winzigen Spitzenschürzchen verschwinden, das nur die Mitte ihres Bauches bedeckte und über dem ausdrucksstarken Po mittels einer überdimensionalen Schleife zusammengehalten wurde.
Es war angenehm, hier im Schatten zu sitzen und Zeit zu haben. Der Alex war ein weites Feld, auf dem pausenlos Leute hin und her strömten, wie Ameisen, die ihre Orientierung verloren hatten. Das war sie also: Die kleine große Welt, und hier traf sie sich. Und mitten unter ihnen die Ahnungslosen vom Lande.
Fred war sich selbst gegenüber in hemmungsloser Geberlaune und so bei seinem zweiten Kännchen Kaffee und dem zweiten Weinbrandverschnitt angelangt, als sich ein vorwitziger Alexspatz auf die Rückenlehne des linken Stuhls niederließ und in Erwartung übrig bleibender Kuchenkrümel neugierig die Tischplatte und das sich darauf befindliche Geschirr beäugte. Der kleine gefiederte Besucher bewegte den Kopf unablässig hin und her, wobei er mit dem rechten Auge Fred und mit dem linken den Weinbrandverschnitt zu beobachten schien. Anfangs fand Fred das noch lustig, aber als der Spatz plötzlich auf den Tisch hüpfte, sah sich Fred veranlasst, dem frechen Treiben ein Ende zu setzen. Gerade wollte er eine Hand heben, um den Vogel fortzuscheuchen, als ihm etwas sehr merkwürdiges auffiel. Lag es an dem Fusel, den er getrunken hatte oder hatte der Spatz tatsächlich bunte Strümpfe an? Zusammen mit diesem törichten Gedanken vertrieb er den Spatz von seinem Tisch. Der flog in Richtung Weltzeituhr davon. Während Fred dem Vogel noch immer zweifelnd nachschaute, bemerkte er am Geländer des U-Bahn-Zuganges, unweit der Weltzeituhr, einen Jungen, der dort herumstand, zur Weltzeituhr hinüberging, wieder zurückkehrte, sich gelangweilt übers Geländer des U-Bahn-Zuganges hängte, dann wieder unschlüssig ein paar Schritte hin und her lief und auch auf seine Verabredung zu warten schien. Aus der Entfernung hatte Fred den Eindruck, als entspräche der Junge haargenau seinen Vorstellungen. Nun war Eile geboten! Er winkte die Kellnerin zu sich, um bei ihr seine zweite Zeche zu bezahlen, trank alles aus, denn er ließ nie etwas stehen, und ging zielstrebig auf die Treppe zu, die zur U-Bahn hinunter führte, wobei er den Jungen keine Sekunde aus den Augen ließ. Der Junge am Geländer sah ihn kommen, Fred spürte dessen Augen auf sich gerichtet, löste sich vom Geländer, trabte dann langsam die Stufen zur U-Bahn hinunter und war verschwunden, bevor Fred zur Stelle war. So eine Scheiße aber auch, dachte Fred. Wollte heute gar nichts klappen? Erst einmal hinterher und dann weitersehen, war wohl das Beste. Ziemlich hastig sprang er die glatten Stufen hinunter, immer zwei auf einmal nehmend. Seine Augen hatten Mühe, sich so schnell der zunehmenden Dämmerung anzupassen. Zügig bog Fred um die rechte Ecke und prallte unversehens auf den Jungen, dem er nachgeeilt war und der nun dort stand, um auf ihn zu warten. Erschrocken schnellte Fred zurück. Er musste sich sammeln und zu sich kommen.
Noch bevor Fred den Mund auftun konnte, um irgendeine Entschuldigung zu stammeln, sprach ihn der Junge an: „Warum hast du mich nicht schon heute Nachmittag angesprochen?“ Die Stimme klang freundlich und war voller Zutrauen. Der Jungen brauchte keine Schrecksekunde überwinden.
„Wer, ich? Wieso? Heute Nachmittag? Ich verstehe kein Wort!“ Fred war ganz verdattert und wie vor den Kopf gestoßen. Wovon redete der? Seine mangelnde Schlagfertigkeit schnürte ihm den Hals zu.
„Na, im Palast!“, sagte der Junge. „Ich bin extra die breite Treppe hinuntergegangen, um dir damit zu sagen, dass du mir folgen sollst. Aber auf einmal warst du weg.“
Eilig machte sich auf Freds Gesicht die Schamröte breit. Das war ein gelungener Streich, den ihm da sein phänomenales Personengedächtnis gespielt hatte. Ein Gemisch aus Freude und Ärger durchwogte ihn. Freude darüber, seinen Schwarm aus dem Palast doch noch wiedergefunden zu haben und ihn womöglich behalten zu dürfen. Ärger darüber, dass er nicht schon im Palast den Mut oder die Dreistigkeit besessen hatte, ihn anzusprechen, und über die dadurch nutzlos vertane Zeit.
Nachdem das geklärt war, hielt sie nichts noch länger in diesem dunklen U-Bahn-Kellerloch. Beide gingen nebeneinander durch das trübe Dämmerlicht den Bahnsteig entlang. Die Wände hinter den Gleisen waren schmucklos gefliest, dreckig und wirkten kalt. Fahrplan- und Reklametafeln und halb volle Papierkörbe stellten sich ihnen in den Weg. Es waren nur wenige Fahrgästen, die an ihnen vorübereilten. Schon weit vor dem nächsten Aufgang wehte ihnen ein warmer Hauch ins Gesicht. Selbst bis hier unten war die Sommerhitze vorgedrungen. Die Treppe, die sie emporstiegen, war grau und staubig, ihre Stufen ausgetreten. Oben umschloss sie dann die namenlose Masse, die zu dieser Zeit Straßen und Plätze belebte. Fred fühlte sich verpflichtet, seinen neuen Freund einzuladen, irgendwo etwas zu trinken.
Bei einem Bier und einer Cola, der Junge trank das Bier, kam dann eine erste, aber freimütige Unterhaltung zustande, in der beide Seiten mit indiskreten Fragen versuchten, das Möglichste aus dem Anderen herauszuholen. Wie heißt du? Wo kommst du her? Was machst du?
Fred erzählte, er sei eigentlich nur für ein paar Stunden aus seiner kleinen engstirnigen Kreisstadt hierher nach Berlin entflohen, um auch mal etwas Atmosphäre zu schnuppern und vielleicht, wer weiß, auch noch was zu erleben, dass er jetzt sechsundzwanzig sei und noch immer allein, ohne festen Freund, denn die Stadt mit ihren fünfundzwanzigtausend Einwohnern, aus der er kam, böte dazu kaum die Gelegenheit. Und doch beeilte sich Fred zu versichern, dass er natürlich auch dort nicht die ganze Zeit wie eine Kuh trockengestanden habe. Denn es gab schon gewisse Möglichkeiten, vielleicht bei einer Disco oder so, nette Jungs kennenzulernen, die sich dann noch auf ein Glas mit nach Hause nehmen ließen. Die seien aber allesamt nur abenteuerlustige Eintagsfliegen und selber nicht schwul gewesen. Sicher, es sei auch vorgekommen, dass der eine oder andere, nachdem sie dann für ein paar Stunden oder vielleicht sogar die halbe Nacht zusammen waren, ein-, zwei- oder sogar dreimal wiedergekommen sei.
Fred dachte dabei besonders an Eddi, den er in Gedanken jetzt liebevoll Tadzio nannte, denn er hatte gerade vor Kurzem erst in Leipzig den Film „Tod in Venedig“ gesehen, der ihn sehr nachhaltig beeindruckt hatte. Er hieß eigentlich Edmund. Glück hatte er mit dem gehabt, großes Glück sogar.
Meist war es aber mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden, wollte er einen willigen Jungen, der ihm gefiel und bei dem er sich Chancen ausgerechnet hatte, mit zu sich nach Hause nehmen. Der Umstand, dass Fred ungern allein ausgehen mochte und sich deshalb Peters oder eines anderen Freundes Begleitung sicherte, brachte es dummerweise mit sich, dass er stets und ständig unter mehr oder weniger intensiver Bewachung stand. Hier waren dann auf die Schnelle Ideen gefragt, die seine Bloßstellung vor den Freunden und Nachbarn verhindern sollten.
Irgendwo aß Fred mit seinem neuen Freund eine Kleinigkeit zu Abend. Während sie danach durch die immer noch belebten Straßen von Berlin bummelten und die Zeiger der Uhren unaufhaltsam weiter und weiter vorrückten, wurde es endlich schummerig. Die Frage, wo sie beide hätten hingehen können, war noch immer nicht geklärt, sie war noch nicht einmal gestellt worden. Fred kannte sich kaum aus in dieser Stadt und einfach in einen dunklen Torweg oder Hausflur zu gehen und dort eine schnelle Nummer abziehen, dazu war er zwar alt, aber einfach nicht abgebrüht genug.
Von Gerhard, so hieß sein schöner Begleiter, wusste Fred inzwischen, dass der aus einem noch kleineren Nest stammte und demzufolge weit beschissener dran war. Wollte er was erleben, und das war in seinem Alter fast pausenlos der Fall, dann war er gezwungen, sich in die Bahn Richtung Berlin zu setzen. Die Entfernung war zum Glück nur ein Katzensprung. Und den tue er ziemlich oft, gab er zu, das fiele ihm überhaupt nicht schwer. Mit seinen achtzehn Jahren müsse er ganz einfach raus an die frische Luft.
„Ich würde dabei kaputtgehen, dürfte ich immer nur auf dem Klo sitzen und vor mich hin wichsen“, hatte er gemeint. „Ich bin jedem Menschen dankbar, der mich wenigstens ein Stückchen aus dieser Scheiße rauszieht.“
Fred hatte ihm dabei in die Augen gesehen und jedes Wort geglaubt. Am liebsten hätte er ihn auf der Stelle in die Arme genommen. Aber hier, vor all den Leuten?
„Eigentlich wissen es alle, dass ich schwul bin, und ich bin stockschwul“, betonte Gerhard. „Auch in meiner Klasse wissen sie es.“
Was ist stockschwul, fragte sich Fred, der im Gehen noch dichter an ihn heranrückte und mit seiner Hand, wie zufällig, die von Gerhard berührte.
Gerhard sah ihn dankbar an und fuhr fort: „Und deswegen habe ich keinen Studienplatz bekommen. Rechtswissenschaft wollte ich studieren.“
Fred sah ihn ungläubig an.
„Die haben natürlich nicht zu mir gesagt, hör mal zu, du bist schwul und bekommst deswegen keinen Studienplatz von uns. Nein, das waren alles fadenscheinige Ausflüchte, die die gebrauchten. Schulisch war ich immer sehr gut, da gab es nichts. Sogar in der FDJ habe ich immer aktiv mitgearbeitet. Alles umsonst!“
Er schwieg und wirkte echt verzweifelt. Sie lehnten am gusseisernen Geländer der Weidendammbrücke und spuckten abwechselnd in die dunkle Brühe der Spree, auf der sich auch die Lichter des Friedrichstadtpalastes spiegelten. Der Himmel war wolkenlos geblieben und hatte sich jetzt mit einer langen Sternenkette behängt. Fred schubste mit der Schuhspitze einen Kiesel durchs Geländer ins Wasser, dann klopfte er sich den Dreck von den Ärmeln, denn das Geländer war sehr staubig.
Im Weitergehen fragte Gerhard neugierig: „Wie hast du eigentlich diesen Eddi, von dem du vorhin erzählt hast, kennengelernt?“
„Ach ja, Eddi“, Fred tat einen ausgiebigen Seufzer, „das ist auch so eine Geschichte für sich. Der ist mir mal im Foyer unseres Kinos aufgefallen …“
Während Fred in einer seiner schönsten Erinnerungen schwelgte, der Gerhard wohlwollend sein offenes Ohr lieh, überquerten beide die hellerleuchtete Friedrichstraße, auf der kaum noch Verkehr herrschte, was recht ungewöhnlich für eine Hauptstadt sein dürfte. Zu Hause wäre der Himmel jetzt stockfinster, hier aber behielt er ein gewisses Leuchten, durch das hin und wieder die blinkenden Positionslichter irgendwelcher Flugzeuge zogen. Wenigstens die Luft hatte sich merklich abgekühlt und wirkte wiederbelebend. Unmerklich war es spät geworden. Beim Erzählen war die Zeit wie Äthertropfen auf einem Wattebausch verflogen. Ihre jungen Füße hatten längst zu streiken begonnen, sie waren es müde, immer und immer wieder neues Pflaster zu treten.
Beide hatten schon im Stillen und jeder für sich darüber nachgedacht, wie dieser Abend enden sollte und vor allem, wo. Was machte man in einer großen Stadt, in der man nicht zu Hause war, wenn man es nicht wie Hund und Katz ungeniert auf den Straßen treiben wollte? Irgendwelchen weitläufigen Parks waren leider keine greifbar. Wo fanden sie einen verschwiegenen Ort, an dem die seit Stunden aufgestauten Wünsche nach den Zärtlichkeiten, den sanften Berührungen, den stürmischen Umarmungen und den Küssen des anderen endlich in Erfüllung gingen? Wo sie sich einander in Liebe hingeben konnten, mit gespreizten Schenkeln und mit vollen Lenden, die zu bersten drohten, ohne unangenehme Überraschungen befürchten zu müssen?
Sie suchten und fanden sehr schnell eine intakte Telefonzelle. Mit Telefonbuch! Es lag an der Kette wie Senta vor ihrer Hundehütte bei Freds Eltern auf dem Dorf. Unter der relativ einfachen Sammelbezeichnung „Hotels“ suchten sie diejenigen heraus, die sich in der Nähe befanden und keinen allzu teuren Eindruck machten, kramten alles Kleingeld zusammen und begannen die Nummern zu wählen. Bald hatten sie Erfolg. Ein kleines Hotel in der Clara-Zetkin-Straße hatte noch ein Zweibettzimmer frei. Es war nahe dem S-Bahnhof gelegen, sie brauchten nur ein paar Hundert Meter zurückzulaufen. Der Dame am anderen Ende der Telefonleitung kündeten sie erfreut ihr sofortiges Erscheinen an. Das Haus, in dem das Hotel untergebracht war, machte einen unscheinbaren Eindruck. Der Eingang war leicht zu übersehen und der Name des Etablissements nicht beleuchtet. Die Rezeption lag ein oder zwei Treppen hoch. Je höher Fred, mit Gerhard an seiner Seite, die knarrenden Holzstufen hinaufstieg, desto mehr beschlich ihn ein mulmiges Gefühl, welches er nicht recht einzuordnen wusste, das zwar mehr in der Magengegend angesiedelt war, ihm aber auch Herzklopfen machte. Es war für ihn das allererste Mal, dass er sich mit einem Jungen, also zu diesem Zwecke gewissermaßen, ein Hotelzimmer nahm. Er hatte Angst davor, was die Dame an der Rezeption, die am Telefon so freundlich gewesen war, sagen würde. Er machte sich auf alle möglichen Anspielungen gefasst, stellte sich ihr Gesicht vor, das vielleicht in sich hineingrinste. Würde sie womöglich irgendwelche blöden Fragen stellen, auf die man dann mit irgendwelchen Ausreden antworten müsste? Auf jeden Fall würde sie merken, was los ist. Und davor hatte er am meisten Schiss. Jetzt ärgerte er sich, dass er in diesem auffallendem Anputz nach Berlin gereist war. Er trug eine modische, oben eng und unten mit ordentlichem Schlag geschnittene Hose von himmelschreiendem Gelb, dazu Schuhe mit Absätzen so hoch, dass einem beim hinuntersehen schwindlig werden konnte, und ein Hemd, welches in einer Reihe von ausgesucht schönen Rot- und Gelbtönen durch und durch kariert war. Als die Sonne noch schien, krönte eine Sonnenbrille seine Nase. Die stak jetzt zusammengefaltet in der Brusttasche des Hemdes. Zu Hause wäre er nie im Leben in diesem pfingstochsenmäßigen Aufputz herumgelaufen. Den Provinzlern fehlte jegliches Verständnis hierfür. In der Hauptstadt kannte ihn niemand, hier durfte er. Aber nun würde er gleich seinen Personalausweis zücken und sein ganzes Herz auf den Tresen des Empfangs ausleeren müssen.
Die Treppe war nicht gefegt. Zumindest nicht in der jüngeren Vergangenheit. In ihren Ecken wirbelten bei jedem Schritt kleine graue Staubflocken wie Zuckerwatte im Kreis herum. Auf der vergilbten Wandtapete, deren übergroßes Blütenmuster wahrscheinlich schon so manchen Besucher zu Tode erschreckt hatte, hingen stufenförmig angeordnete Bilder, hinter deren Glasrahmung farbige Hauptstadtansichten zu erkennen waren, die auf Pappe klebten und aus einem großformatigen Kalender ausgeschnitten schienen. Gerhard schwebte völlig unbeschwert empor. Wie ein gasgefüllter Luftballon, den die haltende Hand losgelassen hatte und der jetzt zu den dunklen Nachtvögeln hinaufflog. Hatte der überhaupt seinen Ausweis dabei, überlegte Fred. Solche dringenden Einzelheiten hatten sie über die bloße Idee hinaus völlig versäumt zu besprechen. Fred wollte ihn im letzten Moment noch am Ärmel zurückziehen, aber da standen beide bereits vor der Empfangsdame, die ihre Zigarette ausdrückte und wartend hinter der Barriere stand. Sie lächelte den Neuankömmlingen freundlich entgegen, und während sie ihnen die Hand hinreichte, sagte sie: „Einen sehr schönen Abend wünsche ich ihnen! Sie sind wohl die beiden Herren, die gerade angerufen hatten? Dann bekomme ich bitte die Ausweise.“
Sie las laut und deutlich den Namen und die Anschrift eines jeden und füllte eigenhändig die weißen Anmeldeformulare aus. Gerhard hatte also vorgesorgt. Und er hieß in der Tat so und wohnte dort, wie er es Fred anvertraut hatte. Er war durchaus nicht unerfahren in der Benutzung von Hotels, denn er hatte schon so manche Nacht mit jemandem in einem Hotelzimmer verbracht, wie er später gestand. Die immer noch freundliche Dame, deren Alter so unbestimmbar war wie das der Kaufhallenkartoffeln, verwahrte die Formulare und händigte den beiden jungen Männern wortlos lächelnd den Zimmerschlüssel aus, an dem ein überdimensionales Nummernschild hing. „Die Treppe hinauf!“, sagte sie und deutete mit der Hand in deren Richtung. Sie schien weltfraulich genug, um keinen Anstoß an den Bedürfnissen der beiden jungen Männer zu nehmen.
Das zugewiesene Zimmer befand sich einige Treppen höher, deren Anzahl nach sie sich längst über dem Dach hätten befinden müssen. Es war recht winzig, nur mit dem Allernotwendigsten ausgestattet. Aber es genügte ihren Ansprüchen, denn für viel Bequemlichkeit würden sie in den nächsten Stunden ohnehin keine Zeit haben. Es war hinreichend, dass ein Doppelbett in der Mitte stand. Zu erzählen gab es jetzt nichts mehr, sodass sich noch langes Hinsetzen erübrigte. Erwartungsvoll, mit abstehender Hose und klopfendem Herzen, entledigten sie sich gegenseitig jedes ihrer Kleidungsstücke. Die fielen entgegen allen Ordnungsprinzipien wahllos durcheinander zu Boden. Schließlich verhedderten sich beide während des Küssens, weil sie die Übersicht verloren hatten, und schlüpften dann im Adamskostüm unter die noch saubere Bettdecke.
Am nächsten Morgen stiegen sie die Treppe wieder hinunter, um ihre Rechnung zu bezahlen. Hinter dem Tresen saß nun ein noch junger Mann, der kaum Notiz von dem Liebespaar nehmen wollte, das da reichlich abgeschlafft vor ihm stand und das Geld zu ihm rüber schob. Gleichgültig strich er die Scheine ein, ohne nennenswert von seiner nach frischer Druckerschwärze duftende Zeitung aufgesehen zu haben. „Schön Tach noch!“, sagte er zum Abschied.
Dass diese Nacht ihnen nicht das bescherte, was sich beide von ihr erhofft hatten, Fred nicht inniger als Gerhard, lag nur unwesentlich an dem blöden Bett, das jede geringfügigste Regung der beiden lauthals in die aufhorchende Welt hinausposaunt hatte. Nein, Fred konnte einfach nicht mit der neuen, ungewohnten Situation klarkommen. Kaum lagen sie eng umschlungen, gab das Bett die ersten Klagen von sich. Je intensiver die beiden vorgingen, und das war in der Anfangsphase schwer zu vermeiden, desto lauter schrie es in den Himmel hinein, was die Schwulen auf ihm trieben. Sie bemühten sich daraufhin, in ihren Bewegungen verhaltener zu werden. Es war aber aus. Aus und vorbei! Während sich Gerhard über ihn beugte und liebevoll bemüht war, Freds Schwanz am Leben zu erhalten, dem wie einem kaputten Fahrradschlauch die Luft ausgegangen war, dachte Fred nur fortwährend an die Empfangsdame. Gewiss lutsche die da unten genüsslich an ihrer Zigarette, ganz genau wissend, was sich hier oben abspiele. Dass die möglicherweise mit dem anderen Personal jetzt über sie redete. Gesehen hatten sie zwar niemanden. Am Morgen würden dann alle auf der Treppe stehen und die Köpfe zusammenstecken, wenn sie beide runtergingen. Diese Gedanken gingen ihm selbst dann noch durch den Kopf, als sie es längst aufgegeben hatten, auf ein Wunder zu hoffen: die Auferstehung Christi vielleicht. Bis in die frühen Morgenstunden hinein hatte Fred keinen Schlaf gefunden. Das Gehirn drehte sich und pfiff in seinem Schädel wie einst der große blecherne Brummkreisel seines Neffen. Dabei war es doch das Natürlichste von der Welt, redete er sich zu, dass zwei Menschen, die sich mochten und eventuell liebten, auch miteinander ins Bett stiegen. Alter und Geschlecht sollten dabei überhaupt keine Rolle spielen. Gerhard war sowieso achtzehn, also nicht einmal das Gesetz brauchte er in diesem Falle zu fürchten. Ein Gesetz, das mithin das entbehrliches war, von dem er wusste.
Zu Hause würde es besser laufen, da hatte bisher noch alles geklappt, was er sich vorgenommen hatte, freute sich Fred, denn sie waren übereingekommen, dass sie am Nachmittag gemeinsam nach Prenzlau fahren wollten. Gerhard war mitten in den Ferien und drauf und dran, sich tot zu langweilen, sodass er Freds Einladung sofort dankbar angenommen hatte. Fred sah schon seinem schönsten Urlaub entgegen. Das würden herrliche Tage werden!
Beide verspürten einen ordentlichen Knast in der Röhre. Da das Hotel nicht darauf eingerichtet war, derart primitive Begierden zu befriedigen, blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich in die freie Wildbahn hinaus zu wagen, um ein geöffnetes Frühstücksbüfett zu finden, über welches sie dann gemeinsam herfallen konnten.
Danach verabschiedeten sich beide voneinander, aber nicht ohne sich nochmals über Ort und Zeit zu verständigen, wo und wann sie wieder aufeinandertreffen wollten. Es war Fred vollkommen klar, dass Gerhard vorher nach Hause fahren musste, um ein paar Sachen einzupacken und auch mit seinen Eltern zu reden.
„Meinst du, deine Eltern lassen dich so einfach weg?“, hatte Fred besorgt gefragt und sich die Unmöglichkeit seiner Blitzidee vor Augen gehalten.
„Die machen keine Probleme mehr. Und außerdem bin ich achtzehn!“, war Gerhards Antwort.
„Du brauchst doch bestimmt Fahrgeld“, sagte Fred und hielt ihm einen Sparkassenscheck entgegen.
„Bist du blöd oder was? Ich hab selber Geld genug!“
„Wenn du ihn nicht brauchst, gibst du ihn mir in Prenzlau zurück, einverstanden?“
Gerhard stieg in die S-Bahn und war verschwunden. Fred sah der davonfahrenden Bahn nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann ging er die Treppe zur Straße hinunter und begann, von Geschäft zu Geschäft zu bummeln. Irgendwann und irgendwo saß er auf irgendwelchen Bänken rum oder lief ziellos durch unbekannte Straßen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er vielleicht beide, Gerhard und seinen Scheck, im Leben niemals wiedersehen werde. Sein Hirn wehrte sich dagegen, es war nur bemüht, die vergangene Nacht zu verarbeiten und sich die kommenden in den buntesten Farben auszumalen. Fred musste sich die Jacke, die er über den Arm trug, eine Weile vor den Bauch halten, so deutlich sah er sie voraus.
Der Tag wurde heißer und heißer. Wie ohnmächtig schlich Fred durch Berlin. Jeglicher Spaß floss mit den Schweißtropfen dahin, die unablässig in kleinen Rinnsalen kitzelnd das Rückgrat hinunter rannen oder unter dem dichten Haaransatz hervorsickerten. Unter seinem dichten blonden Haar, das glatt bis auf die Schulter stieß, kochte es. Wohin konnte er nun noch gehen? Aber seine Beine waren stadtmüde und die Fußsohlen brannten wie Feuer. Er wusste nichts mehr mit sich anzufangen, war völlig am Ende. Warum tat die Zeit nicht ein paar Sprünge, war auch sie am Ende? Jetzt in Prenzlau, dachte Fred, wäre er längst mit dem Fahrrad an den See gefahren, um sich dort im flachen Wasser oder auf der Decke liegend die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Wieder blickte er auf seine Festivaluhr, deren Design etwas zu klobig geraten war, um entsetzt festzustellen, dass die Zeit tatsächlich große Schwierigkeiten hatte, vorwärtszukommen. Irgendwo, so schien es, war sie mit einem Schlüpfergummi festgeheftet.
Mindestens eine gute Stunde vor der fahrplanmäßigen Abfahrt des Zuges erschien Fred erwartungsvoll und aufgeregt in der Schalterhalle des Ostbahnhofs, dem verabredeten Treffpunkt, wo er sofort voller Ungeduld auf Gerhard zu warten begann, auch wenn die vereinbarte Zeit noch längst nicht heran war. Um sich zu setzen, wählte er eine Bank ohne Rückenlehne, die beinahe mitten in der Halle stand, von wo aus er ungehindert die vielen Reisenden mit ihrem mehr oder weniger umfangreichen Handgepäck beobachten konnte. Wo die klebrigen Wände nicht durch Türen, Treppenaufgänge, die zu den Bahnsteigen führten, Schalterfenster, durch die blau uniformierte Schalterinnen Fahrausweise verkauften, blassgrüne Gepäckschließfächer oder schwere Papierkörbe aus Beton verbaut waren, da wimmelten lückenlos Leute, die entweder auf dem kühlen Steinfußboden oder auf ihren Koffern saßen oder sich stehend gegen die Wand lehnten. Alle in dem Bestreben vereint, sich den Rücken frei zu halten. Denn sie hatten Angst, dass ihnen plötzlich die Zeit zeigerbewaffnet in den Rücken fällt. Fred genoss den Rundblick. Unter den Wartenden befand sich so manch hübsches Knabengesicht, dem er angemessene Aufmerksamkeit schenkte. Aber vor allem konnte er bequem sämtliche Eingänge im Auge behalten. Durch einen musste jeden Moment Gerhard die Halle betreten. Die große stark ramponierte Flügeltür öffneten sich und herein schob sich ein großer Koffer oder eine vollgepfropfte Reisetasche, der die Nähte zu platzen drohten. Dann erst folgte das beleibte Herrchen nach, worauf die beiden Flügel der Tür mit bedrohlicher Härte erst zurück und wieder vorschwangen, abwechselnd gegen die Hacken des Davonspringenden schlagend. In ihrer Mitte versuchten sie, die braune Lederleine festzuklemmen, an deren unsichtbarem Ende ein kleiner Waldi hilflos der drohenden Strangulation preisgegeben war. Durch die hintere Tür kam ein dreizehnjähriger Knabe mit Rollschuhen an den Füßen hereingelaufen, durchkurvte laut polternd die Schalterhalle, sodass sich alle Leute zu ihm umsehen mussten, und verließ sie wieder durch die gegenüberliegende. Immer öfter schaute Fred auf die große Reichsbahnhofseinheitsuhr, deren einziger Schmuck der aus Vorkriegszeiten stammende Fliegendreck auf der runden Glasscheibe war. Sie hatte ein schwarzes Blechgehäuse und ein weißes Ziffernblatt, auf dem sich zwei balkenförmige Zeiger weigerten, zügiger voranzuschreiten. Weil es bei der deutschen Reisebahn nicht so genau drauf ankam, konnte bei dieser Art von Uhren auf den aufwendigen Einbau eines Sekundenzeigers verzichtet werden. Langsam, aber immerhin geräuschlos, quälte sich der längere Zeiger dem ausgemachten Zeitpunkt entgegen. Das Ticken wäre neben dem ostbabylonischen Stimmengewirr, den ohrenbetäubenden und von den Wänden widerhallenden Kinderschreien und den unverständlichen Lautsprecherdurchsagen ohnehin nicht zu vernehmen gewesen. Das jeweils zuständige Elternteil rief ebenso lautstark die eigenen Kinder zur Ordnung und das sie sich gefälligst nicht außer Sichtweite begeben mögen. Oder sie gestikulierte mit Händen und Füßen, um den ausgelassenen Bälgern Einhalt zu gebieten. Hunde waren ausschließlich an der Leine zu führen! Eine noch junge Mutter, die ihr Kind auf dem Arm hielt, rief laut das befreiende Wort „Scheiße“ in den Saal, woraufhin das Kleine schuldbewusst zu heulen begann. Ihr war beim Zusammenzählen des Fahrgeldes die Geldbörse zu Boden gefallen. Der Inhalt hatte sich flatternd verteilt. Das wenige Hartgeld trennte sich und kullerte unter den Anfeuerungsrufen der Umstehenden in alle Richtungen davon. Diensteifrig sprangen sofort einige junge Männer der ansehnlichen und hilflos dreinschauenden Mutti zur Seite.
Fred besah sich erneut seine Armbanduhr und verfolgte den Umlauf des dünnen Sekundenzeigers, der mit verbundenen Augen wie ein Ochse im Göpelwerk mit stoischer Gelassenheit unaufhörlich seine Runden zog. Die innere Unruhe, die seinen Blick immer häufiger zwischen den Türen und der Uhr pendeln ließ, hatte ihn inzwischen voll im Griff, denn in fünfzehn Minuten sollte der Zug abfahren und es war Zeit, sich zum Bahnsteig zu begeben. Der vereinbarte Zeitpunkt war längst überschritten und noch immer war von Gerhard nicht das mindeste Zipfelchen zu sehen. Fred erhob sich, ging nervös auf und ab und wartete bis zur allerletzten Sekunde, lief dann zum Zug, der abfuhr, kaum das er seinen zweiten Fuß in die Tür gezogen hatte. Er zog das Fenster runter und blickte enttäuscht auf die Leute, die auf dem Bahnsteig stehend zurückblieben. Immer schneller werdend fuhr der Zug an ihnen vorüber.
Obwohl der Zug voller Menschen war, fühlte sich Fred einsam. Gerhard, der sich als Schuft erwiesen hatte, hatte es vorgezogen, ihn allein fahren zu lassen. Nachdem Fred, von Waggon zu Waggon wandernd, endlich einen Sitzplatz gefunden hatte, kroch er in sich zusammen und schaltete die Welt ab. Allein mit seinen Gedanken, die ihm im Bauch umhergingen, die Augen geschlossen, das Rattern des Zuges gerade noch wahrnehmend, döste er dahin. Niemand war mitgekommen und niemand würde ihn zu Hause erwarten, dachte er, geschweige denn ihm auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause entgegenkommen, wie es vor Jahren Gerd-Günter getan hatte, wenn Fred alle vierzehn Tage fürs Wochenende aus Berlin nach Hause kam. Hiervon unbeirrt brachte ihn der Zug nach Prenzlau.
Es klingelte. Einmal kurz, dann länger anhaltend. Es war Abend geworden. Fred saß vor dem Fernseher, dessen Programm ihn aber nur wenig unterhielt. Unentwegt dachte er an Berlin zurück. Er hatte sich noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen und machte sich jetzt wegen des Blankoschecks die größten Vorwürfe. Sollte er zur Bank gehen? Und was sollte er denen erzählen? Wenn er wenigstens einen Betrag eingetragen hätte, dann wäre der Schaden absehbar gewesen. Vierhundert Mark konnte ihn der verpasste Spaß kosten. Er durfte nicht mehr daran denken, den Kontoauszug würde er noch früh genug bekommen. Es wird der Nachbar sein, dachte Fred und schlurfte unlustig zur Wohnungstür. Vielleicht sollte er wieder selbst gemachten Likör probieren. Das wäre jetzt nicht das Schlechteste. Es klingelte erneut.
„Ja doch!“, rief Fred genervt und öffnete. Hätte er etwas in den Händen gehabt, wäre es bestimmt zu Boden gefallen. Der Schreck oder besser die Überraschung, die ihm bei dem Anblick durch alle Glieder fuhr, wäre nicht größer gewesen, wenn vor der Tür ein Elefant mit zwei Köpfen gestanden hätte. Sprachlos stand Fred da und wusste nicht, was er tun sollte.
„Hallo, hier bin ich!“, kam ihm von draußen entgegen. Mit dem strahlendsten Werbelächeln der Welt stand Gerhard, bepackt mit einer ungeheuren Menge an Klamotten, vor der Tür und begehrte Einlass. „Das ist ja ein ganz schön weiter Weg hieraus!“, meinte er keuchend. „Aber wenn ich geahnt hätte, dass du mich nicht reinlassen willst, wäre ich zu Hause geblieben!“ Gerhard freute sich über die gelungene Überraschung.
„Na komm schon“, bat Fred und lotste Gerhard durch die zu enge Wohnungstür. „Warum sollte ich dich nicht reinlassen? Ausgerechnet dich! Ich dachte nur, es wäre mein Nachbar. Mit dir habe ich doch gar nicht gerechnet.“ Er nahm ihn so gut es ging in die Arme, küsste ihn auf eine freie Stelle und befreite ihn dann vom lästigen Gepäck.
„Das scheint wohl mein Schicksal zu sein.“
„Was?“
„Dass niemand mit mir rechnet.“
„Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du mich nicht hast sitzen lassen. Im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Es ging nicht anders!“
„Ich war jedenfalls enttäuscht von dir und ganz schön sauer“, beschwerte sich Fred und nahm ihn erneut in die Arme. „Na los, erzähl!“
„Ich konnte einfach nicht so schnell von zu Hause wegkommen. Hat eben nicht ganz so geklappt, wie ich es geplant hatte. Und dann musste ich noch alles lang und breit erklären. Wo ich hinwill, wer du bist, woher ich dich kenne, na und so.“
„Und was hast du ihnen erzählt?“, fragte Fred.
„Die Wahrheit.“
„Ach! Und was haben sie dazu gemeint?“
„Meine Alten? Wie ich überhaupt dazu komme? Was mir einfällt? Das kennst du bestimmt.“
„Schon, aber nicht in dem Zusammenhang. Meine Eltern wissen von nichts. Und deine, ich denke, sie wissen Bescheid?“
„Das schon, aber das heißt doch noch lange nicht, dass sie mich gleich jedem an den Hals werfen.“
„Oh! Verstehe“, sagte Fred.
„Nun bin ich aber hier, wie du fühlst, und ich freue mich, dass ich dich angetroffen habe. Blöd wäre es gewesen, wenn ich hier auf ein verlassenes Nest gestoßen wäre. Während der ganzen Fahrt hatte ich Angst davor.“
„Was hättest du dann gemacht?“, wollte Fred wissen.
„Ich wäre einfach wieder zurückgefahren. Oder meinst du, ich hätte hier auf die Schnelle noch was anderes gefunden?“, antwortete Gerhard schelmisch. „Hier! Habe ich nicht gebraucht.“ Er reichte Fred, dem eine Wagenladung Steine vom Herzen fiel, den Scheck zurück.
Noch immer im engen Korridor stehend führte Fred seinem Gast jetzt von hier aus seine AWG-Einraum-Wohnung vor, die neben der Stube den Luxus einer Küche, eines separaten Bades mit Toilette und eines nach hinten rausgehenden Balkons vorzuweisen hatte. Da die Räume alle nicht sonderlich groß waren, besaßen sie zudem den Vorteil, dass man in der Raummitte stehend jegliches in Armeslänge greifbar vorfand. Als wahres Schmuckstück hing im Korridor eine selbst gezimmerte Flurgarderobe an der Wand. Deren großer Spiegel machte die bedrückende Enge etwas weiter. An der Stirnseite des Korridors hing ein groß gemusterter bunter Vorhang von der Decke und verbarg den dahinterstehenden Kleiderschrank. Ein dezent gestreifter rotbrauner Kokosläufer schmiegte sich vertraulich an das braune Linoleum, auf das die volkseigenen Handwerker zur Belustigung des Mieters Myriaden von Farbspritzern hinterlassen hatten. Bevor Fred die nach frischem Putz riechende Wohnung beziehen konnte, musste im Bad mühsam der Terrazzo freigelegt und alle Fenster durchsichtig gemacht werden. Damit hatten sich aber alle vereinten Kräfte erschöpft. Seine Eltern hatten ihm beim Saubermachen hilfreich zur Seite gestanden. Für die Reinigung des Fußbodenbelages war keine Kraft mehr übrig. Am funktionellsten war von den Architekten der Korridor gestaltet, in dem beide standen. Er bestand nur aus Türen. Eine davon führte zwangsläufig in die Küche, die bis auf den Kühlschrank beim Einzug bereits vollständig eingerichtet war. Und zwar schlicht, billig und geschmacklos. Für die Tausend kleinen Dinge, die in die Schränke gehörten, hatte Fred selbstverständlich selber zu sorgen. Auch hier lag ein Kokosläufer, der praktischerweise, anders als im Korridor, alle Brotkrumen, die von Freds gedecktem Tische fielen, lautlos und begierig verschluckte. Das Badezimmer glich einem Schlauch. Auf der linken Seite reihten sich die Gasheizung, die Badewanne, das Wasch- und das Toilettenbecken hintereinander. Der Platz für eine Waschmaschine war nicht vorgesehen. Fred nahm Gerhard bei der Hand und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Gerhards Sachen im Wege lagen. Gleich links in der Ecke stand der hellbraune Kachelofen. Aus den Fugen über der Ofentür war bereits der Lehm herausgebröckelt. Das Ofenblech davor war zerschrammt und mit etwas Asche bestäubt. Zwischen Ofen und Fenster stand eine sogenannte Anbauliege aus dem Leipziger Versand-Kaufhaus mit einem Regalteil am Fuß- und einer Kombination aus Bettkasten und Nachttisch am Kopfende. Die Auflage, für zwei eigentlich zu schmal, aber für besondere Angelegenheiten ausreichend, war rot bezogen. Da es der Liege an einer Rückenlehne mangelte, hatte Fred der Bequemlichkeit halber zwei mit geblümtem Markisenstoff bezogene Matratzenteile daraufgestellt, was schlichtweg beschissen aussah. Das Quadratmeter-Stiefmütterchen in Öl, welches darüber hing, machte sich dagegen ganz gut. Rechts davon hing, ganz dazu passend, die Reproduktion einer uralten Weltkarte auf Leinwand. Das Ding hatte ihn dreiundsiebzig in Berlin knappe hundert Mark gekostet. Für den Rahmen hatte der Glaser ebenso viel verlangt. Es war ein wirklich gutes Stück, nur nicht selten. Unter dem Fenster vegetierte eine gewaltige aber nutzlose Musiktruhe aus den Fünfziger Jahren dahin, so schätzte Fred. Sie hatte an beiden Seiten halbrunde lackierte Türen. Öffnete man sie, kam eine gähnend leere Bar zum Vorschein. Fred hatte dieses einstige Schmuckstück von seiner Woldegker Tante mütterlicherseits nur geerbt, weil es die Westverwandtschaft nicht ins Auto bekam. Aber die Bar war damals schon leer gewesen. Obendrauf lag eine dicke Glasplatte, unter der sich eine gehäkelte Decke befand. Dieses antike Monster wurde nun als Stellplatz für ein schweres Staßfurter Schwarz-Weiß-Fernsehgerät missbraucht. Eigentlich hätte die Truhe statt des Tisches in die Mitte des Zimmers gehört, denn in ihrem rückwärtigem Teil gab sie einen altertümlichen Apparat frei, mit dem wohl einst Platten abgespielt wurden. Darunter war noch Raum genug für ein Regal.
Die rechte Wand des Zimmers wurde in ihrer ganzen Länge von einer Vielzahl unterschiedlich großer Spanplattenkästen eingenommen. Sie hatten praktischerweise Türen, Schubfächer oder Glasscheiben, die man nach Belieben hin und her schieben konnte, und waren ringsum mit einer Papierfolie beklebt, welche eine Art Rüsterholz verblüffend echt nachahmte. Die einzelnen Kästen hielten sich an schmale Stahlprofile fest, mit denen sie sicherheitshalber verschraubt waren. Diese Baukastenanbauwand war eigens erfunden worden, um alleinstehende junge Männer dafür zu bestrafen, dass sie sich schon in jungen Jahren eine eigene Wohnung einrichten wollten. Vor der Liege stand ein Ausziehtisch, genauso viel aus Rüster wie die Schrankwand. Den restlichen Raum teilten sich zwei Drehsessel, ein großer gepolsterter Drehhocker und ein flacher Blumentopftisch, alles aus weiß gespritztem Kunststoff. Für eine schmale Person ohne allzugroßen Bewegungsdrang ließ es sich hier gut leben. Es scheint unmöglich, und dennoch ist es wahr, dass Fred hier gleichzeitig mit mehreren Freunden Feste feierte. Gerhard schaute sich um, ohne sich zu äußern. Wahrscheinlich konnte sich Fred keinen besseren Geschmack leisten, dachte er.
Während sich Gerhard mit seinem Gepäck beschäftigte, stellte Fred in der Küche ein ordentliches Abendbrot für seinen Gast zusammen, der sich nach der anstrengenden Bahnfahrt und für die Nacht stärken sollte. Danach machten sie es sich in der Stube bei einer brennenden Kerze und einer Flasche Weißwein aus der Kaufhalle gemütlich. Sie sprachen über dies und jenes, erzählten von sich, was der andere wissen durfte oder sollte, und machten auch Pläne für die nächsten Tage. Es wurde später und später, sie redeten und redeten. Und während sie sich müde redeten, waren sich beide nicht zu nahe gekommen. Unmerklich waren Hemmungen aufgetaucht.
„Soll ich uns das Bett machen?“, fragte Fred etwas zitterig.
„Ja, das ist eine gute Idee. Bin auch schon ziemlich müde.“
„Bist du zu müde?“, fragte Fred vorsichtig.
„Nein, natürlich nicht. Hab mich schon die ganze Zeit darauf gefreut. Ich dachte schon, wir müssen hier die ganze Nacht sitzen bleiben. Kann ich dir helfen“, fragte Gerhard.
„Ich mach das schon“, sagte Fred, der bereits mit dem Bett begonnen hatte.
„Na gut, dann gehe ich schon mal ins Bad.“
Als auch Fred aus dem Bad zurückkam, kuschelte er sich an Gerhard, der längst wartend unter der Decke lag. Sie waren mit Lust auf den anderen und mit Frieden in der Seele ins Bett gegangen und diesmal klappte alles bestens. Denn ihre Körper fühlten sich genauso frei wie ihre Seelen.
Obwohl dieser gemeinsame Urlaub mit Gerhard schon so viele Jahre zurückliegt, spricht Fred noch heute davon als einem der Schönsten, den er je erlebt habe, denn er war damals bis über beide Ohren verliebt. Es war das erste Mal, dass er mit einem Jungen so intensiv zusammen war. Seine Affäre mit Gerd-Günter hatte zwar wesentlich länger gedauert, aber die Zeit mit Gerhard war irgendwie ganz anders. Sein Zusammensein mit Gerd-Günter, und auch das mit all den anderen Jungs, die er vorher hatte und noch nachher haben sollte, beschränkten sich meist auf ein paar Nächte oder schnelle Stunden, in denen noch nicht einmal viel passierte. Immer war man zu schnell fertig miteinander: ran, rauf und aus! Sich gegenseitig einen abzuwichsen, war oft alles, was nach Freds trickreichen Inszenierungen herauskam. Kein Gedanke dabei an Liebe. Die Tage mit Gerhard waren etwas ganz Besonderes. Und dies musste an Gerhard, als dem viel Jüngeren, gelegen haben, meint Fred heute. Vielleicht lag es aber auch ganz einfach daran, dass Gerhard schwul war. Bei allem, was sie taten, brachte Gerhard ihm innige Zuneigung und herzliche Liebe entgegen. Das kannte Fred bis dahin nicht. Das war neu.
Von allen gemeinsamen Unternehmungen, die meisten hatten sich auf den Unter-Ueckersee beschränkt, blieb Fred vor allem eine in Erinnerung. Und zwar, weil ihm zwei Äußerungen bemerkenswerte erschienen. Und die kamen nicht von Gerhard.
Obwohl sich Fred an allen Tagen bemüht hatte, Freunden oder Bekannten aus dem Weg zu gehen, war er doch neugierig darauf, wie seine Eltern auf Gerhard reagieren würden. Ganz wohl war ihm natürlich nicht bei der Sache. Er traute sich dennoch, zumal er Gerhard unbedingt die schöne Umgebung von Fürstenwerder zeigen wollte.
Es musste an einem Sonnabend oder Sonntag gewesen sein, denn als beide in den Bus nach Fürstenwerder einstiegen, waren noch alle Sitzplätze leer.
„Und wo wollt ihr beiden Hübschen hin?“, fragte der Busfahrer in freundlich-vertraulichem Ton, als Fred bei ihm die Fahrkarten kaufen wollte. Als der Bus dann anfuhr, ohne dass noch weitere Fahrgäste dazugestiegen wären, huschte ein ahnendes Lächeln über das Gesicht des Fahrers. Er meinte: „Werde euch mal ein bisschen Musik anmachen.“
Musik im Linienverkehr war sonst auf dieser Strecke nicht üblich. Aber vielleicht weil Sonnabend oder Sonntag war und weil niemand im Bus saß, der sich hätte beschweren können. Gerhard bewegte und gab sich in allem zwar ziemlich frei, Verdächtiges war ihm doch nicht anzusehen. Jedenfalls nach Freds Meinung. Das goldene Kettchen, das er um den Hals trug und in Wirklichkeit eloxiertes Alu war, mit dem auffallend großen Bernsteinherz als Anhänger, das auch nur nachgemacht war, konnte unmöglich diese Liebenswürdigkeit ausgelöst haben. Und Fred hielt sich selbst natürlich nicht für jemanden, dem sein Schwulsein ins Gesicht geschrieben stand. Sah man es ihnen womöglich schon von weitem an, wie glücklich sie waren? Wie glücklich sie miteinander waren? Dass Fred auch schon den jüngeren Sohn des Fahrers vernascht hatte, der sich dafür dann mit sehr nützlichen Zubringerdiensten revanchierte, konnte wohl kaum eine Rolle spielen.
Unsere beiden Verliebten hatten es sich im hinteren Teil des Busses gemütlich gemacht und hielten unbeobachtet Händchen. So waren die fünfundzwanzig Kilometer bis ins heimatliche Dorf schnell heruntergefahren. Nur in zwei oder drei Dörfern musste angehalten werden, weil irgendwelche Leute einsteigen wollten. Es waren aber nur wenige. Die Dörfler hatten am Wochenende keine Zeit, Spritztouren zu unternehmen. Damals fuhr Fred noch regelmäßig in kürzeren Abständen zu seinen Eltern nach Hause. Wie immer wurde er auch diesmal mit großer Freude empfangen, ganz so, als käme er eben total verstaubt von einer Weltreise zurück, was praktisch natürlich nicht möglich war. Gerhard wurde als dazugehörig betrachtet. Es lag wohl an seiner einnehmenden Art, dass er nicht als Fremder abgetan wurde. Fred fiel ein Stein vom Herzen. Er war recht froh darüber, dass sein junger Freund so gute Aufnahme fand. Aber auch schon Peter hatten seine Eltern so viel Freundlichkeit entgegengebracht. Die Sache war nur die: Mit Peter hatte er nie etwas gehabt. Hätten seine Eltern etwa ahnen sollen, dass er was mit Gerhard hat? Nur seine Mutter sagte unerwartet, als sie mit Fred einen Moment in der Küche allein war: „’n lüttn söten Fründ hest du di dor utsöcht!“ Fred erschrak. Sollte sie doch irgendwas ahnen von seinen Ambitionen? Woher er ihn denn kenne, wollte sie dann auch noch so nebenbei erfahren. Darauf wollte er natürlich nicht wahrheitsgemäß antworten. Das blieben aber die einzigen Versuche, Fred auszuhorchen. Sein Vater hatte keine Fragen. Er würde höchstens das wiederholen, was er schon öfter gesagt hatte, wenn die Frage auf den Tisch kam, wann Fred nun endlich heiraten wolle: „Nu lot emm doch!“
Da große Ferien waren, hatten seinen Eltern, wie in den vergangenen Jahren auch, bereits einen anderen kleinen quirligen Gast im Haus. Der elfjährige Ulf war aus Neustrelitz gekommen, um hier bei Oma und Opa ein paar lockere Ferientage ohne allzu strenge Aufsicht zu genießen. Da Ulf ein sehr lieber und außerordentlich anhänglicher Junge war, mochten Fred und Gerhard ihm die dringend vorgetragene Bitte, uns begleiten zu dürfen, nicht abschlagen. Die beiden Glücklichen hatten sich eben angeschickt, das Mittagessen war gerade beendet worden, einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. Fred wollte Gerhard all die Orte zeigen, die ihn mit ganz speziellen Erinnerungen verbanden. Aber daraus würde nun im Beisein von Ulf nichts werden. Zu dritt durchquerten sie den hinterm Haus gelegenen Garten und passierten eine enge Pforte in der Stadtmauer. Über einen abschüssigen Pfad gelangten sie hinunter zur Promenade, die um das ganze Dorf und an beiden Seen vorbeiführte, die ihn von Norden und Westen her einschlossen. Die Sonne schien prächtig auf die Kronenblätter der riesigen Kastanienbäume, die zu beiden Seiten des Weges seit Menschengedenken wuchsen. Kaum ein Lüftchen wehte über den moorigen Damm-See herüber, wo sich hinter einem breiten Schilfgürtel Möwenkolonien und Schwäne die Reviere streitig machten. Sie wandten sich nach links. Hier führte sie die Promenade an der alten und etwas windschiefen Fischerhütte vorbei. Sie stand weit draußen wie die Bieberburg auf Pfählen im See und war durch einen noch windschieferen Brettersteg mit dem Ufer verbunden. Hier wich der See nach Norden aus und machte rechts vom Weg Platz für mit Hecken umwehrte Gärten. Wo der Platz ausreichte, waren auch zwischen Weg und Stadtmauer Gärten angelegt. Fred hatte sich wie gesagt vorgenommen, Gerhard all jene heimlichen Winkel vorzuführen und davon zu schwärmen, wo er als unschuldiges Kind mit seinen ebenso unschuldigen Freunden die ersten und letzten berauschenden Abenteuer erlebt hatte. Da ihnen aber Ulf keinen Augenblick von der Seite wich, höchstens mal ein paar Schritte vorauslief, dann aber sofort wieder wartete, als könne er was verpassen, durfte Fred nichts vom Schilf verraten, in dem ausgedehntes Weidengestrüpp den Kindern verschwiegenen Halt gegeben hatte, nichts zu der Fischerhütte, nichts zu dem kleinen grünen Rasenflecken neben dem mysteriösen Eiskeller, auf dem er einst mit Karl-Friedrich gezeltet hatte, und auch zu all den anderen Orten nichts, an denen sie noch vorbeikommen würden.
Ulf, durch keine Hemmungen zurückgehalten, stellte während ihrer Wanderung viele neugierige Fragen, deren Beantwortung gut überlegt sein wollte. Was ihn dann zu der plötzlichen Feststellung: „Ihr liebt euch wohl beide!?“, veranlasste, blieb aber ungeklärt. Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel fuhr es Fred durch die Glieder, Gerhard schien nicht so sehr davon betroffen. Doch sprachlos blieben sie beide für die nächsten Augenblicke. Automatisch spähte Fred sofort die Gärten rechts und links des Weges nach irgendwelchen Lauschern aus. Es war niemand zu sehen. Erleichtert atmete er auf. War das eine Frage, auf die der Knirps eine Antwort erwartete, oder lediglich eine vorlaute Feststellung, überlegte Fred krampfhaft. Am besten gar nicht darauf eingehen. Welcher Teufel hatte dem Jungen diesen gefährlichen Satz in den Mund gelegt? Hockte vielleicht Pan hinter einem der dicken Kastanienbäume und lachte sich ins Fäustchen? Hatte der elfjährige Ulf am Ende bereits soviel Verstand, um sich über solche Dinge Gedanken zu machen? Das wäre ja beängstigend. Hier auf dem Lande besonders! Und das er auch noch Verständnis dafür aufbringen könnte, war doch wohl erst recht nicht drin, oder? Fred wusste einfach nicht ob und wenn ja, wie er reagieren sollte, wo er sich selber noch nicht einmal ganz im Klaren darüber war, wie die Sache mit seinem Schwulsein einzuordnen war. Hätte er freimütig zugeben sollen, ja, wir lieben uns, wir haben uns gern wie deine Mutti und dein Papa? Wie hätte die Familie auf dieses Geständnis reagiert? Im Hause von Freds Eltern, die Mutter neunzehnhundertneun und der Vater neunzehnhundertelf geboren, wurde im Beisein des Sohnes über alles, was irgendwie auch nur in die Nähe von Sexualität gehörte, nie ein Sterbenswörtchen verloren. Und über Homosexualität schon gar nicht. Wer weiß, ob seine Eltern überhaupt jemals davon gehört hatten, ob sie wussten, dass es so was gibt. Eine Frage wäre dann aber ein für alle Mal vom Tisch gewesen, die Fred bis dahin und später noch so viele Male überhören musste: „Wann heiratest du denn nun endlich, Junge?“
Natürlich war der Urlaub mit Gerhard viel zu kurz gewesen und zu schnell vergangen. Sie hatten sich von ihrer Liebe auf Zeit hemmungslos treiben lassen, ganz so, wie der warme Wind das schwerfällige Ruderboot, in dem sie ihre nackten Körper sich und der Sonne dargeboten hatten, leicht quer über den Unter-Ueckersee bis in eine stille, weidenumstandene Bucht hineingetrieben hatte. Nur das Schilf, das von aber Millionen kribbeliger Läuse bevölkert war, und die Weiden wisperten sich vertraulich und unablässig zu, was sie sahen. Für einen Moment lang hatte auf dem schaukelnden Bug des Bootes, von dem kreisförmige Wellen davonschwammen, eine grünblau schimmernde Libelle platzgenommen. Ungläubig drehte sie ihren Kopf mit den riesigen Augen hin und her und flog wieder davon, als ein hungriger Spatz mit bunten Strümpfen auf sie Jagt machte.
Weiter trieben sie durch die Tage und immer weiter, bis sie sich dann voneinander Abschied nehmend auf einem der Prenzlauer Bahnsteige gegenüberstanden und nicht die Traute hatten, einander in die Arme zu nehmen, obwohl ihnen so sehr danach zumute war. Sie hatten sich wohlweislich nur wenig Zeit für Wehmut gelassen. Schon forderte der Lautsprecher zum Einsteigen und Türenschließen auf.
„Komm gut nach Hause!“
„Schreib mal!“
„Bestimmt.“
„Tschüss!“
Gerhard schloss hinter sich die Wagentür, hinter deren matter Scheibe er winkend stehen geblieben war. Auch Fred hob den Arm und winkte. Langsam glitt die Tür an ihm vorüber. Er bildete sich ein, auf Gerhards Wange eine Träne gesehen zu haben. Fred blieb solange allein auf dem Bahnsteig zurück, bis der Zug nicht mehr zu sehen war. Die wenigen Reisenden, die hier ausgestiegen waren, waren längst durch das Bahnhofsgebäude hindurchgehastet und auf dem Weg in die Stadt oder hatten sich in der schmuddeligen Mitropa einen Platz gesucht, um nach der Fahrt ein relativ kühles Bier zu trinken. Fred stand noch immer zwischen den gusseisernen Pfeilern, die die Bahnsteigüberdachung trugen. Über ihm hing drohend die schwere Bahnhofsuhr. An der Anzeigetafel ging hinter dem Wort „Berlin“ das Licht aus. Obenauf saß ein Schwalbenpärchen dicht gedrängt und döste im Schatten vor sich hin.
„Na, ist dein Besuch nun wieder weg?“, tönte die Stimme seines Nachbarn hinter Freds Rücken, als er dabei war, die Wohnungstür aufzuschließen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er gleich weiter: „Bist du kommenden Sonnabend zu Haus? Wir wollen uns über die Böschung hermachen, da muss unbedingt das Unkraut raus.“
„Ich bin mit Sicherheit hier. Wann soll es denn losgehen?“
Als Fred dann endlich die Tür hinter sich zumachen konnte und alle sommerlustige Welt draußen ließ, wurde ihm halbwegs bewusst, dass er wieder allein war, denn seine Gedanken waren noch bei Gerhard. Er schleuderte seine Schuhe unter die Flurgarderobe, auf der noch die Sonnenbrille aus Polen lag, die Gerhard so gern getragen hatte. Die hätte er ihm als Andenken mitgeben können, aber das hatte seine Knickrigkeit erfolgreich zu verhindern gewusst. Er legte die ABBA-Platte auf, die sie in den vergangenen Tagen rauf- und runtergehört hatten, öffnete die Balkontür, soweit es ging, und haute sich auf die Liege. Er schloss die Augen und lauschte der Musik.
Es dauerte nicht lange, da kam der erste Brief, in dem sich Gerhard für die sehr schönen und glücklichen Ferientage, die er erlebt habe, zu danken verpflichtet fühlte. Aber kaum zu Hause, schrieb er, habe ihn schon wieder die Schwermut befallen, vor der er leider nur kurze Zeit habe entfliehen können. In einem späteren Brief schrieb er dann resigniert, dass sich mit seinem Studienplatz noch immer nichts getan hätte, er habe nur immer neue Ausflüchte und Ausreden zu hören bekommen. Wir wollen oder wir dürfen dich nicht nehmen, weil du schwul bist, wagte niemand zu bekennen. Dann eines Tages, Fred war inzwischen nach Rostock übergesiedelt, kam ein Brief mit optimistischem Grundton ins Haus geflattert. Einem wagen und sehr fragwürdigen Optimismus, den Fred nicht teilen mochte. Er habe vor Kurzem ein sehr nettes Mädchen kennengelernt, schwärmte Gerhard, die er bestimmt zu lieben glaube. Sie wisse Bescheid über seine Homosexualität, weswegen sie schon gemeinsam bei einem Spezialisten gewesen seien. Mit ihrer, des Mädchens und des Spezialisten, Hilfe werde er es ganz sicher schaffen, von seiner Homosexualität loszukommen. Dann werde doch noch alles gut werden. Auch mit dem Studium! Sicher. Er sei ja noch jung.
Armer Junge, dachte Fred, der den Brief zweimal hatte lesen müssen, um das zu fassen, was drinstand. Wohin hatten die dich getrieben? Ihm fiel das Wort „stockschwul“ ein, das Gerhard so gern gebraucht und auf sich bezogen hatte. Fred versuchte, sich in Gerhards Lage zu versetzen und vorauszusehen, was für Schwierigkeiten und Komplikationen, welche seelischen Folterungen auf ihn zukommen würden, wollte er ernsthaft versuchen, das zu verwirklichen, wovon er in seinem Brief gesprochen hatte. Obwohl Fred kein Hellseher war, sah er eine überstürzte Heirat voraus. Eltern, die darüber zufriedenen sein würden, dass ihr Sohn doch noch „normal“ geworden war. Vielleicht sogar mehrere Kinder, aber nicht in Liebe gezeugt. Und eine Ehe, die nach und nach zerrütten würde, weil beide in ihr einfach keine Erfüllung finden konnten. Gerhard und seine Frau würden darum unglücklich nebeneinanderherleben, bei allem Verständnis, das die Frau anfangs aufzubringen in der Lage gewesen war. Welch eine Grausamkeit lag vor ihm: Eine Straße entlangzuspazieren, die Frau untergehakt und an der anderen Hand ein Kind, und sich nicht nach den vielen hübschen jungen Männern umdrehen zu dürfen, die ihn mit strahlenden Augen anblitzen!
Fred schrieb Gerhard einen langen Antwortbrief, in dem er alle seine Bedenken zum Ausdruck gebracht hatte. Daraufhin wurde es sehr lange sehr ruhig um Gerhard. Fred machte sich wegen der harten Worte in seinem Brief Vorwürfe, vielleicht hätte er vorsichtiger formulieren sollen. Eines Tages traf dann ein erneutes, aber nur sehr kurzes Lebenszeichen von Gerhard ein. „Heute weiß ich sehr schmerzlich, wie recht du gehabt hast!“, schrieb er, mochte aber wohl auf Näheres nicht eingehen. Danach schwieg er.
Fred setzte sich an den kleinen runden Tisch, schüttete den restlichen Inhalt des Briefkuverts auf dessen weinrote Decke und sortierte die Fotos. Es waren genau einundvierzig, die fünf Häufchen von unterschiedlicher Größe ergaben, denn im Umschlag schlummerten nicht nur Fotos aus den Gerhardtagen. Einige zeigten ihn zusammen mit Lutz in Berlin. Auf anderen Aufnahmen war ein unbekannter Junge auf dem Balkon zu sehen. Dann gab es da noch einen jungen Mann, der eine Zigarette rauchte, dessen Name Fred ebenso entfallen war. Und schließlich noch ein sehr ungeschickt aufgenommenes Foto von Edmund. Sein Name hätte nicht mit Bleistift auf der Rückseite vermerkt werden brauchen, denn den hatte Fred nicht vergessen. Die Mehrzahl der Bilder aber stammte aus der Zeit mit Gerhard: Der saß spreizbeinig auf der eisenumwehrten Kante einer zum Teil im Erdboden steckenden Betonwalze, wie sie vielleicht in Kriegszeiten zum Straßenbau verwandt wurde. Mit dem rechten Bein stützte er sich auf der stählernen Achse ab, mit dem linken anderen Halt suchend. Er trug einen kurzärmeligen Pullover mit offenem Kragen, dunkle Jeans mit umgekrempeltem Schlag, schwarze Clogs mit furchtbar dicken Sohlen und sehr hohen Hacken, dazu die polnische Sonnenbrille und um den Hals und beide Handgelenke Schmuck. Dieses Foto hatte Fred einst lange Zeit über dem Schreibteil der Schrankwand stecken. Eine ganze Reihe Fotos zeigte mal Gerhard, mal Fred selbst im Ruderkahn auf dem See vor immer neuem Hintergrund. Gerhard hielt beide Riemen. Der Schatten seines rechten Armes spielte auf seinen Rippen und der schwarz-weiß getigerten Badehose, aus der sich Haare zum Bauchnabel kräuselten. Auf dem nächsten Bild war er nackt. Er lag unbequem auf der Sitzbank im Heck des Bootes, den Kopf auf der Backbordkante, die Beine hingen über Steuerbord. Dann war das rechte Knie angewinkelt in die Höhe gestellt. Vor dem aufrechten Schenkel ruhte sein angesteiftes Glied auf der flachen Bauchdecke. Er lächelte der Kamera entgegen. Auf den Brillengläsern funkelte die Sonne. Es bedurfte der Zerstreuung sehr vieler Bedenken, bis auch Fred hier mitten auf dem See die Badehose auszuziehen gewagt hatte. Ein Foto davon existierte aber nicht. Auch davon nicht, wie sie mit dem Boot in der einsamen Bucht vor Anker lagen. Aber davon, wie sie anderentags mit dem Tretboot hierher zurückgekehrt waren. Ein Foto später lag Gerhard auf der Liege unter dem Stiefmütterchen. Natürlich mit Sonnenbrille! Seine Haltung ist klassisch, das Blütenmuster der Matratzen störend. Hier war auch Fred ohne Bekleidung zu sehen. Zwar verkrampft, aber immerhin. Auf diesem Lager der Liebe hatte ihm Gerhard das Bumsen beigebracht. Nicht das Gebumstwerden. Gerhard war es, der sich hier stockschwul nannte und einen kleinen weißen Topf Tagescreme aus seinem Gepäck hervorkramte, um damit Freds Glied und sich selbst den Hintern einzuschmieren. Fred behauptete keineswegs, dass ihm die Prozedur je missfallen hätte, wenn da nicht der gewisse Ekel wäre, der ihn jedes Mal befallen hatte, wenn er seinen ermüdeten und durch Scheiße und Blut verunstalteten Schwanz aus Gerhards Hintern rauszog. „Das bringe ich dir auch noch bei!“, sagte Gerhard immer wieder. Danach badeten beide gemeinsam in der zu engen Wanne, die bis zum Überlaufen gefüllt war. Gerhard wischte sich Schaum aus dem Gesicht und strahlte. Ohne Sonnenbrille. Im Hintergrund stand eine Packung IMI und eine Schachtel Spee. Das letzte Bild, welches Fred in die Hand nahm, zeigte Gerhard vor dem Spiegel der Flurgarderobe, bekleidet mit ein paar Hauslatschen und der obligatorischen Sonnenbrille und bemüht, seinen Mittelscheitel an die richtige Stelle zu bugsieren. Erstaunlich, wie sehr die Arschbacken und die Oberschenkel behaart waren. Die Beine kamen Fred jetzt etwas zu kurz vor. Er legte alle Fotos übereinander, nahm das Päckchen, klopfte es mit der Kante mehrmals auf den Tisch, und steckte es zurück in den Umschlag. „Hm!“, sagte er dann, denn die erstaunlichste Entdeckung, die er gemacht hatte, war, dass Gerhard einen kleinen Oberlippenbart trug.

Rostock, 1986 - 1993



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