Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Spatzgeschichten

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Sommeranfang


Bis zu diesem Donnerstagnachmittag Ende Juni hatte er warten müssen. Da erst entschloss sich die Sonne, ihrer Pflicht nachzukommen. Zu lange Zeit hatte sie hinter einer dicken Wolkendecke Kraft für ihren ersten Auftritt gesammelt. Nun schien sie aber endlich von einem makellosen Himmel herab auf alles, was ihr ergeben zu Füßen lag. Das waren nicht nur die fruchttragenden Felder und Gärten oder das grasende Vieh auf den Weiden. Auch der schmale Küstenwald reckte sich ihr dankbar entgegen. Der fast menschenleere Strand und das klare Blau und Grün des Meeres waren ebenso begierig auf Wärme. Eine hauchdünne Brise benetzte mit kleinen Wellen die vielen bunten Kiesel, die den Ufersaum bildeten, und spielte weiter oben mit den langen Gräsern, die die Steilküste überragten. Parallel hierzu markierte eine Reihe schlanker Pappeln einen in leichten Windungen verlaufenden Weg, der aus Richtung Warnemünde kommend, weiter hinten im Niemandsland endete. Ihre glänzenden Blätter wurden nicht müde, sich hin und her zu drehen. Ein vernehmbares Rascheln verriet ihre Unruhe. Unter ihnen wich ein altes Sportrad den wenigen noch verbliebenen Pfützen aus, die sich in den Spurrinnen gebildet hatten. Das Fahrrad bremste. Ein Mann, Anfang dreißig, stieg ab, ließ es im Weg liegen und verschwand in einem schattigen Tunnel, den ein Trampelpfad zwischen hohen Kartoffelrosen und Sanddornbüschen bildete und an den Rand der Steilküste führte. Wenig später nahm er das Rad wieder auf und fuhr weiter bis zum nächsten Pfad. Dort wollte er gerade in den dunklen Schatten eintauchen und verschwinden, als ihm ein aufgeregter Spatz entgegen flatterte und ihm einen gehörigen Schrecken einjagte. Der Mann schüttelte verdutzt den Kopf und ging weiter. Auf einer kleinen Lichtung nahe der hier weniger steil abfallenden Uferböschung stieß er auf einen Jungen, der nackt im Gras lag und sich mit dem Rücken gegen einen großen abgefahrenen Reifen lehnte. Von dem unverhofften Besucher aufgeschreckt, setzte sich der Junge auf und zog die Beine an. Unverwandt sah er dem Eindringling in die Augen, der ebenso überrascht war.
„Willst du abhauen?“, fragte der Mann. „Doch nicht meinetwegen, oder!“
„Nein, ein bisschen bleibe ich noch“, antwortete der Junge.
„Stört es dich, wenn ich mich da drüben hin packe?“, fragte der Mann weiter und deutete auf die gegenüberliegende Seite des Platzes, der durch eine Insel aus Brennnesseln und Brombeerranken in zwei ungleich große Flächen unterteilt wurde.
„Nein nein, gar nicht.“ In der Stimme des Jungen lag nichts Abweisendes, sie hatte vielmehr etwas Sympathisches, genau wie die fein gezeichneten Rippenbögen, die sich über seinem Bauch abhoben.
Etwas verlegen ging der Mann zu seinem Platz, sah sich dort um und ging wieder. „Ich komme gleich wieder“, sagte er, als er an dem Jungen vorbeikam. Der Mann beeilte sich, sein Fahrrad zu erreichen. Es lag noch immer auf dem Weg, aber die Räder hatten aufgehört, sich zu drehen. Er hob es auf und schob es in den überschatteten Gang hinein. Mit Befriedigung nahm er wahr, dass es sich der Junge inzwischen wieder bequem gemacht hatte und den ganzen Körper erneut der Sonne und den Blicken des Mannes darbot, denn er hatte befürchtet, dass der Junge seine kurze Abwesenheit zur Flucht benutzen oder sich zumindest eine Badehose anziehen würde. „Hast du den Reifen mitgebracht? Der war doch neulich noch nicht hier.“ Der Mann wollte höflich sein und sich für das Vertrauen bedanken. Natürlich kannte er den Reifen schon.
„Nein, das nicht, aber ich habe ihn hierher gerollt“, antwortete der Junge.
Der Mann schob das Rad in seine Ecke. Er wollte nicht durch penetrante Aufdringlichkeit doch noch alles verderben. Er zog eine abgenutzte Decke aus der Tasche, die er vom Gepäckträger genommen hatte, und breitete sie auf dem bereits flach gedrückten Gras aus. Dann begann er, sich zu entkleiden. Hin und wieder warf er einen kurzen Blick auf den schlanken Körper des Jungen, der ihn nicht aus den Augen ließ.
„Sind hier überall im Wasser so viele Steine?“, fragte der Junge.
Der Mann war erfreut, dass der Junge auch von sich aus das Wort ergriff und sagte: „Ja, schon. Aber daran gewöhnt man sich. Was meinst du, warum es hier so schön leer ist? Es kommen nur ganz wenige Leute hierher. Ich zum Beispiel.“
„Wenn ich mit den Anderen zusammen bin, dann bleiben wir immer vorne. Heute bin ich mal allein und da wollte ich eigentlich noch weiter fahren, aber da hinten kommt man nicht durch.“
„Ja, das Sperrgebiet. Im vergangenen Jahr hing da sogar noch ein Schild.“
„Der Pfahl steht noch“, bestätigte der Junge.
Der Mann war sich der Unmöglichkeit der Situation durchaus bewusst. Er konnte schlechterdings die ganze Zeit auf der Decke von einem Fuß auf den anderen treten, sich mit dem fremden Jungen über Belanglosigkeiten unterhalten und dabei nicht wissend, wo er hinschauen solle. Er sah das Rad des Jungen seitlich an einen Strauch gelehnt stehen, bemerkte auch, dass er kein weiteres Gepäck dabei hatte. Der Junge lag, so wie er war, im Gras. Mit den Händen strich er darüber hinweg oder zerriss einige Halme. Wenn er den Mann nicht beobachtete, dann ließ er den Kopf nach hinten fallen und hielt die Augen geschlossen. Der Mann wandte sich endlich ab und entnahm der Tasche eine Zeitung, mit der er sich setzte, und begann darin zu lesen. Aber er blätterte die Seiten nur hin und her, denn er konnte sich nicht konzentrieren. Verstohlen hob er den Kopf. Von dem Jungen da drüben waren nur winzige Bruchstücke zu sehen, die vereinzelt zwischen den Blättern der Brennnesseln und Brombeeren hindurchschienen. Vielleicht hätte er sich doch nicht so weit weglegen sollen? Zwischen den Schenkeln des Mannes regte sich ein angenehmes Gefühl, das er hinter dieser Kräuterbarrikade unbeobachtet wusste. Er musste jetzt unbedingt etwas sagen: „Warst du schon auf dem großen Stein?“
„Auf welchem Stein?“, fragte der Junge.
„Na, den im Wasser natürlich. Da hinten!“ Er deutete mit dem Arm westwärts aufs Meer.
Plötzlich stand der Junge auf, trat an den Rand der Böschung und sagte: „Den hatte ich noch gar nicht gesehen.“
Der Mann hatte rasch schützend die Zeitung sinken lassen und fragte: „Wollen wir mal hin? Kommst du mit?“
„Ja, na klar!“, kam spontan die Antwort.
Der Mann erhob sich, noch immer die Zeitung vorhaltend, und fragte, um Zeit zu gewinnen: „Kommen wir hier überhaupt runter, ohne uns das Genick zu brechen?“ Normalerweise war das möglich, das wusste er, aber der lehmige Abhang hätte nach dem vielen Regen durchaus noch glitschig sein können.
„Doch, ich war vorhin schon unten.“
Vorsichtig bewegten sie sich den Abhang hinunter. Im Laufe der Jahre hatten sich hier mehr oder weniger komfortable Stufen eingetreten. Sie gingen über den trockenen warmen Sand, der von einem breiten Streifen größerer und kleinerer, glattgeschliffener Steine abgelöst wurde, bis zum Ufer vor.
„Komm, wir gehen erst ein Stück, sonst sind wir schon k. o., wenn wir dort sind“, schlug der Mann vor.
„Ist gut.“
„Eigentlich hätte ich um diese Zeit noch arbeiten müssen“, gestand der Mann, der darüber erstaunt war, wie leicht sich dieser Junge lenken ließ. „Hatte in Warnemünde eine Beratung. Die war aber schon drei viertel drei zu Ende. Die Badesachen hatte ich mir vorsorglich mitgenommen.“
„Ich bin einfach so losgefahren. Eigentlich hätte ich noch was für die Schule machen müssen.“
„Ach, guck mal, da oben ist ja noch jemand!“, sagte der Mann. Es war Goldbrille, der sie von oben beobachtete. Das Gesicht des Mannes, der mit eingezogenem Bauch neben dem hübschen Jungen ging, überzog sich mit unverhohlener Schadenfreude. Es war gut, dass es nur Goldbrille war, denn der würde nicht aufdringlich werden. Aus den Augenwinkeln heraus suchte der Mann bei dem Jungen nach irgendeiner Reaktion auf den Zuschauer. Er schien ihn gar nicht wahrzunehmen.
„Ja, der schleicht hier schon eine ganze Weile rum“, sagte aber dann der Junge.
Ich bin erkannt, dachte der Mann betrübt und überlegte, wie es nun weitergehen sollte.
„Das wird hier wohl sehr rasch tief, was?“, vermutete der Junge ohne die Befürchtungen des Mannes an seiner Seite bestätigen zu wollen.
„So schnell nun auch wieder nicht. Du brauchst keine Angst haben, plötzlich in die Tiefe gerissen zu werden.“
Beide tasteten sich über die zahllosen mit Algen bewachsenen Steine durchs ruhige klare Wasser, bis es ihnen eisig das Schamhaar nässte. Der Mann hatte die Sache eingerührt und wollte nun nicht hinter dem Jungen zurückstehen, der sich bereits kopfüber ins Wasser geschmissen hatte. Behutsam tauchte er unter und schwamm hinterher.“Du musst von hinten heranschwimmen“, rief er dem Jungen nach, „da kommt man am besten hoch.“ Der Mann sah ihn den großen Stein erreichen, der in einiger Entfernung vom Ufer unbewegt im tiefen Wasser ruhte und nur dann mit seinem vernarbten Buckel über die Oberfläche ragte, wenn kein Wellengang war. Ein Wildentenpärchen ließ sich ins Wasser gleiten und paddelte unter stillem Protest davon.
„Hier sind Absätze und Kerben, an denen du dich festklammern kannst“, sagte der Mann, als er endlich den Jungen erreicht hatte.
„Sind gar nicht so viele Algen drauf, wie ich gedacht hatte“, sagte der Junge nach seinem dritten Versuch, den Stein zu entern.
Nachdem der Mann ihm ungeniert Hilfestellung gegeben hatte, saßen beide zwischen der Entenkacke und ließen sich die Sonne auf den Rücken scheinen. „Ist doch noch ganz schön kalt das Wasser“, meinte der Mann und wünschte, sein Glied hätte sich jetzt von der besten Seite gezeigt, statt sich zu verkrümeln.
„Wie kommen wir hier wieder runter?“, sorgte sich der Junge nach einer Weile.
„Ganz einfach: Reinspringen!“, meinte der Mann. Es war genau das, wovor er sich selbst am meisten fürchtete.
„Ich wollte mir aber nicht die Haare nass machen.“
„Na, dann gehst du eben genau so runter, wie du raufgekommen bist. Auf gar keinen Fall wie die Enten runterrutschen! Hier kleben überall Seepocken. Du schneidest dir den ganzen Hintern auf“, warnte der Mann und dachte, dass es um den sehr schade wäre. „Hast du kein Handtuch mit?“
„Nein. Ich habe gar nichts mit.“
„Ich habe ein großes Badetuch dabei, damit werden wir deine Haare schon trocken kriegen.“
Sie saßen nebeneinander. Wollte der Mann den Jungen betrachten, so musste er recht auffällig den Kopf drehen. Er vermied es und ließ stattdessen seine Blicke über den fernen Rand der Steilküste hin und her schweifen, auf der Suche nach weiteren Zaungästen. Obwohl die Sonne ihr Bestes tat, zitterten beide so gut sie konnten. Und je länger sie auf dem Stein sitzen blieben, desto größer wurde die Furcht vor dem Wasser, das sie so friedlich umgab.
Kaum das sie sich wieder hineingewagt hatten und sich in sicherer Entfernung befanden, schwamm das Entenpärchen herbei, um ihren Stein erneut zu besetzen.
„Ob man hier schon stehen kann?“, fragte der Junge, nachdem er einige Meter geschwommen war, und erforschte mit den Zehen die Tiefe. Noch konnte er keinen Grund fühlen.
„Da vorne liegt auch noch irgendwo ein größerer Stein. Von oben kann man ihn sehen.“
„Hier sind wieder die vielen kleinen“, beschwerte sich der Junge, „da schwimme ich einfach drüber weg.“
Am Ufer schüttelte jeder so gut er konnte einige Wassertropfen in den Sand. Dann gingen sie mit zusammengebissenen Zähnen zu ihren Sachen zurück.
„Brauchst doch nicht dein Hemd zu nehmen! Komm her.“ Enttäuscht darüber, dass der Junge nicht von allein auf sein Angebot zurückgekommen war, begann auch der Mann sich abzutrocknen.
„Ist doch sowieso schon feucht“, redete sich der Junge heraus.
„Hier. Na, nimm schon!“ Der Mann war ihm ein paar Schritte entgegengegangen. Nur zögernd griff der Junge zu. „Wenn du möchtest, kannst du auch hierher kommen.“ Der Mann wies auf seine Decke. „Ich habe ein Kartenspiel mit. Wir könnten vielleicht Karten spielen?“
„Ach nee, lieber nicht“, wehrte der Junge ab, denn das ging ihm offensichtlich zu weit. „Ich muss jetzt nach Hause, muss noch was für die Schule tun.“
Der Mann fühlte sich tief getroffen. Er nahm sein Badetuch entgegen und fragte: „In welche Klasse gehst du denn?“
„Zehnte.“
„Dann steckt ihr wohl mitten in den Prüfungen?“
„Nur noch Russisch.“
Wehmütig beobachtete der Mann den Jungen, der damit begonnen hatte, sorgfältig seinen Körper zu verpacken. Auf einem wippenden Zweig, der alles Strauchwerk überragte, balancierte währenddessen unbemerkt ein Spatz. Mit einem besorgten Gesicht beobachtete er die Szene unter sich. Seine bunten Beine funkelten im Gegenlicht. Da der Mann das Gespräch solange wie möglich aufrechterhalten wollte, fragte er: „Was willst du dann machen? Ich meine nach der Schule.“
„Erst einmal Abitur.“
„Und weißt du schon, was du danach machen willst?“
„Elektronik.“
„Ach so.“ Die zunehmende Einsilbigkeit des Jungen stimmte den Mann traurig. „Sag mal, wie wechselt man Speichen aus? An meinem Hinterrad sind schon mindestens drei gerissen.“
„Ist gar nicht so schlimm.“
„Das blöde daran ist, dass ich Mantel und Schlauch runter nehmen muss.“
„Brauchst du nicht. Du kannst doch die alten Muttern drin lassen.“
„Das ist ja eine prima Idee, da wär ich gar nicht drauf gekommen“, sagte der Mann. „Und wie mach ich das mit dem Spannen?“
„Du machst dir am Rahmen einen Anschlag. Immer die gegenüberliegenden Speichen werden angezogen. Ist doch nicht schlimm“, wiederholte der Junge.
„Sag mal, hast du öfter Langeweile?“
„Ja, schon“, kam zögernd die Antwort. „Aber irgendwie beschäftige ich mich immer.“
„Ich habe dir hier meine Adresse abgerissen.“ Der Mann reichte ihm einen Fetzen Papier, der Teil eines Briefumschlages war. „Wenn du wieder Langeweile hast, kannst du mich ja besuchen kommen. Du bist hiermit zu einem Glas Johannisbeerwein eingeladen, den ich selbst gemacht habe. Der ist ganz toll geworden. Oder wir spielen Schach. Oder so.“
„Ja, ist gut. Aber vielleicht sehen wir uns auch hier wieder.“
„Ich bin immer hier oder weiter hinten, wirst ja sehen“, sagte der Mann, obwohl ihm diese Variante weniger zusagte. „Wenn du mich besuchen kommst, dann kannst du ja ’ne schöne Platte oder Kassette mitbringen.“
„Mach ich. So, jetzt muss ich aber!“ Der Junge hatte sein Rad schon gewendet und ging. Dann drehte er sich zu dem Mann um, hob winkend den rechten Arm und lächelte. „Tschüss“, sagte er zum Abschied, „man sieht sich.“
„Ja, tschüss!“, sagte der Mann und blieb allein zurück. Dann griff er sich seine Tasche, entnahm ihr ein großes Klappmesser, das er mit einem leisen Klacken aufspringen ließ, um die Schärfe der Klinge zu prüfen. Beinahe zärtlich strich er mit leichtem Druck über den Klingenrücken und drückte sie in den Schlitz zurück. Danach verwahrte er das Werkzeug sorgsam in der Tasche. Mit einem Grinsen schaute er sich nach dem Spatz um.


Rostock, 04. Juni 1993
(29 Sep. 2011)


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