Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Spatzgeschichten

Texte > Spatzgeschichten

Alles nur Zirkus


Nur ein Plakat neben dem Schwarzen Brett in der Berliner Straße hatte genügt, allen Dorfbewohnern die nahe Ankunft des Zirkus Aeros mit seinen einmaligen Attraktionen in großen Lettern anzukündigen. Weil Kinder seit jeher stärker an solchen Ereignissen interessiert waren als die Erwachsenen, sah man immer eine kleine Handvoll von ihnen vor dem bunten Plakat stehen und erwartungsvoll diskutieren. Und da im Land seit zwei Wochen große Sommerferien waren, hatten sie ab sofort nichts Wichtigeres zu tun, als sich auf den Einzug der Zirkuswagen zu freuen. So standen auch Fritzi und der einen halben Kopf größere Wolle vor der Tafel mit den öffentlichen Aushängen und bestaunten das Plakat daneben, auf dem ein abgebildeter Löwenkopf seine gefährlichen Zähne zeigte. Wolle, der Klassenerste und Fritzis allerbester Freund, las den handgeschriebenen Aufkleber laut vor. Fritzi hörte aufmerksam zu und erfuhr so, dass der Zirkus am Freitag, Sonnabend und Sonntag jeweils eine Vorstellung am Nachmittag und eine am Abend geben würde.
„Wünscht der gnädige Herr auch noch den Tourneeplan 1963 vorgelesen?“, fragte Wolle, einen leichten Diener andeutend.
„Danke, das genügt, James.“
Fritzi selbst hatte viel zu großen Respekt vor Buchstaben und Zahlen, sodass er sich ihnen nur widerstrebend näherte, auch wenn sein Leben davon abhinge. Es war bereits Dienstag und das bedeutete, dass die Wagen der Zirkusleute am nächsten Tag oder spätestens am Donnerstag eintrudeln müssten. Die Zeit bis dahin würden sie wohl überbrückt bekommen. An diesem Nachmittag, das hieß gleich nach dem Mittagessen, so verabredeten sie erst einmal, wollten sie sich an der Badestelle des großen Sees treffen.
Fritzi träumte viel. Ihm gefiel es beispielsweise, in den Nächten schnellen Zebras nachzujagen, die über die Savanne galoppierten. Und er hielt es auch nicht für schlimm, es am helllichten Tage zu tun. Immer wieder trieben ihn die Gedanken fort in verlockende Gefilde, was zum Teil doch sehr hinderlich war, wenn er gerade im Unterricht saß. Die Folge war, dass seine Klassenlehrerin in jedem Zeugnis beurkundete, dass Fritz verträumt sei. Dies ärgerte ihn dann doch. Zumal er sich große Mühe gab, es nicht auffallen zu lassen. Wie jetzt beim Essen, sein Kopf war stets und ständig mit anderen Dingen beschäftigt, ob er wollte oder nicht, Dinge, die ihn erregten und zugleich Angst machten.
„Du bist schon dreizehn Jahre alt! Wann willst du endlich aufhören, mit dem Essen zu spielen?“
Die Stimme seiner Mutter holte ihn zurück in die häusliche Wirklichkeit. Mit der Gabel kratzte Fritzi den Rest auf seinem Teller zusammen, schaufelte es in den noch vollen Mund, dass sich die Wangen spannten, und schob den leeren Teller über den Tisch, wo seine Mutter bereits mit dem Abwasch begonnen hatte. Dann drängte er mit den nackten Schenkeln den Stuhl nach hinten und schickte sich an, zu gehen.
„Wo willst du hin?“, fragte seine Mutter.
Er musste erst runterschlucken, bevor Fritzi antworten konnte: „Ich treffe mich mit den Jungs am See.“
„Ist gut, aber bleib nicht solange in der Sonne, hörst du!“
„Nein, Mutti.“
„Und zum Abendbrot bist du wieder zurück!“
„Ja, Mutti!“, versprach Fritzi und konnte seiner Mutter gerade noch rechtzeitig entfleuchen, bevor sie Gelegenheit hatte, ihm mit dem grauen Abwaschlappen den Mund abzuwischen. Er zog ein Handtuch und seine Badehose von der im Hof gespannten Wäscheleine, rollte beides in eine alte Decke, die er dann auf dem Gepäckträger des alten Familienfahrrades festklemmte. Bevor er aber den elterlichen Hof verließ, schaute er sich rasch um und huschte kurz in die Waschküche, wo er mit der linken Hand ins Hosenbein seiner Lederhose fuhr, dort die Vorhaut zurück schob und heftig die Eichel knetete. Anschließend hielt er sich dieselben Finger unter die Nase und sog genüsslich die Luft ein. Er liebte diesen Duft, der beinahe nach Pferd roch. Dann erst radelte er über die staubige Ernst-Thälmann-Straße, durchs Woldegker Tor und wie eine besengte Sau das abschüssige Kopfsteinpflaster in Richtung See hinunter. Der Fahrtwind pustete ihm das strohblonde Haar von der Stirn und die Ohren frei, ansonsten wehte kein Lüftchen. Nicht das kleinste Wölkchen dämpfte die Sommerhitze. Am See standen mehrere Gebäude. Vor dem Giebel des rechten Hauses bremste Fritzi, stieg ab und lehnte das Rad, das ohne ihn zwei Weltkriege überlebt hatte, an die mit Wein bewachsene Hauswand, befreite die Decke aus dessen Klauen des Gepäckträgers und marschierte frohen Mutes weiter über eine steinerne Brücke, die einen Niedrigwasser führenden Bach überspannte. Bis zu den schwarzen Fischerhütten, die links hinter einem Maschendrahtzaun standen, war die Straße mit Fahrzeugen bequem befahrbar. Daran schloss sich der Rest eines alten Feldwegs an, der nur noch auf eine Anhöhe führte, auf der vor Zeiten eine Windmühle stand. Ursprünglich fuhren die Bauern, die mit ihren Fuhrwerken die Mühle mit Korn belieferten, auf diesem Weg bis in die Nähe der alten Pastorscheune, wo er die Woldegker Chaussee kreuzte. Fritzi wanderte auf der Koppel weiter, die sich von hier aus über hehrere Hügel ausdehnte. Links lag der glänzende Spiegel des großen Sees, eingezwängt in eine verbeulte Schüssel aus sanften Bergkuppen und von zahlreichen Inseln zerrissen, die auf der Stelle zu treiben schienen. Die fernen Ufer vibrierten in der Hitze des Tages.
Die Badesachen unterm Arm geklemmt, lief Fritzi am Rande der Böschung, die zum See hin abfiel, weiter. Das Gelände senkte sich in nordwestliche Richtung und dort, wo es vor einem erneuten Anstieg seinen tiefsten Punkt erreichte, zeichnete sich ein Trampelpfad nach Spitzenecken ab. Hier zog er die Sandaletten aus, denn der Weg wurde stellenweise modrige. Die Pampe konnte bis zu den Knöcheln reichen. Die Böschung an seiner rechten Seite war fast bis Spitzenecken, wo die Landzunge nach Norden einen Haken schlug, überwiegend mit Weißdorn bewachsen. Links wucherte dichtes Schilf. An Spitzenecken war die Böschung trotz vieler Vergasungsversuche generationenlang bevorzugtes Quartier von Reineke. Das Futter für seinen Nachwuchs bezog er von der Hühnerfarm oben auf der Koppel. Auf Zehenspitzen schlich Fritzi um die Ecke. Nicht, dass er vor einem kleinen Fuchs Angst hätte, nein, er wollte ihn nur nicht in seiner wohlverdienten Mittagsruhe stören. Ab hier hielt Fritzi direkt auf die Badestelle zu. Es waren nur noch ein paar Minuten. Er hörte schon das Gekreische und Gejohle. Rechts wieder Böschung mit Sträuchern, links Schilf und blasenschlagender grüner Schlamm, der einen unverkennbaren Geruch verströmte. Ungefähr fünfzehn Meter vor der Badestelle gewahrte er unter den ausladenden Zweigen eines Strauches Wolles Deck im Schatten liegen. Und darauf lag ausgebreitet Wolles Bademantel. Von Wolle war nichts zu sehen. Dem Bademantel schien es aber selbst im Schatten zu heiz zu sein. Das unterdrückte Keuchen, das von ihm ausging, deutete Fritzi als Luftmangel, die rhythmischen Zuckungen bestätigten aber, dass noch ausreichend Leben in ihm war. Behutsam näher getreten und ebenso vorsichtig hob Fritzi den obenauf liegenden Ärmel an. Interessiert beobachtete er durch ihn des Bademantels Innenleben. Leider gab es keine Möglichkeit, unbemerkt durch den Ärmel hinein zu greifen, obwohl ein Ärmel genau die Aufgabe erfüllen sollte. Deswegen sah er sich gezwungen, dem Treiben ein gewaltsames Ende zu bereiten, bevor es zu spät war. Er konnte nicht zulassen, dass Wolle, sein bester Freund, sich ganz allein einen runterholte, ohne Fritzis Mithilfe. Oder sollte Fritzi doch lieber davonschleichen und Wolle so dicht am Weg den vorbeikommenden Leuten preisgeben? Der konnte sich schließlich einen runterholen wo er wollte. Aber ausgerechnet Fritzi war es peinlich. Und darum warf er sich, noch bevor irgendwelche Leute kamen, mit vollem Körpereinsatz und Getöse auf den zappelnden Bademantel. Wolle hatte die Attacke zwar halbwegs gut überstanden, war aber der Ansicht, dem Störenfried gebühre für den Schrecken eine ordentliche Kopfnuss. Sich die schlimme Stelle am Kopf reibend, schlug Fritzi einen Ortswechsel vor.
„Wir sollten uns lieber eine Ecke mit weniger Publikumsverkehr suchen“, meinte Fritzi.
„Hier wäre ich sowieso nicht liegen geblieben“, antwortete Wolle. „Ich hab nur auf dich gewartet. Und hör endlich auf, deinen Schädel zu bedauern.“
„Das hat ganz schön wehgetan. Und wie du gewartet hast, hab ich genau gesehen.“
Wolle zog sich die Badehose an, griff sich seine Siebensachen und schlenderte zusammen mit Fritzi weiter zur Badestelle, wo Hochbetrieb herrschte. Alle etwas abgeschiedenen Winkel waren schon belegt. Eine Weile schauten sie dem lauten Treiben im Wasser zu, entschlossen sich dann, die Böschung, die hier nur mit Gras bewachsen war, zu erklimmen und sich oben auf der Koppel rechts hinter den Sträuchern hinzulegen. Vor Ort mussten beide dann aber feststellen, dass sie auch hier keine freie Bahn hatten. Auch Wolfi, dieser Schlacks, hatte diese anscheinend nicht so geniale Idee gehabt. Er lümmelte sich bereits dort auf seiner Decke herum und gab vor, ein Buch zu lesen, nur, wer tat denn so etwas. Wolfi wohnte zwar genau wie Fritzi in der Ernst-Thälmann-Straße, ging aber in die Klasse unter ihnen. Sie kannten ihn nicht nur, weil sie alle in einem kleinen Kuhdorf wohnten, sondern auch, weil einer seiner älteren Brüder in ihre Klasse ging. Wolfi hieß eigentlich Hannes Ischias, warum ihn die ganze Welt jedoch Wolfi nannte, wusste niemand. Fest steht, dass er ein sympathischer und geselliger Typ und immer gut drauf war, spielte gern den Kasper. Auch deswegen hatte er gegen ihre Anwesenheit nichts einzuwenden. Er war eben ein liebenswerter Bursche.
Während Fritzi barfuß über die abgeweidete Koppel hopste und mit einem Stock lästige Disteln aus dem Weg räumte, sammelte Wolle die hartgetrockneten Kuhfladen auf und beförderte sie in hohem Bogen über die Sträucher in Richtung See. Alle drei hielten den Atem an und lauschten, aber von unten kam leider kein entsetzter Aufschrei. Schade eigentlich. Sie breiteten ihre Decken neben der von Wolfi aus und strichen vorsichtig darüber hinweg, aber Fritzi hatte alle Diestel erwischt. Umständlich entledigte Fritzi sich aller Klamotten und zog im Sitzen die Badehose an. Die Aktion blieb ohne Interesse zu erregen. Das kann ja noch heiter werden, dachte er. Mit Wolle ließ sich jetzt auch nichts mehr anfangen. Der lag auf dem Bauch, hatte die Arme von sich gestreckt und briet in der Sonne vor sich hin. Immerhin wurde ab und an der Braten gewendet, zum Begießen war allerdings nichts griffbereit. Er wollte unbedingt so braun wie Wolfi werden, der sich um seine Bräunung nicht zu sorgen brauchte. Im Gegensatz zu Fritzi und Wolle war er ein südlicher Typ mit fast schwarzen Haaren. Seine Haut war von Natur aus dunkler. Während Wolfi noch immer so tat, als lese er, saß Fritzi missmutig auf seiner Decke. Das Handtuch bedeckte als Sonnenschutz die Schulter. Er schaute mal nach links zu Wolle, mal nach rechts zu Wolfi, und spielte aus Langerweile mit sich selber. Auf seiner Stirn und unter dem Kinn hatten sich Schweißperlen gebildet, die er hin und wieder mit dem Handtuch fortwischte. Unten wehte vielleicht eine erfrischende Brise über den See, dort oben aber, hinter der dichten Wand aus grünen Blättern war davon nichts zu spüren.
Nach einer Weile meinte Wolle: „Ich glaub, ich bin durch!“, erhob sich und verkrümelte sich nach unten zum Baden.
Es störte Fritzi, dass Wolfi stundenlang die Nase in sein blödes Buch stecken konnte. Irgendwie musste der doch zu piesacken sein. Erst einmal fragte er ihn: „Gehst du auch in den Zirkus?“
Endlich klappte Wolfi das Buch zu, drehte sich auf den Rücken und legte sich sein Handtuch über den Bauch. Dann besprachen sie sich ausführlich über die bevorstehenden Zirkusvorstellungen. Dabei fragte Wolfi: „Hast du schon mal ein Zelt gebaut?“
Fritzi war im Außerschulischen eigentlich nie schwer von Begriff gewesen, aber jetzt wusste er nicht so recht, was Wolfi meinte. Wollte er vielleicht wissen, ob Fritzi schon einmal mitgeholfen hatte, ein Zirkuszelt aufzubauen? Nein, dazu hatte er bisher weder Gelegenheit noch Lust gehabt. Und selbst besaß er kein Zelt, kannte auch niemanden, der eines hatte. Wäre er nur aufmerksamer gewesen, dann hätten sich ihm die Möglichkeiten sofort offenbart, die Wolfis Frage eröffneten. Er war noch am überlegen, da sagte Wolfi: „Kuck mal, ich hab eins gebaut!“
Tatsächlich, Wolfi hatte mit seinem Handtuch ein richtiges Zelt aufgerichtet. Nicht gerade so groß wie ein Zirkuszelt, aber viel fehlte nicht. Auch hatte es nur einen einzigen Mast. Von dem Anblick begeistert, schätzte Fritzi nach Augenmaß die Höhe des Mastes ab und fragte: „Wieviel Plätze fasst denn das Zelt? Du musst aber den Mast noch besser befestigen, der wackelt zu viel.“
Wolfi grinste. Er hatte seine Hände hinterm Kopf verschränkt, es war also ein zauberhafter Trick. Solch einen hohen Mast hatte er Wolfi gar nicht zugetraut. Unentschlossen blickte sich Fritzi um. Im Moment war weit und breit niemand zu sehen. Nicht einmal eine Kuh lungerte heute hier herum. Konnte und sollte er jetzt einfach zugreifen? Aus Mangel an Gelegenheit war er bisher noch nie mit Wolfi intim geworden. War das jetzt eine Aufforderung dazu? Aus Angst, hier erwischt zu werden, zögerte Fritzi solange, bis Wolle zurückkam und Wolfi sich unberührt wieder auf den Bauch drehte. Scheiße, dachte Fritzi, wieder eine Gelegenheit verpasst. Aber seitdem ging ihm Wolfi nicht mehr aus dem Kopf. Fortan drehten sich seine Gedanken nur noch um die eine Frage: Wie bekam er Wolfi in seine Finger? Der hatte seine Stupsnase zurück ins Buch geklemmt. Gott, musste das spannend sein.
Wolle saß im Bademantel auf seiner Decke und hatte die Knie angezogen, um die er beide Arme geschlungen hatte. „Was ist jetzt, kommst du morgen zu meinem Geburtstag?“, fragte er Fritzi.
„Naja doch!“, antwortete der. „Um wieviel Uhr soll ich da sei?“
„Kurz nach drei, das reicht. Später gibt es dann noch Abendbrot.“
„Ist gut.“
Fritzi stand auf, warf im Gehen noch einen schnellen Blick auf Wolfis Rückfront und verschwand seinerseits in Richtung Badestelle. Dort planschten im flachen Wasser die Kleinkinder und machten ihre Geschäfte. Er drängelte sich hindurch und schwamm weiter draußen ein paar Runden, bevor er sich an die Böschung setzte und die Badehosen der anderen Jungs taxierte. Er entdeckte Tobias, einen schon älteren Bengel, der die lästige Schule bereits hinter sich gelassen hatte. Er warf Stöckchen, die ihm sein kleiner Hund, irgendein buntscheckiger Promenadenrüde, schwanzwedelnd apportierte. Fritzi schaute dem Spiel eine Weile zu. Dann trat Karl der Große auf Tobias zu und verwickelte ihn in ein Gespräch. Fritzi stand auf, schnappte sich unbemerkt eines der Stöckchen und warf es so weit er konnte von der Badestelle weg ins Schilf. Flecki, so der Rufname des Hundes, hatte schon mit tropfender Zunge bereitgestanden und nur noch auf das Kommando gewartet. Jetzt preschte er los, sprang mit einem beherzten Satz ins Schilf, das ihn auf der Stelle verschlang. Fritzi ihm flugs hinterdrein. Karl der Große ging ins Wasser und ließ Tobias am Strand stehen. Da erst vermisste der seinen kleinen Begleiter und begann ihn zu suchen. Immer wieder seinen Namen rufend, lief er auf dem Weg hin und her. Dabei kam er auf dem fast zugewachsenen Pfad, der hinter der Badestelle weiter um den See führte, Fritzi ziemlich nahe. Der hockte zusammen mit Flecki, von Mücken und Blattläusen attackiert, im dichten Schilf. Weil Fritzi am Strand keinen seiner Spezis ausfindig gemacht hatte, mit dem er zum Spielen mal eben kurz ins Schilf hätte verschwinden können, musste nun Flecki dafür herhalten. Beide hörten zwar das verzweifelte Rufen, aber keiner der beiden hatte Mitleid und zeigte sich. Selbst als beide fertig waren, mochte sich Flecki nicht von Fritzi trennen.
„Willst du die Schachtel nicht ein bisschen einwickeln? In der rechten Schublade liegt noch altes Geschenkpapier von letztes Jahr.“ Fritzis Mutter deutete am nächsten Tag auf den Wohnzimmerschrank.
„Das geht auch so“, meinte Fritzi genervt.
„Aber das gehört sich so“, beharrte seine Mutter.
„Na gut“, willigte er ein, suchte einen passenden Bogen heraus, fand sogar noch ausreichend Schleifenband und verpackte die kleine Schachtel mit Taschentüchern, die seine Mutter als Geschenk gekauft und sich, wie all die Jahre vorher auch schon, bewähren würden.
Als er dann dem Geburtstagskind die Hand drückte und ihm alles Gute wünschte, war bereits ein halbes Dutzend anderer Gäste anwesend. Darunter auch einige Mädchen aus der Klasse. Das störte Fritzi nicht sonderlich. Solange Wolle, der als Weiberheld verschrien war, mit den Mädchen nicht auch die Spiele spielte, mit denen er und Fritzi sich im Verborgenen vergnügten. Wolles Mutter hatte die Feier wie immer generalstabsmäßig organisiert. Nach dem Kuchen gab es unter ihrer Anleitung verschiedene Spiele, an denen jeder mitmachen musste. An die Sieger wurden kleine Preise vergeben. Diese straffe Art, einen Kindergeburtstag zu feiern, kannte Fritzi von zu Hause nicht. Das mit den Preisen fand er aber sehr gut. Seine eigenen Eltern hatten weder das Geld noch die Zeit dafür. Das Tollste an Wolles Geburtstag war aber, dass er ein eigenes Zimmer bewohnte. Trotzdem war Fritzi nur selten dort. Meist trieben sich beide Jungs irgendwo in der freien Natur herum, fern jeglicher Mütter. Wolle besaß sogar eine Reihe eigener Bücher. Für einen Klassenprimus gehörte sich das wohl so, dachte Fritzi. Darunter gab es sogar einige, in denen man gar nicht so viel zu lesen brauchte, es reichte schon, sich nur die Bilder anzusehen. Fritzi bat darum Wolles Mutter, in der Annahme, sie habe darüber zu bestimmen, ihm das dicke Buschbuch auszuleihen, weil er das zu Hause in Ruhe ansehen wollte. Wolles Mutter freute sich sehr darüber, dass auch Fritzi für Bücher Interesse zeigte, meinte aber, da müsse er schon Wolfgang fragen. Wolle wunderte sich zwar, hatte aber nichts dagegen. Er tat den schweren Wälzer sogar selbst in eine Tasche, damit Fritzi ihn unbeschadet nach Hause transportieren konnte.
Als Fritzi dann später am Abend bei eingeschalteter Stehlampe auf der Ofenbank saß, mit dem Buch auf den Knien und durch die gezeichneten Geschichten blätterte, fand er im hinteren Teil des Buchs ausgerechnet unter der Überschrift „Die Haarbeutel“ einen offenen Briefumschlag, in den er natürlich sofort hineinschaute. „Was ist das denn?“, wunderte er sich spontan und etwas zu laut. Seine Eltern, die zugegen waren, hoben neugierig die Köpfe. Besonders seine Mutter wollte nun wissen, was ihr Fritz da gefunden hatte. Der schaute von ihr zu seinem Vater und überlegte angestrengt. Er genierte sich, die Wahrheit zu sagen.
„Sieht aus wie Babylocken von Wolles Schwester“, antwortete Fritzi mit leicht geröteten Wangen und erwartete mit Bangen, dass auch seine Eltern einen Blick darauf werfen wollten. Aber die hatten in ihrem Leben schon genug Babylocken zu Gesicht bekommen und legten keinen Wert darauf, auch noch diese zu besichtigen. Fritzi fiel ein Stein vom Herzen.
Wolle und Fritzi waren in einem Alter, in dem sie noch glaubten, den Wuchs ihrer wenigen Schamhaare befördern zu müssen. Zu diesem Thema wurden auf dem Schulhof unter den Jungs die kuriosesten Tricks ausgetauscht, die alle hundertprozentig wirken sollten. Wie zum Beispiel das hartnäckige und wiederholte Einreiben mit fremdem Sperma, welches von Fritzi favorisiert wurde, oder das regelmäßige und totale Abrasieren. Wolle hatte Fritzi sogar einmal im Vertrauen geraten, Gluckenscheiße draufzuschmieren, das helfe garantiert. Und nun dieser Umschlag. Fritzi hatte also recht daran getan, Wolle, diesem Schlitzohr, nicht zu trauen. Aber unter uns, eigentlich hatte nur das allzu strenge Aroma Fritzi davon abgehalten, seinen Ratschlag in die Tat umzusetzen. Wolle, dessen Spitzname jetzt eine völlig neue Bedeutung bekam, war also mehr fürs Abrasieren. Und in diesem Umschlag bewahrte er den Ertrag seiner fleißigen Schurarbeiten auf. Fritzi wog das dünne Päckchen in der Hand und dachte, das reicht noch lange nicht für ein Sofakissen. Und, das ging gerade noch mal gut. Wolle hätte den Umschlag rausnehmen oder wenigstens darauf hinweisen sollen. Wahrscheinlich hatte er den ausgestopften Umschlag ganz einfach vergessen. Fritzi schlug das Buch zu, zog sich in die Schlafstube zurück und ging ins Bett, denn für heute hatte er wieder genug.
Übernacht waren die ersten Wagen der Zirkusleute eingetroffen. Kurz vor dem Mittag war dann der ganze Fuhrpark beisammen. Fritzi, der kurz nach neun probehalber nachsehen war, drückte sich bis halb zwölf zwischen den zur Wagenburg aufgereihten Fahrzeugen herum, bestaunte und beschnüffelte die Ausrüstung, die der Reihe nach entladen und sofort verbaut wurde, stand aber meist den fluchenden Akteuren nur im Weg. Inmitten des Wagenrondells waren die Artisten, die jetzt Arbeiter waren, mit dem Aufrichten der beiden Masten, hier waren es also zwei, und dem Hochziehens des Zeltes zugange, wobei jede Hand gebraucht wurde. Einer der Arbeiter, er war am Kopf ganz zottelig und hatte eine merkwürdige Kette um den Hals, die bei jedem Hauruck hin und her schlackerte, rief Fritzi an und forderte ihn auf, nicht nur blöd rumzustehen, sondern mit anzupacken. Fritzi schaute nach hinten, um sicherzugehen, dass nicht jemand anderer gemeint war, lief dann zum Ende des dicken Taues, das dann schwer in seinen Händen lag, und zog nach Leibeskräften. Bei jedem Hauruck hob sich die graue und tonnenschwere Zeltplane um vielleicht dreißig bis vierzig Zentimeter. Es waren viele Haurucks nötig, bis das Ganze nach Zirkus aussah.
„Ohne dich hätten wir das nicht geschafft!“, sagte der Zottelkopf zu Fritzi. Mit der schmutzigen Hand wuschelte er ihm durch die blonden Haare und schob ihn dann sachte aber bestimmt beiseite. „So und nun steh hier nicht weiter im Weg rum.“
Jetzt konnte Fritzi erzählen, dass er tatsächlich mitgeholfen hatte, ein Zelt zu bauen, sogar ein richtig großes Zirkuszelt. Mit zwei Masten sogar. Er suchte den Platz ab, um Wolfi aufzuspüren, aber der war nicht zu finden.
Wie immer hatte sich der Zirkus auf dem Vorplatz des Kultursaales niedergelassen. Eigentlich war die Fläche selbst für diesen Schmalspurzirkus viel zu klein. Alles wirkte zusammengeschoben. Zum See hin wurde der Platz vom Sportplatz und gegenüber dem Kultursaal von einem großen Obstgarten und einer Scheune begrenzt. Deswegen mussten etliche Wagen an den östlichen Rand der Feldberger Straße ausweichen. Als vorübergehende Unterkunft für die Pferde und Ponys wurde eine alte leerstehende Fachwerkscheune an ebendieser Straße hergerichtet. Da an der Straßenseite das Tor fehlte und auch durch etliche Lehmfächer der Wind wehen konnte, war bei dieser Hitze für ausreichend natürliche Lüftung gesorgt. Vor dem Kulturhaus war eine kleine Tierschau aufgebaut, wo die Kinder unter anderem einen verschlafenen Löwen und einen aufgeweckten Affen bestaunen konnten. An der Außenwand des Affenwagens hing ein Vogelbauer mit einer ganz besonderen Attraktion. Darin hockte ein ungewöhnlicher Spatz auf der Stange. Wenn er aufgeregt durch den Käfig tobte, konnte ein jeder seine verschiedenfarbigen Beine bestaunen.
Ob die wohl nur angemalt sind, überlegte Fritzi. „Was bist du für einer?“, fragte Fritzi den Gefangenen, der ihn mit traurigen Augen durch die Gitterstäbe ansah. „Was hältst du davon, wenn ich für einen kleinen Moment das Türchen öffne?“
Der Vogel nickte sofort, als habe er Fritzi verstanden. Fritzi drehte sich einmal um die eigene Achse. Niemand beachtete ihn. Mit einem schnellen Griff hatte er das Türchen sperrangelweit geöffnet. Der Spatz trödelte nicht lange, setzte im Flug über Fritzis Kopf hinweg und ließ dabei aus purer Dankbarkeit einen kleinen Klecks fallen, der seinen Befreier nur knapp verfehlte. Sein übermütiges Schilpen hörte sich beinahe an wie: „So ein Pech aber auch!“ Und schon war er verschwunden. Fritzi schloss die Tür ordnungsgemäß, steckte unschuldig dreinschauend die Hände in die Hosentaschen und verdünnisierte sich. Er musste ohnehin zum Mittagessen nach Hause.
Am Freitag holte Fritzi Wolle von zu Hause ab. Beide Jungs wollten die Nachmittagsvorstellung um drei besuchen und vorher noch ein bisschen die Tiere ärgern.
„Na, weißt du, du hast mich ganz schön in Verlegenheit gebracht. Max und Moritz wären beinahe zur Katastrophe geworden", beschwerte sich Fritzi als Erstes.
„Hast du nicht gewusst: Max und Moritz sind die Katastrophe!"
„Ich meine deine Sackhaare."
„Meine Sackhaare?"
„Tu doch nicht so blöd. Die in dem Briefumschlag. Meine Mutter hätte die beinahe zu sehen gekriegt."
„Ach die. Na und?"
Als sie zum Affenkäfig kamen, standen dort drei größere Mädchen davor, die sich ihre Hände vor den Mund hielten und trotzdem permanent glucksten und kicherten. Die beiden Freunde gesellten sich interessiert dazu, was ihnen böse Blicke einbrachte. Böse Blicke von den Lehrern kannte Fritzi aus der Schule, daraus musste man sich nichts machen. Und diese Drei waren eh nur blöde Ziegen! Die gaben sich kurz darauf geschlagen und zogen, nicht ohne zu meckern, Leine. Erst jetzt sahen Fritzi und Wolle, was die Mädchen so belustigt hatte. Der Affe hatte einen Ständer! Reichlich dünn, dachte Fritzi, aber ziemlich lang, rot und mit einer runden Knolle vorne drauf. Beide Hände abwechselnd, umfasste der Affe das schlanke Ding an der Wurzel und versuchte, es zur Knolle hin auszuquetschen. Dabei stierte er abwechselnd auf die rote Knolle und an die Wagendecke.
„Komm, lass uns gehen“, sagte Wolle. „Die Vorstellung fängt gleich am.“
„Nein, ich will das sehen! Diese Vorstellung gefällt mir viel besser“, gab Fritzi zurück und ärgerte sich über den drängelnden Spaßverderber.
Das war kaum gesagt, da schoss in hohem Bogen ein weißer Strahl in ihre Richtung, als hätte der geile Affe direkt auf sie gezielt. Entsetzt stoben die Jungs zur Seit, einer nach rechts, der andere nach links.
„Man, das war eine Ladung! Hast du das gesehen?“, fragte Fritzi voller Neid.
Natürlich hatte Wolle es gesehen, da es einfach nicht zu übersehen war. Außer, man war blind. Auf beiden Augen. Jeder sah an sich hinunter und überprüfte seine Klamotten. Es war gerade noch mal gutgegangen.
„Schade, dass die Mädchen nicht hier stehengeblieben sind. Das wäre ein Gaudi gewesen“, lachte Wolle.
„Ich denke, sie haben großes Schwein, die Ziegen! Wären sie hiergeblieben, dann wären sie jetzt alle schwanger.“ Auch Fritzi lachte.
Dem Affen wurde erst jetzt bewusst, dass er Zuschauer hatte. Weil er sich schämte, drehte er den Jungs sein Hinterteil zu und starrte verlegen auf die Rückwand des Wagens.
„Bei meinem Vater sieht das gelb aus!“, sagte Wolle unvermittelt.
„Was sieht bei deinem Vater gelb aus?“, fragte Fritzi.
„Na was wohl, wenn er abspritzt.“
„Woher willst du denn das wissen, das erzähl mir mal!“
„Ganz einfach, weil ich ihm einen runtergeholt habe“, erklärte Wolle ganz sachlich.
„Erzähl mir doch nicht so‘n Scheiß. Das glaubst du doch selber nicht und auch kein anderer Mensch“, protestierte Fritzi. Musste er sich denn von diesem Neunmalklugen jeden Mist einreden lassen?
„Doch, kannst du glauben! Er kam total besoffen aus der Kneipe und als er dann eingeschlafen war, hab ich ihm einen runtergeholt. Wirklich!“
„Das kannst du deiner Oma erzählen, aber nicht mir.“ Fritzi dachte an seinen eigenen Vater, der gelegentlich in gleichem Zustand nach Hause kam, und es grauste ihn bei dem Gedanken. Beleidigt über die Unverfrorenheit seines Freundes trat Fritzi zwei Schritte zur Seit und überlegte, ob er vielleicht Wolles Hände beim nächsten Mal abweisen sollte. Aber wohl besser nicht.
Na, meiner Oma werde ich es lieber nicht erzählen." Wolle lachte.
„Und der hat nichts gemerkt?“, hakte Fritzi nach. Er konnte sich das noch immer nicht vorstellen.
„Nicht die Bohne.“
Wolle zog Fritzi am Ärmel mit sich. Beide gingen zum Zelteingang, Fritzi hielt ein letztes Mal Ausschau nach Wolfi, zeigten ihre Eintrittskarten vor und suchten ihre Plätze auf. Sie hatten kaum Platz genommen, da fing auch schon die Vorstellung an.
„Weißt du, was ich letzte Nacht geträumt habe!“, flüsterte Fritzi in Wolles Ohr.
„Wenn du es nicht für dich behalten kannst, wirst du es mir wohl gleich sagen.“
„Von Regenwürmern, lauter Regenwürmer! Kannst du dir das vorstellen?“, fragte Fritzi.
„Bei dir kann ich mir das sogar sehr gut vorstellen. Du hast ja auch am Tage nichts weiter im Kopf als Würmer.“
„Und ein Jonny war dabei, der war so dick!“ Fritzi formte mit den Händen einen Kreisumfang, durch den gut und gerne ein Fußball hindurch passte.
Wolle sah nur müde lächelnd auf Fritzis Hände. Die Zirkuskapelle dröhnte.
„Das beeindruckt dich wohl nicht ein bisschen?“, fragte Fritzi endtäuscht.
„Nein, tut es nicht!“, antwortete Wolle. „Die kommen bei mir jede Nacht!“
„Ist das wahr?“ Fritzi musste automatisch an Wolles Vater denken. Immer wieder, während der ganzen Vorstellung. Er war richtig sauer auf Wolle.
Am Sonnabend stahl sich Fritzi gleich nach dem Mittagessen fort. Er ging über die Promenade am See zum Sportplatz. Ein paar ältere Jungs bolzten mit einem Gummiball in der Nähe der Umkleidebaracke herum. Für Fußball hatte Fritzi herzlich wenig übrig. Er ging weiter in Richtung Zirkus. Am östlichen Rand des Fußballplatzes, auf der Böschung hinter dem Tor, lehnte Wolfi am Geländer. Er war allein und sah zu den durcheinanderlaufenden Jungs hinüber. Dann bemerkte er den sich nähernden Fritzi, den er mit einem kurzen Wink begrüßte.
„Gehst du in die Nachmittagsvorstellung?“, fragte Fritzi.
„Ja. Du auch?“
„Nein, ich war schon gestern. Mit Wolle zusammen. Hast du Geld, dann komme ich nochmal mit rein.“ Fritzi wollte unbedingt mit Wolfi zusammen bleiben. Er durfte keine Möglichkeit versäumen.
„Nee, ich hab nur meine Eintrittskarte dabei“, erklärte Wolfi.
Fritzi überlegte einen Moment und fragte dann: „Warst du schon mal bei den Ponys?“
„Ich weiß gar nicht, wo sie die gelassen haben. Hier beim Zelt sind sie jedenfalls nicht.“
„Komm mit, ich zeig sie dir!“, bot Fritzi an.
Beide gingen am Kultursaal vorbei zur Feldberger Straße hoch. Dort bogen sie nach rechts ab und schon sahen sie die Zirkuswagen stehen.
„Ich kann mir schon denken, wo sie sind“, freute sich Wolfi und strebte mit Fritzi auf die linker Hand stehende Scheune zu.
An der Straßenseite war sie mit Gittern großzügig abgesperrt, sodass auch auf dem freien Platz davor Tiere eingepfercht werden konnten. Um Wolfi von der Straße weg zu lotsen, zog ihn Fritzi mit zur Hinterseite, wo sie durch die Fächer, aus den vor langer Zeit der Lehm herausgefallen war, freie Sicht auf die Ponys hatten. Drinnen dösten die Tiere vor sich hin, wedelten mit dem Schweif für einige Momente die lästigen Fliegen fort, und warteten auf ihren Auftritt. Fritzi machte Wolfi immer wieder auf besonders hübsche Exemplare hin. Es waren dies ausnahmslos Hengste, die, aus Langeweile oder weil ihnen der Hafer stach, ihre Teleskopstange ausgefahren hatten. Ein Hengst stand so nahe, dass sie hätten zugreifen können. Fritzi traute sich nicht und Wolfi war interessenlos. Wolfi hatte ein leichtes Nicki und auch eine kurze Hose an, die Fritzi genau im Auge behielt. Darin regte sich nix, vollkommen tote Hose!
Fritzi hätte hier gern noch länger verweilt, bemerkte aber, dass es Wolfi langsam öde wurde. Und so forderte er ihn auf: „Komm, wir gehen zu den Neubauten.“
Auf der Anhöhe südlich der Feldberger Straße hatte man der alten Windmühle zwei Plattenbauten vor die Flügel gesetzt. Erste Auswirkungen des Wohnungsbauprogramms auf dem Lande. Die nahezu fertigen Rohbauten warteten nur darauf, von unternehmungslustigen Knaben erforscht zu werden. Wolfi zögerte kurz. Er wollt doch in den Zirkus gehen, rief er sich in Erinnerung, aber bis zum Vorstellungsbeginn waren noch fast zwei Stunden hin. Also warum nicht. Fünfzehn Meter vor dem Gleis, auf dem der Montagekran stand, war eine Planierraupe abgestellt. Beide Jungs kletterten hinein und begannen gleich hier mit ihren Forschungsarbeiten. Wegen der drückenden Hitze hielten sich keine Leute unnötig im Freien auf, sie blieben folglich unbeobachtet. Das steigerte ihren Tatendrang ungemein, den Fritzi in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken bemüht war. Beim Herumkramen in der bordeigenen Werkzeugkiste fanden sie neben einer halbvollen Flasche Klaren, von dem sich Wolfi freiwillig einen tüchtigen Schluck genehmigte, auch den Zündschlüssel. Mutig steckte Fritzi ihn in das vorgesehene Loch im Armaturenbrett, holte tief Luft und drehte ihn bis zum Anschlag. Sie hatten nicht erwartet, dass die alte Kiste ganz spontan einen gehörigen Satz vorwärts machen würde. Das tat sie aber. Blieb danach wieder ganz friedlich stehen, ohne sich noch einmal zu rühren. Als der Schrecken von ihnen gewichen war, erhoben sich die Jungs von ihrem Hosenboden, schauten sich ängstlich um, da sie erwartet hatten, irgendwelche Leute angerannt kommen zu sehen. Es blieb alles still, es rührte sich niemand. Diese Art Raupe war ihnen nicht geheuer. Während Wolfi bereits hinaus kletterte, griff Fritzi noch einmal in die Werkzeugkiste. Vorhin hatte er darin eine aufgerollte Strippe gesehen, die er jetzt einsteckte. Dann rannten beide in gestrecktem Galopp zum erstbesten Hauseingang. Wolfi bog die Pappe, mit der der Eingang provisorisch abgedichtet war, soweit beiseite, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Und schon stürmten sie die Treppe hinauf bis in die erste Etage. Dort stoppten sie und verschnauften. In den Räumen lagen überall verschiedene Baumaterialien und Werkzeuge herum. In manchen Räumen waren bereits die Fenster eingesetzt. An den rohen Betonwänden des Treppenhauses hatten die Maler hier und da weiße Farbe ausprobiert. Das Treppengeländer war vom Keller bis unters Dach fertig montiert. Fritzi hatte die Hand in der Hosentasche und spielte. Er rollte das Knäuel zwischen seinen Fingern hin und her.
„Weißt du, dass die im Zirkus auch einen Entfesselungskünstler haben?“, fragte Fritzi.
„Nein, davon habe ich im Programm nichts gelesen.“
Der liest wohl nicht nur Bücher, dachte Fritzi. Ist doch langweilig! „Doch, doch! Das hat mir einer der Arbeiter erzählt. Ich hab nämlich mitgeholfen, das Zelt aufzubauen“, verkündete Fritzi stolz wie Bolle.
„Wirklich? An dem Tag war ich nachmittags beim Zirkus, aber da war schon alles fertig.“
„Soll ich dir einen tollen Trick zeigen, wie man sich selber befreien kann!“, lockte Fritzi. „Das geht ganz einfach.“ Er holte die Strippe aus der Hosentasche, behielt das Ende davon in der Hand und ließ die Rolle fallen, die auf dem Treppenabsatz liegen blieb, wo sich beide Jungs gerade befanden.
Wolfi schaute erst skeptisch auf die schmutzige Strippe, dann auf den grienenden Fritzi. Obwohl er der Sache nicht ganz traute, stimmte er einem ersten Versuch zu.
"Halt mal beide Arme nach hinten“, bat Fritzi. „Na los, es passiert dir schon nichts!“, sagte er weil Wolfi zögerte.
Wolfi tat, wie ihm geheißen. Fritzi trat hinter ihn und schnürte flugs Wolfis Hände zusammen.
„Nicht so fest!“, beschwerte sich der Jüngere. „Aua!“
„Hab dich nicht so.“
Fritzi zog noch ein bisschen fester, schubste Wolfi zwei Stufen die Treppe hinunter, hastete selber zwei Stufen nach oben, wo er die Strippe so am Geländer festzurrte, dass Wolfi weder vor noch zurück und auch die Verknotung nicht erreichen konnte. Ab diesem Moment schwante Wolfi nichts Gutes. Da sich Fritzi bisher niemals als Rabauke hervorgetan hatte, wollte Wolfi ihm aber gern vertrauen. Das änderte aber nichts daran, dass er sich in seiner Ausweglosigkeit hilflos und völlig ausgeliefert vorkam. Obendrein machte ihm zunehmende Übelkeit zu schaffen, die entweder von seiner Angst oder vom Schnaps herrührte. Inzwischen war Fritzi auf die Stufe neben ihn getreten und hatte die linke Hand beschwichtigend auf seine Schulter gelegt.
„Jetzt versuch doch mal, dich aus der Fessel zu befreien. Es ist ganz einfach“, sagte Fritzi, bestrebt, einen ruhigen Ton beizubehalten.
Er konnte Wolfis Angst körperlich spüren, die eigene war nicht minder erregend. Noch blieb Wolfi ruhig. Er bemühte sich redlich, die Strippe loszuwerden, die sich immer tiefer in seine Handgelenke einfraß und Schmerzen bereitete. Obwohl die ersten Tränen kullerten, biss er die Zähne zusammen. Fritzi war versucht, seinen Gefangenen freizulassen. Aber er durfte jetzt nicht aufgeben. Er strich mit der rechten Hand über die Innenseite von Wolfis rechten Oberschenkel.
„Ich schaffe es nicht. Mach mich sofort los!“
„Du versuchst es gar nicht richtig“, meinte Fritzi mit zitternder Stimme und schob seine Hand in Wolfis Hosenbein.
„Mach mich sofort los!“, wiederholte Wolfi schluchzend und schon ziemlich laut. „Ich sage alles meinem Vater!“
„Reg dich bloß nicht so auf. Ist doch alles nur Zirkus“, flüsterte Fritzi, dem ob Wolfis Drohung der Angstschweiß den Rücken runterlief.
„Mach mich bitte los, bitte. Ich sag auch keinem was“, bettelte Wolfi. Die Tränen liefen immer rascher die Wangen hinunter.
Fritzi hatte seine Hand wieder heraus gezogen und damit begonnen, Wolfis Hose aufzuknöpfen. Plötzlich riss Wolfi den Mund auf und schrie so laut er konnte um Hilfe, dass es durchs ganze Gebäude schallte. Blitzschnell presste Fritzi ihm die linke Hand auf den Mund. Vergeblich versuchte Wolfi, ihn in die Finger zu beißen. Mit der anderen Hand rupfte Fritzi ein großes Taschentuch aus seiner Hosentasche und stopfte es Wolfi in den Rachen. Der schüttelte den Kopf wild hin und her und trat Fritzi verstärkt mit dem Fuß. Fritzi stieg eine Stufe höher, klemmte Wolfis Kopf in den Schwitzkasten und riss ihm vollends die Hose samt Unterhose runter.
„Das hast du nun davon! Was musst du hier so rumschreien, hättest du nicht ruhig bleiben können. Dir tut doch keiner was.“ Fritzi war außer sich.
So heftig sich Wolfi auch zu wehren versuchte, er hatte keine Chance. Dabei wollte Fritzi ihm lediglich einen runterhohlen. Da brauchte man doch nicht so ein Tamtam machen. Das erwies sich aber anfangs schwieriger als gedacht, denn Wolfis Stängel wollte einfach nicht steif werden. Aber je mehr Wolfi erlahmte, desto größer und strammer wurde er.
„So ist es gut. Siehst du, es geht doch. Du musst nur wollen, dann ist alles halb so schlimm. Pass auf, gleich haben wir’s.“
Sofort nachdem Wolfi seinen wässrigen Samen über die Treppenstufen verteilt hatte, sackte er in sich zusammen. Fritzi hatte Mühe, ihn aufrecht zu halten.
„Und, war das nun so schlimm? Hat dir doch auch Spaß gemacht, oder?“, fragte er ihn.
Aber Wolfi regte sich nicht. Als Fritzi ihn endlich losließ, um ihn zu erlösen, da hatte sich schon jemand anderer erbarmt. Wolfis schlanker Körper hing leblos an der Strippe. Fritzi riss ihm spontan das Taschentuch aus dem Mund. Es war voller Erbrochenem und stank widerlich. Angeekelt hielt er es zwischen Daumen und Zeigefingen von sich weg, die anderen Finger abgespreizt, und wusste nicht, wohin damit.
„Ach komm schon, jetzt ist doch alles wieder gut.“
Aber nichts war gut, gar nichts! Fritzi tätschelte Wolfis Wangen und wartete auf eine Reaktion. Die kam aber nicht, solange er auch versuchte, ihn wieder munter zu kriegen. Als ihm endlich dämmerte, dass Wolfis kleine Seele schon längst den Neubau verlassen hatte, setzte er sich neben ihn auf die Stufe und heulte Rotz und Wasser. Auch du Scheiße, was mach ich jetzt bloß, war das Einzige, was er immer wieder zu denken in der Lage war.
„Das kannst du jetzt behalten“, sagte Fritzi, als er sich einigermaßen beruhigt hatte, und steckte das Taschentuch zurück in Wolfis Mund, aus dem beständig irgendwelches Zeugs sickerte. Er stand auf, wischte sich mit beiden Handrücken übers Gesicht und lief in die nächsten Räume, um zur Vorder- und Hinterseite des Hauses vorsichtig aus einem der Fenster zu sehen. Nirgends eine menschliche Gestalt. Er überlegte angestrengt. Aber sein Hirn weigerte sich, geradeaus zu denken. Ihm wurde augenblicklich speiübel. Haltsuchend klammerte sich Fritzi ans Treppengeländer.
„Siehst du nun, was du davon hast? Aber du bist selber schuld!“, schrie er, als er wieder zu sich kam. „Was mach ich bloß? Was mach ich bloß?“
Da kam ein kleiner Vogel durchs offene Treppenfenster hereingeflogen. Ein Spatz mit verschiedenfarbigen Beinen. Flatternd umkreiste er den zu Tode erschreckten Fritzi. Einmal, zweimal. Dann flog er im Treppenhaus nach unten, wo er heftig zu schilpen begann, als schwebe auch er in Lebensgefahr. Fritzi lief ihm nach, ohne zu wissen, was er tat. Er fand den Spatz unten im Keller auf einer Sandfläche, in die der Vogel ein Loch scharrte. Fritzi schaute eine Weile zu, bis ihm endlich ein Licht aufging.
„Meinst du, das geht?“, fragte er den Vogel.
Der nickte, flatterte wieder nach oben und zum Fenster hinaus. Fritzi war zweiflerisch. Er stand im Halbdunkel zwischen halbfertigen Kellerverschlägen. Aus einem nicht ersichtlichen Grund war im Fußboden eine Fläche von circa siebzig mal neunzig Zentimeter aufgestemmt worden, in dem der Spatz gescharrt hatte. Ein Teil der herausgebrochenen Betonbrocken lag noch unweit des Loches. Es gab aber auch einen Haufen mit Kies, dem schon Zement beigemischt war. Wahrscheinlich sollte das Loch gleich am Montag wieder verschlossen werden. Fritzi ergriff die bereitstehende Schaufel und fing an, den festgestampften Sand aus dem Loch zu heben. Anfangs war es gar nicht mal so schwer, es machte sogar Spaß. Aber je tiefer er grub, desto anstrengender wurde das Spiel. Schließlich musste er aufgeben. Die Schippe war unerträglich schwer geworden, die Arme und das Kreuz schmerzten und Schweiß und erneute Tränen nahmen ihm die Sicht. Er stieg aus dem Loch und schwankte zur Treppe, wo er sich auf die zweite Stufe setzte, das Wasser aus den Augen drückte und kräftig durchatmete. Nach und nach kehrten seine Sinne zurück. Er rappelte sich auf und ging nach oben. Der schwerste Teil lag ja noch vor ihm.
Wolfi lag noch genauso auf den Stufen, wie er ihn verlassen hatte. Die Hoffnung, dass der Junge weg wäre, wenn er hochkäme, vielleicht davongelaufen wäre oder sich ganz einfach in Luft aufgelöst hätte, hatte sich nicht erfüllt. Er versuchte, Wolfi, der einen halben Kopf kleiner war, aufzuheben. Aber das ging einfach nicht. Und Wolfi machte keine Anstalten, mitzuhelfen. Fritzi bekam ihn wenigstens soweit angehoben, dass Wolfis Hinterkopf auf seiner Brust zu liegen kam. Dann griff er unter seinen Armen hindurch und zerrte ihn rückwärts die Treppe hinunter. Wolfis Hacken knallten von Stufe zu Stufe, bis beide nach mehreren Verschnaufpausen im Keller angelangt waren. Dort ließ ihn Fritzi vorsichtig ins Loch gleiten, mit dem Füßen voran. Dabei fiel ihm ein, dass es vielleicht sinnvoll sei, Wolfis Hosentaschen zu untersuchen. Er legte ihn ab. In der rechten Tasche fand er die zusammengefaltete Eintrittskarte. Aus der linken holte er zwei zerschrammte Glasmurmeln und etwas Kleingeld. Man soll nicht schwindeln, denn es kommt sowieso alles ans Tageslicht, dachte er. Fritzi steckte alles ein. Bis auf die alten Murmeln, die konnte Wolfi womöglich noch gebrauchen. Das Geld würde für ein schönes Eis reichen. Nun schob er den leblosen Körper vollends ins Loch. Er achtete darauf, dass Wolfi sich an der Betonkante nicht den Kopf stieß. Leider erwies sich Wolfi, so schmächtig er auch war, für das Loch als zu sperrig. Wegen seiner Teilnahmslosigkeit belegte ihn Fritzi mit den übelsten Schimpfworten, die er kannte. Zuletzt lag Wolfi aber doch in seinem Grab, wie ein Strohballen zusammengepresst. Ohne zu zögern bedeckte Fritzi ihn mit dem ausgeschaufelten Sand. Jede Lage trat er mit dem Fuß behutsam fest. Als die Sandschicht die ursprüngliche Höhe erreicht hatte, stellte sich Fritzi mit beiden Beinen darauf. Es federte ein wenig. Dann glättete er die Fläche. Den übriggebliebenen Sand, und das war nicht wenig, schippte er auf den Haufen Sand-Zement-Gemisch. Dazu noch ein paar Schaufeln Zement aus einer der rumliegenden Tüten. Zuletzt schippte er vom Rand des Haufens ringsherum einige Schaufeln voll obendrauf, so wie er es bei seinem Vater gesehen hatte, wenn der Mörtel anmischte. Wenn am Montag die Maurer kommen, dann wird alle Feuchtigkeit weggetrocknet sein, tröstete er sich. Fritzi betrachtete sein Werk und war mit sich zufrieden. Fürs erste Mal jedenfalls. Als er die Treppe hochstieg, bemerkte er allerdings die verräterischen Spuren, die Wolfis Hacken in den Staub auf den Stufen gezeichnet hatten. In einem der oberen Räume fand er einen Besen, mit dem er auf jeder Stufe den Staub verwischte.
Behutsam, nur Schritt für Schritt, trat Fritzi aus dem Haus. Weit und breit war niemand zu sehen. Nur der Spatz schilpte zur Begrüßung und hüpfte auf einem Stapel Dachpappe hin und her. Draußen stand eine Tonne voller Wasser. Darin wusch er sich die Hände. Anschließend klopfte er den Dreck von seinen Klamotten. Fritzi steckte die Hand in die Hosentasche, klimperte mit den Münzen, zog die Eintrittskarte heraus, strich sie glatt, winkte damit dem Spatz und ging seelenruhig davon. Zum Zirkus. Ist sowieso alles nur Zirkus, dachte er.

Rostock, den 18. 03. 2014




112 - 118

Zurück zur Titelübersicht


Zurück zum Seiteninhalt