Tagebuch einer Schlange / 14. Eintrag
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Dienstag, d. 22. Feb. 83, 22.15 Uhr
Kurz vor 21 Uhr klingelte es. Jonas stand vor der Tür.
Ich war gerade dabei, mir einen Film mit dem alten Fröbe anzusehen. Wenn ich fernsehe, bin ich noch maulfauler als sonst. Jonas beschwerte sich auch prompt darüber. Dann fragte er, wo ich gestern gewesen sei? In einem Tonfall, der voraussetzte, dass er hier gewesen sei und mich nicht angetroffen habe. Ich war aber hier und sagte ihm das auch. Diese hinterlistige Art, mich reinzulegen, ist bei ihm sehr ausgeprägt. Bei diesen Verhörmethoden kann ich oft nicht an mich halten. Dann vergesse ich mich. So auch heute wieder. Ich habe vor Wut an sein Brauseglas gestoßen, das er gerade zum Trinken angesetzt hatte. Er sprang auf und lief ins Bad. Seinen Pullover und das Hemd zu trocknen. Dabei konnten beide gar nicht allzu viel abbekommen haben, denn die meiste Brause ging auf mein Sofa. Anschließend übten wir uns weiter im Verteilen von kleinen Stichen und Seitenhieben. Leider muss ich eingestehen, dass Jonas mir darin haushoch überlegen ist. Er beherrscht das weite Feld der Demagogie. Beginnend mit bissigen Ironien bis hin zu giftigen Anspielungen und Andeutungen, die er dann im Raum stehen lässt. Meist bin ich so vor den Kopf gestoßen, dass ich nicht angemessen kontern kann. Das legt er dann als stilles Eingeständnis meiner Schuld aus. In solchen Momenten möchte ich ihn zum Mond schicken. Oder noch weiter weg. Ich hasse diese Diskussionen. Sie führen zu nichts. Sie schaffen höchstens eine Kluft zwischen uns, die am Ende keiner von uns zu überspringen vermag.
Weil die Sache nicht eskalieren sollte, bot ich ihm den Wohnungsschlüssel an. Natürlich mit der Bedingung, mit der Bitte, meine diesbezüglichen kleinen Wünsche zu berücksichtigen. Dieses Angebot lehnte er als Verhandlungsbasis ab. Ich hätte ihm das Vertrauen entzogen. Und er wolle, wenn es an der Zeit wäre, offiziell die Vertrauensfrage stellen.
Warum kam er überhaupt her? Wirklich nur, um ein paar Sachen zu holen? Oder hatte er vielmehr erwartet, hier eine eindeutige Situation anzutreffen, die mir peinlich gewesen wäre und ihn hätte triumphieren lassen? In dieser Erwartung sah er sich dann wohl endtäuscht.
Schon die ganze Woche wollte ich die vielen Zahnbürsten entsorgen, die ich in meinen ersten Rostocker Jahren hier gesammelt habe. Bevor ich Jonas kennenlernte. Auf jedem Stiel ist ein Name eingeritzt. Die Bürsten wurden von ihren Namensträgern meist mehrmals benutzt. Manche aber auch nur einmal. Bevor ich alle endgültig in den Müll werfe, hier die eingekratzten Namen. Jeder einzelne steht für eine kleine Episode meines Leben: Ralf, Peter, T. M. (keine Ahnung, wer das war), Gunter, Ingo, Harald, Winfried, Bernd, Detlef W., Uwe K., Wolfgang, Norbert … Zusammen mit ein paar namenlosen sind es genau zwanzig.