Tagebuch einer Schlange / 15. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 15. Eintrag

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Montag, den 30. Mai 83

Mal wieder ein Eintrag. Nach langer Zeit. Das heißt nicht, dass es inzwischen nichts gegeben hat, was einen Eintrag wertgewesen wäre. Es gab schon was. Aber oft finde ich nicht die nötige Zeit oder Muße dazu.
Ich sitze hier. In meiner Stube. Schaue in den schönen, doch kühlen Abend hinaus. Und höre Piotr zu, wie er Musik macht. Musik, die so richtig zum heutigen Abend passt. Die Platte ist aus Polen. Ich überdenke das letzte Wochenende. Und das Wochenende vor Pfingsten. Habe es seitdem schon mehrmals gemacht. Das Wochenende vor Pfingsten beschäftigt mich unablässig. Mehr als mir lieb ist. Oder? Jonas‘ Mutter war nach Bulgarien abgereist. Urlaubshalber. Er selbst musste notgedrungen seine sehr viel jüngeren Geschwister hüten. Und mich mir selbst überlassen. Ich solle die Zeit gut nutzen. Mich richtig austoben. Sagte er jedenfalls. Ob er es so wörtlich gemeint hatte? Ich weiß es nicht.
Ich habe mich also landfein gemacht. Bin in die Stadt zum Kino gefahren: Mexiko stand in Flammen. Für ganze 26 Mann. Ach ja, davor war ich noch in einem Café. Habe einen Cocktail getrunken. Dann auf dem Weg zum Kino Torsten getroffen. Er hatte einen seiner vielen Freunde bei sich. Sie hatten vor, in den Studentenkeller zu gehen. Der Film war langgenug, sodass der vorgerückte Abend angemessen dunkel war, als ich das Kino verließ. Auf dem Wall, den ich ewig nicht mehr besucht hatte, herrschte reger Betrieb. Staunte, wie viele Rentner noch zu so später Stunde Luft schnappen waren. Das richtige Material war aber nicht greifbar. Nach mehrmaligen Kontrollgängen traf ich auf einige Bekannte zum Plaudern. Als ich endlich einsehen musste, dass es wohl nichts mehr werden würde mit dem Austoben, war es schon reichlich spät. Oder schon wieder sehr früh? Jedenfalls hatte ich die Schnauze gestrichen voll. Hatte zwar einen Freibrief, aber kein Glück. Auf dem Weg zum Bahnhof durchkramte ich meine Taschen nach einer Fahrkarte für die letzte S-Bahn. Als ich den Bahnsteig betrat, stand er da: Manfred. Den Namen habe ich aber erst später erfahren.
Es hat lange gedauert, bis wir die ersten Worte wechselten. Aber kaum war das Eis gebrochen, schmolz es schnell dahin. Just in dem Moment kam der Freund von Torsten angeschlendert. Reichlich beschwipst und sehr fröhlich. Trotzdem erkannte er mich. Hängte sich bei mir ein und tat übermäßig vertraulich. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich das sehr begrüßt. Wäre sogar froh gewesen, wenn er hätte mitkommen wollen. Gut aussehend und jung: das ist schon immer mein Fall gewesen.

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