Tagebuch einer Schlange / 16. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 16. Eintrag

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Sonnabend, d. 04. Juni 83

Das Eintragen am 30. Mai habe ich abbrechen müssen. Bevor ich das dort angefangene Thema fortsetze, soll an dieser Stelle erst mein Brief an Manfred wiedergegeben werden. Hab ihn aber noch immer nicht abgeschickt.
 
Rostock, d. 01. Juni 1983
Lieber Manfred!
Es ist jetzt kurz nach einundzwanzig Uhr. Bis vor wenige Minuten hatte ich Besuch: Kay. Er ist in meiner Sportsektion und hatte eine Frage betreffs der ČSSR-Reise im nächsten Monat.
Ich sitze hier vor dem Briefpapier und grüble, wie ich das am besten schreiben soll, was ich Dir eigentlich am Sonntagnachmittag schon hatte erzählen wollen. Es zu schreiben wäre leichter, dachte ich. So muss ich auch nicht Deinem vorwurfsvollen oder gar verachtenden Blick standhalten.
Also: Jonas‘ Mutter fuhr vor drei Wochen nach Bulgarien. Jonas musste deshalb auf seine kleine Schwester und seinen kleinen Bruder aufpassen. Zu mir sagte er, ich solle die Zeit nutzen und mich richtig austoben. Wahrscheinlich hoffte er, ich würde es nicht tun. Wenn ich es doch getan haben würde, musste er mir trotzdem verzeihen. Aber das jetzt zu erklären, würde viel Kraft kosten. Um es vorwegzunehmen, ausgetobt habe ich mich nicht. Ich bin nur einmal abends ins Kino gegangen. Im Anschluss daran lernte ich Dich kennen. Der lange Fußmarsch von Marienehe nach Lichtenhagen wird Deinen Beinen sicher noch in Erinnerung sein.
Ich hatte den Abend mit der festen Absicht begonnen, etwas zu erleben. Den Abend und noch viele andere. Normalerweise sind dann die Bekanntschaften nichts weiter als Eintagsfliegen. Oder besser gesagt: Eine-Nacht-Fliegen. Man trifft sie beispielsweise nach einem Kinobesuch an. Kaum geboren, wirst du von ihnen zweimal umflattert, bevor sie ganz plötzlich sterben. Und immer so weiter. Und ich wollte ja auch nichts anderes. Und so wäre es ja auch gut gewesen. Das Schicksal hält die Fäden in der Hand, an denen wir alle zappelnd hängen. Sie lenken unsere Schritte. Sie war es, die mich an Dich „geraten“ ließ. Du tust recht daran, wenn Du mich jetzt einen Schuft nennst und mich verdammst. Denn das wirst Du jetzt tun. Ich glaube Dich soweit kennengelernt zu haben, um zu wissen, dass Du solchen Kerlen lieber aus dem Weg gehst. Ich konnte doch nicht wissen, dass Du keine Eintagsfliege sein wolltest. Dass Du ein so feiner Mensch bist. Und deshalb will ich mit Dir keine miesen Spielchen treiben. Deshalb wollte ich am Sonntag mit Dir darüber reden. Brachte es aber nicht fertig. Und deshalb schreibe ich Dir jetzt. Um nicht noch mehr Schaden anzurichten, bin ich kein zweites Mal ins Kino gegangen.
Jonas macht mir die bittersten Vorwürfe wegen meines Verhaltens. Und ich kann dem nichts entgegensetzen. Ich habe in Dir eine Hoffnung geweckt, so glaube ich wenigstens, in der Du Dich jetzt getäuscht siehst. Es tut mir aufrichtig leid, glaube mir! Wenn Jonas nicht wäre, würde ich liebend gern mit Dir was Beständiges aufbauen. Denn dass ich im Grunde kein flatterhafter Vogel bin, siehst Du daran, dass ich mit Jonas über drei Jahre zusammen bin. Und ich werde an ihm festhalten.
Ich wünsche mir jetzt nur, dass Du mich vielleicht doch nicht ganz so verachtest, wie Du eigentlich das Recht dazu hättest, und mich trotzdem einer kleinen Antwort für würdig hältst. Ich möchte, dass wir trotzdem Freunde bleiben. Ich verbleibe mit den herzlichsten Grüßen als …

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