Tagebuch einer Schlange / 17. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 17. Eintrag

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Donnerstag, d. 09.06.83, 19.10 Uhr

Habe heut von Manfred eine kurze Antwort bekommen. Hier der Wortlaut seines Briefes:
7.6.83
Lieber Bodo!
Habe Deinen Brief am Montag bekommen. Als ich ihn las, war ich enttäuscht. Ich hatte in Dir eine große Hoffnung gesetzt, aber leider vergebens. Du hättest doch bei unserem Kennenlernen am Montag sagen können, dass Du befreundet bist. Also hast Du mich an der Nase herumgeführt, wie einen kleinen Bengel. Du musst den Jonas ja sehr gern haben. Ich hasse Dich deshalb nicht, aber Du hättest ja etwas sagen können. Wir können ja im Guten auseinandergehen.
Ich wünsche Dir viel Glück im weiteren Leben.
Viele Grüße Manfred

Kurz und knapp. Möchte aber noch nicht auf diesen Brief eingehen, sondern endlich dort weitermachen, wo ich am 30. Mai aufgehört hatte:
Nachdem mich Torstens Freund aus seiner schnapsseligen Umarmung entlassen hatte, ging er von dannen, auf der Suche nach irgendwas. Hätte ich den mit zu mir genommen, hätte ich hinterher keine Kopfschmerzen gehabt. Er hätte keine Fragen gestellt, wär einfach mitgekommen. Ihm wäre klar gewesen, worauf eine spätabendliche Bekanntschaft hinausläuft. Ganz anders verhielt es sich mit Manfred! Der machte erst noch eine längere Unterhaltung erforderlich. Bei ihm konnte ich mein Ziel nicht so einfach erreichen. Ich wollte mir nicht die ganze Zeit umsonst um die Ohren geschlagen haben. Wolle ich in jener Nacht noch was erleben, musste ich ihn irgendwie dazu bringen, mich nach Hause zu begleiten. Damit war er dann auch endlich einverstanden. Aber erst nach gründlicher Befragung: Unter anderem: Ob ich schon einmal für längere Zeit befreundet gewesen sei? Ob ich derzeit einen festen Freund habe? Auf gar keinen Fall wollte er mitkommen, wenn bei mir zu Hause womöglich mein Freund warte!
Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als bestimmten Fragen auszuweichen. Ich hab ihn nicht direkt belogen. Aber eine Menge verschwiegen. Hatte große Mühe, mich nicht zu verhaspeln. Zuletzt drehte sich mein Grips im Kreis. Vor mir selbst rechtfertigte ich mein Verhalten mit der seelischen Notlage, in der ich mich befand. Die nach baldige körperliche Befriedigung verlangte. Und in dem Bewusstsein, dass wir uns nach dieser Nacht ohnehin nie wiedersehen würden. Die Moral wird solange mit Füßen getreten bis sie im Arsch ist.
Für die S-Bahn war es zu spät. Sind dann mit der Straßenbahn nach Marienehe. Von dort zu Fuß bis Lichtenhagen. Kurz vor der Siedlung in Lichtenhagen fragte Manfred, ob ich nicht vielleicht doch einen Freund habe. Wenn ja, drohte er, werde er sofort umdrehen. Um 3.30 Uhr waren wir zu Hause und um 4 Uhr war ich am Ziel.
Manfred blieb dann bis halb fünf, glaube ich. Nachmittags! Haben bis dahin die Zeit recht angenehm verbracht. Lernte ihn als einen ordentlichen und netten Jungen kennen. Und das schlechte Gewissen begann an mir zu nagen. Als ich ihm sagte, dass er Pfingsten nicht kommen könne, war er tatsächlich ein wenig traurig. Er sah aber ein, dass ich dann zu meinen Eltern müsse. Dafür kam er dann am Sonnabend. Holte ihn sogar von der S-Bahn ab. Es war wohl 17.Uhr, als wir zu Hause waren.
Ich hatte mir fest vorgenommen, mit ihm am Sonntagnachmittag über Jonas zu sprechen. Er hatte zwar nicht ausdrücklich darüber gesprochen, dass wir für längere Zeit zusammen bleiben sollten, ich hatte aber das Gefühl, dass Manfred so etwas vorschwebte. Inzwischen hatte mein schlechtes Gewissen bereits große Löcher in meinen Bauch gefressen. Ich traute mich nicht, ihm die reine und volle Wahrheit zu gestehen. Und außerdem hatte Jonas inzwischen nicht versäumt, mir ausführlich zu erklären, was er von der Sache hält. So etwas kann er sehr gut. Ich bin jedes Mal beeindruckt.
Als Manfred erzählte, er habe Wochenenddienst und müsse deshalb bereits Sonntagfrüh um sechs wieder los, musste ich meinen guten Vorsatz fallenlassen. Wollte natürlich vermeiden, dass er noch am selben Abend abhaut.
So ist das nun einmal: auch das schlechte Gewissen ist nichts weiter als ein Schweinehund. Er sorgt dafür, dass immer erst dann gebeichtet wird, wenn auch das Letzte aus einer Sache herausgeholt ist. Es heißt doch auch: zwei Seelen wohnen in meiner Brust. Die Frage ist nur, sind es wirklich nur zwei?
Manfred fuhr in Erwartung eines Briefes nach Hause, in dem ich ihm mitteilen sollte, wann er wiederkommen könne. Einen Brief hab ich geschrieben. Aber nicht, wann ich ihn zurück erwarte. Sondern, dass ich ein Schuft bin. Und auch wieder nicht. Wie enttäuscht er gewesen sein musste, spiegelt seine Antwort darauf nicht wider. Ich denke, mein Brief war ehrlich gemeint. Freue mich, dass er überhaupt geantwortet hat. Ob wir wirklich Freunde bleiben? Wohl eher nicht.

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