Tagebuch einer Schlange / 18. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 18. Eintrag

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Donnerstag, d. 30.06.83, 22.00 Uhr

Ein Küsschen in Ehren, kann niemand verwehren! Und schon gar nicht zum Abschied. So sind Jonas und ich auch heut Abend wieder voneinander geschieden. Aber nicht ohne uns vorher zum x-ten Male sehr heftig zu streiten. Es ging wieder einmal um meine vielen Liebschaften. Die ich angeblich haben soll. Und die ich mit großer Geschicklichkeit zu verbergen verstehe. Es ging auch mal wieder über seinen Einzug bei mir. Mit seinen Siebensachen und mit Pauken und Trompeten. Wo ich strikt dagegen bin! Nicht zuletzt ging es um den Vorwurf, dass ich einem noch häufigeren Zusammensein entgegen wirke. Mit allen Mitteln! Ich würde seine Bemühungen hintertreiben. Er will auf keinen Fall die Kontrolle über mich verlieren. Sagt Jonas. Und auch, dass er sich nicht den Mund verbieten lässt. Er wird immer sagen, was er denk.
Diese Sätze wollte ich aber nur dem Erlebnis voranstellen, welches wir letzten Sonntag hatten.
Das Wetter war herrlich. Sind deswegen zum Strand gefahren. Dorthin, wo wir immer hinfahren. Es lag aber bereits ein blonder Jüngling auf „unserem“ Platz. War er wirklich blond? Wir bauten unseren Windschutz auf. In angemessener Entfernung. Nicht zu weit weg, versteht sich. So, dass wir die Sonne im Rücken hatten, wenn wir zu ihm rüber sahen. Er blieb leider nicht sehr lange. Eigentlich war es nicht sonderlich windig. Auch nicht so heiß wie eine Woche zuvor. Das Wasser war angenehm, wenn auch nass. Wir trauten uns mehrere Male hinein. Mit Interesse beobachteten wir jeden Leut, der sich von links oder rechts näherte. In einiger Entfernung konnten wir sogar Andreas wahrnehmen. War mit seiner Mutter da.
Dann kam ein Junge am Ufer entlanggeschlendert. Auch blond. Glaube ich. Um die 17 rum. Er musterte uns schon von weitem. Ließ sich dann in dem eben beschriebenen Abstand nieder. Dummerweise mussten wir jetzt aber gegen die Sonne blicken. Alles an dem Hasen sah prachtvoll aus. Zum Anbeißen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Jonas war auch Feuer und Flamme. Eigenartigerweise schienen nicht nur wir an ihm Interesse zu zeigen. Sondern er auch an uns. Denn er beobachtete uns ganz ungeniert. Dabei blieb es aber leider. Später wurde es uns zu kühl. Packten unsere Sachen zusammen und zogen uns an. Aber ohne Eile. Auch der Junge begann sich anzuziehen. Und war eher fertig als wir. Und ging. Er warf uns noch einen sehr langen Blick zu. Ich bedauerte sehr, nicht allein zu sein. Würde ich dieses Schmuckstück je wiedersehen? Wehmütig sah ich ihm nach. Wir schnappten unsere Sachen und gingen zu den Rädern, die wir damit beluden. Wir schoben sie bis zum Weg vor. Weit vorne sahen wir den Jungen. Auf einem Rad fahrend. Kurz darauf bog er nach rechts ab. Als wir zu der Stelle kamen, zeigte Jonas in seine Richtung. Dahinten fährt er, meinte er. Das war dann wohl das Letzte, was wir vom ihm sahen. Doch plötzlich blieb er stehen. Drehte sich in unsere Richtung um. Sah uns. Wendete. Und kam direkt auf uns zu. In dem Augenblick fühlte ich mich wie vor eine Kanone gebunden. In der Gewissheit, dass jeden Moment die Kugel von hinten kommen kann. Trotz allem hofft man auf ein gutes Ende. So oder so. Er hielt bei uns an. Fragte: „Na, wo wollt ihr denn hin?“ Ich war derart verdattert, dass ich nur: „Da lang“, raus brachte.
Wir drei fuhren gemeinsam zu mir. Unterwegs wurde kaum ein Wort gesprochen. Es bedurfte wohl keiner weiterführenden Konversation. Ich aber dachte an den Ärger, den wir erneut heraufbeschworen. Ganz gleich, wie sich die Situation entwickeln würde. Er war unausweichlich. Erst hier machten wir uns halbwegs miteinander bekannt. Was nicht unbedingt üblich sein muss. Der Bengel heißt jedenfalls Bernd. Während ich die Treppe fegte, dummerweise war ich mit Flurdienst dran, deckten Jonas und Bernd den Tisch fürs Abendbrot. Da man mit vollem Mund nicht spricht wurde nach dem Essen ausgiebig erzählt. Unter Zuhilfenahme von ein paar kleinen Gläschen erfuhren wir dann, dass Bernd im Fischfang tätig ist und sogar schon seine Armeezeit hinter sich hat. Also nichts mit 17 und so. Eher 17 und 4! Die Sache zog sich hin bis gegen 22 Uhr. Dann ging ich mich waschen. Und baute mein Bett. Bernd stand unschlüssig in der Gegend rum. Während auch Jonas sein Bett machte und ins Bad ging, zog ich Bernd aus. Natürlich wolle auch Bernd vorher das Bad aufsuchen. Wir warteten Jonas‘ Rückkehr ab. Dann brachte ich Bernd ins Bad. Hielten uns aber nicht lange auf. Jonas hatte, wie konnte es anders sei, mein Mitgehen in seiner ihm typischen Art missverstanden. Er vermutete, dass ich wieder gegen ihn intrigiere. Denn als wir wieder in die Stube kamen lag er schon in seinem Bett. Zugedeckt bis über den Scheitel. „Dann eben nicht!“, sagte ich. Und stieg zusammen mit Bernd in mein Bett. Mir fiel es verdammt schwer, mit Bernd etwas anzufangen. Im Beisein von Jonas, meine ich. Mein Bettgenosse schien diesbezüglich keine Hemmungen zu kennen. Da ich aber aus eigener Erfahrung wusste, wie Jonas sich fühlte, kostete ich wenigstens die Schadenfreude bis zuletzt aus. Jonas hielt es nicht lange aus. Nahm sich ein Buch und flüchtete ins Bad. Angeblich hat er sogar darin gelesen. An seiner Stelle hätte ich mir lieber eine Flasche aus dem Kühlschrank genommen. Kurz vor 24 Uhr habe ich Bernd verabschiedet. Er sagte, es sei Spitze gewesen. Und ich, dass er gerne wiederkommen könne. Leise fragte Bernd, ob es zwischen mir und Jonas irgendwelche Absprachen gibt? Er wollte wissen, wann Jonas hier ist. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich montags und donnerstags sturmfreie Bude habe. Dann sei es günstig.
Jonas hatte im Bad reichlich Zorn aufgebaut und gespeichert. Ein wenig verrauchte davon, als er heftig mit den Türen schmiss. Danach beruhigte er sich schnell. Wenn ich seinen Zustand denn als ruhig bezeichnen will. Jedenfalls haben wir beide den größten Teil der Nacht nur damit zugebracht, uns von einer Seite auf die andere zu drehen. Unsere Gedanken kreisten nur um das bereits Geschehene und das, was eventuell noch kommen mochte. Erst gegen Morgen, es war schon lange hell, schliefen wir unruhig ein.
Glück für mich, dass Bernd nicht ausgerechnet heute gekommen ist. Aber vielleicht sehe ich ihn sowieso nicht wieder.

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