Tagebuch einer Schlange / 19. Eintrag
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Mittwoch, d. 27. Juli 83, 20.40 Uhr
Während einer Fahrradtour zum Strand, es ist schon eine Weile her, fragte Jonas einmal, wie ich es anzustellen gedächte, am Strand einen Jungen „anzumachen“.
Gelegenheit macht Diebe! Das heißt in etwa, dass die äußeren Umstände dazu passend sein müssen. Ich skizierte ihm eine mögliche Vorgehensweise. Immer vorausgesetzt, dass es die Umstände erlauben. Niemals würde ich zwingende Gewalt anwenden. Der Junge soll selbst Spaß daran haben. Er muss also vorher entsprechende Signale ausgesandt haben. Vorausgesetzt, eine solche Zielperson befindet sich in akzeptabler Nähe, würde ich sie anzusprechen versuchen. Mit irgendwelchen belanglosen Themen. Vielleicht Wetter, Welle, Sand. Kommt auf die Situation an. Der Junge ist ja nicht dumm, er weiß ganz genau, wo er sich befindet und was dort vor sich geht. Er hat also zwei Möglichkeiten: er ist abweisend oder lässt sich auf ein Gespräch ein. Im ersten Fall verdrücke ich mich. Im zweiten kann sich eine Unterhaltung anschließen. Irgendwann schlage ich vor, Karten zu spielen. Ist er einverstanden, bitte ich ihn, die Karten aus meiner Fahrradtasche zu holen. Darin liegen aber zwei Kartenspiele: ein normales Skatblatt und ein Spiel aus Polen mit pornografischen Bildern. Das polnische Blatt liegt obendrauf, er muss dies zuerst greifen. Alles Weitere hängt nun von seiner Reaktion darauf ab. Ignoriert er es und fragt auch später nicht nach, dann hat sich die Sache erledigt. Dann gibt es eben nur Mau Mau. Möchte er sich aber die Bilder ansehen, gleich oder später, sind wir auf dem richtigen Weg. Denn beim Anschauen bekommt er unweigerlich einen Steifen. Man muss eben ganz genau die Reaktionen des Jungen beobachten und natürlich vor öffentlichen Störungen sicher sein. Und bis jetzt hätte ich noch keinen Bengel erlebt, der dann nicht begierig stillgehalten hätte, beendete ich meinen Vortrag. Bei der Gelegenheit bat ich Jonas, mir aus der Stadt ein neues Skatspiel mitzubringen. Was er tatsächlich tat.
Am 8. Juli, einem Freitag, bot sich mir die Möglichkeit eher Feierabend zu machen. Nutzte diese unrechtmäßige Freizeit dazu, an den Strand zu fahren. Das Wetter passte. Ich nahm auch beide Kartensiele mit. Oberhalb der Uferböschung gibt es eine strauchfreie Stelle, die wir gern benutzen, wenn es unten am Strand ohne Windschutz zu ungemütlich ist. Diese steuerte ich an. Leider Gottes lagen bereits zwei Halbwüchsige dort in der Sonne. Ich fragte sie, ob ich mich etwas abseits platzieren dürfe. Da sie nichts dagegen hatten, machte ich mich in meiner Ecke breit. Und begann auch gleich mit der Kontaktaufnahme nach oben beschriebenen Muster. Dabei waren beide Jungs außergewöhnlich entgegenkommend. Der eine hieß Raik, der andere hatte bereits einen Ständer. Leider war mir der Endsieg verwehrt. Hierfür gab es gleich drei Gründe. Erstens waren sie zu zweit. Ich bin mir nicht sicher, ob beide mitgemacht hätten. Zweitens wurde mir langsam die Zeit knapp. Hatte versprochen, abends einen Krankenbesuch zu machen. Und drittens, der entscheidende Grund war, dass just in dem Moment Jonas auftauchte. Er war schon bis zum Stehkragen geladen, weil ich allein zum Strand gefahren war. Natürlich erfasste er die Situation auf einen Blick, was den Druck noch weiter ansteigen ließ. Alle Anwesenden hatten riesiges Schwein, dass er nicht auf der Stelle explodierte. Die Detonation hätte vermutlich uns alle samt einem Teil der Steilküste hinweggerissen. Sammelte die Karten ein und zog mich an. Raffte meine Decke zusammen und schob mein Rad raus zum Weg. Im Zorn fuhren wir beide nach Hause. Ich, weil er mir die Tour vermasselt hatte, und er, weil ich Glück hatte.
Auf der Rückfahrt kühlte sich Jonas auf Normaltemperatun ab. Auch der Überdruck entwich friedlich. Zu Hause fiel dann kein Wort mehr darüber. Gleich nach dem Abendbrot ging ich zu Barbara. Fuhr mit ihr zum Krankenhaus. Gegen 20.15 Uhr war ich zurück und Jonas verschwunden. Auf dem Tisch hatte er einen Brief hinterlassen. Ohne Anrede!
Ich habe bis heute geglaubt, vor drei Jahren einen Freund gefunden zu haben, der mit mir durch Dick und Dünn geht, der für mich da ist, auch in schwierigen Situationen, und der mich trotz meiner Launen, trotz meines Stolzes mag. Ich wurde getäuscht.
Zwar ist mir seit langem bekannt, dass ich nicht der einzige bin, der mit Dir das Bett teilt, aber dennoch bin ich lange Zeit der Überzeugung gewesen, dass auch diese Affären sich nicht störend auf unsere Beziehung auswirken können. Ich selber bin nicht frei von Schuld und muss mir zudem vorwerfen lassen, hier in Deiner „ureigenen Wohnung“ mich meinen Neigungen hingeben zu müssen. Es ist schlecht, sich nicht zusammenreißen zu können.
Wenn ich heute die Wahl hätte zwischen dem Leben hier in Deiner Wohnung und meinem Zuhause, so müsste ich gestehen, dass ich einerseits sehr gern bei meinen Geschwistern und meiner Mutter bin, andererseits aber doch lieber hier bin, wo ich mich frei entfalten kann.
„Doch Dein Wille soll geschehen, (im Himmel) sowie auf Erden.“
Ich muss Dir eben auch vorwerfen, und dass diesmal schriftlich, dass Du mich in den letzten Wochen oft getäuscht hast. Du glaubst zwar, dass ich es nicht mitbekommen habe. Dennoch, Deine Art mit mir umzugehen, ist eine ganz andere.
Du wiedersprichst mir nicht, Du mauerst mich ein mit Deiner Lustlosigkeit.
Frei wie ein Vogel bist Du, wenn ich weit von Dir bin. Du sollst es sein!
Doch wie leicht kann man sich die Flügel brechen, und ein jähes Ende steht bevor. Ich wünsche es Dir nicht.
Wenn ich jetzt diese Zeilen schreibe, so bin ich die Ruhe selbst. Doch zu Hause fange ich an zu grübeln, kann ich mich nicht konzentrieren, fange an zu heulen, wie so oft schon, wenn ich getäuscht wurde.
Ich frage mich zwar selbst, ob ich dieses alles hier aufgeben kann, ob ich Dich nicht mehr wiedersehen muss. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin!
Wie oft habe ich mir manchmal vorgenommen, wenn Du besonders „lieb“ gewesen bist, Schluss zu machen. Die Bindung mit Dir war viel stärker als mein Wille und die Angst, einsam zu sein, niemanden zu haben, und immer wieder auf die „Straße“ zu müssen, hat mich zurück getrieben. Zu Dir! Und ich war glücklich, Dich zu haben, einen Menschen zu haben, der mich versteht und der mir immer Vertrauen gab.
Auch ich habe deinetwegen auf vieles verzichtet. Und es war gut so. Unsere Freundschaft hätte unweigerlich darunter gelitten. Ich spüre es jetzt besonders deutlich. Wenn Du jetzt diese Zeilen gelesen hast, bist Du Deinem Ziel wieder ein Stück näher.
Aber Du irrst. Ich komme wieder.
Jonas
Zwar ist mir seit langem bekannt, dass ich nicht der einzige bin, der mit Dir das Bett teilt, aber dennoch bin ich lange Zeit der Überzeugung gewesen, dass auch diese Affären sich nicht störend auf unsere Beziehung auswirken können. Ich selber bin nicht frei von Schuld und muss mir zudem vorwerfen lassen, hier in Deiner „ureigenen Wohnung“ mich meinen Neigungen hingeben zu müssen. Es ist schlecht, sich nicht zusammenreißen zu können.
Wenn ich heute die Wahl hätte zwischen dem Leben hier in Deiner Wohnung und meinem Zuhause, so müsste ich gestehen, dass ich einerseits sehr gern bei meinen Geschwistern und meiner Mutter bin, andererseits aber doch lieber hier bin, wo ich mich frei entfalten kann.
„Doch Dein Wille soll geschehen, (im Himmel) sowie auf Erden.“
Ich muss Dir eben auch vorwerfen, und dass diesmal schriftlich, dass Du mich in den letzten Wochen oft getäuscht hast. Du glaubst zwar, dass ich es nicht mitbekommen habe. Dennoch, Deine Art mit mir umzugehen, ist eine ganz andere.
Du wiedersprichst mir nicht, Du mauerst mich ein mit Deiner Lustlosigkeit.
Frei wie ein Vogel bist Du, wenn ich weit von Dir bin. Du sollst es sein!
Doch wie leicht kann man sich die Flügel brechen, und ein jähes Ende steht bevor. Ich wünsche es Dir nicht.
Wenn ich jetzt diese Zeilen schreibe, so bin ich die Ruhe selbst. Doch zu Hause fange ich an zu grübeln, kann ich mich nicht konzentrieren, fange an zu heulen, wie so oft schon, wenn ich getäuscht wurde.
Ich frage mich zwar selbst, ob ich dieses alles hier aufgeben kann, ob ich Dich nicht mehr wiedersehen muss. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin!
Wie oft habe ich mir manchmal vorgenommen, wenn Du besonders „lieb“ gewesen bist, Schluss zu machen. Die Bindung mit Dir war viel stärker als mein Wille und die Angst, einsam zu sein, niemanden zu haben, und immer wieder auf die „Straße“ zu müssen, hat mich zurück getrieben. Zu Dir! Und ich war glücklich, Dich zu haben, einen Menschen zu haben, der mich versteht und der mir immer Vertrauen gab.
Auch ich habe deinetwegen auf vieles verzichtet. Und es war gut so. Unsere Freundschaft hätte unweigerlich darunter gelitten. Ich spüre es jetzt besonders deutlich. Wenn Du jetzt diese Zeilen gelesen hast, bist Du Deinem Ziel wieder ein Stück näher.
Aber Du irrst. Ich komme wieder.
Jonas
Und Jonas kam wieder. Am selben Abend noch. So gegen 21 Uhr. Vorher war er zurück zum Strand gefahren. Baden.
Danach ging unser Leben weiter wie bisher. Wie eine Lock, die nicht selbstbestimmt das Gleis verlassen kann, auf das sie einst gesetzt wurde. Bis zum 23. Juli, einem Sonnabend. Geplant war eine Sportfahrt meiner Sektion nach Anklam. Es sollte morgens mit dem Zug um 5.10 Uhr losgehen. Vor Angst wachte ich bereits um zwei Uhr nachts auf. Schaute dann in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen auf die Uhr. Wollte auf keinen Fall verschlafen. Denn mein eigensinniger Wecker klingelt grundsätzlich nur zehn Minuten vor fünf. Egal, zu wann ich ihn stelle. Um drei hielt ich es nicht mehr aus und stand auf. Am Zug hatten sich dann alle versammelt. Wir warteten nur noch auf Klaus, der die Leitung übernommen hatte. Und das Besorgen der Fahrkarten. Wir warteten. Er kam aber nicht. Dann war es zu spät, neue zu kaufen. Wir mussten unverrichteter Dinge abziehen. Gegen sechs war ich wieder zu Hause. Noch mal ins Bett zu gehen lohnte nicht. Obwohl es sehr lockte. Hatte es nämlich noch nicht weggeräumt. Mir blieb nichts weiter übrig als die Bude auf Vordermann zu bringen. Putzte die Fenster und wischte die Treppe. Mit allem fertig, frühstückte ich gemütlich. Gegen 9.45 Uhr fuhr ich zum Strand. Für Jonas hatte ich einen Zettel hinterlegt. Für den Fall, dass er die Wohnung aufsucht. Damit er weiß, wo er mich findet. Am Strand war ich der Erste. Weit und breit noch niemand zu sehen. Nahm die mitgenommene Zeitung und setzte mich mit ihr auf einen Stein in die Sonne. Wartete darauf, dass die Sonne oben das Gras trocknete. Weit war ich noch nicht gekommen mit meiner Zeitung, da erschien Jonas. Im Gesicht eine Mischung aus Überraschung und Enttäuschung. Es gelang ihm nicht zu lächeln. Ehrlich gesagt, hatte auch ich nicht damit gerechnet, uns zu sehen. Dachte, er würde bei der Familie bleiben. Zumal seine große Schwester auf Besuch gekommen war.
Am Tag darauf, also am Sonntag, hatten wir Jörg zu Besuch. Er ist Koch. Lernte ihn in der S-Bahn kennen. Es fahren ja immer dieselben Leute in meiner Bahn. Da kommt man irgendwann ins Gespräch. Als Jörg kurz im Bad war, gab mir Jonas zu verstehen, dass er ihn kenne. Um 22.30 Uhr ließ ich Jonas aus dem Haus. Unten im Hausflur sagte er, dass er Jörg schon mal auf der „Rennbahn“ gesehen habe. Der habe keinen schönen Schniepel. Wieder oben, erzählte mir Jörg, dass er Jonas vom Wall her kenne. Wollte es aber nicht zeigen. Auf Nachfrage meinte er, dass das innerhalb der letzten drei Jahre gewesen sei. Darauf ging ich aber dann nicht weiter ein. Schau einer an, dachte ich nur. Da Jörg so gar nicht in mein Beuteschema passt, habe ich den Abend als beendet erklärt. Aber ohne unhöflich zu werden. Und so eine alte Petze wollte ich nicht länger in der Wohnung haben.
Gestern Abend kamen wir noch einmal auf Jörg zu sprechen. Ich erzählte Jonas, dass er uns eingeladen habe, zusammen mit seinen Freunden aus Leipzig einen Abend lang zu feiern. Jonas wiederholte, dass er ihn kenne aber nicht möge. Er habe nie etwas mit Jörg gehabt. Aber das der einen Ring trage, sei ihm damals schon aufgefallen. Soso, dachte ich, im Dunkeln und von weitem? Ich fragte Jonas, wann denn das wohl gewesen sein kann? Das müsse mindestens schon vier Jahre her sein, antwortete er. Als ich dann fragte, woher er wisse, dass Jörg keinen schönen Schniepel habe, waren wir ruckzuck bei einem anderen Thema.
Heute wollten wir uns eigentlich nach Feierabend am Strand treffen. Wenn das Wetter mitspielen würde. So hatten wir es gestern ausgemacht. Kurz vor 15.45 Uhr versuchte ich deshalb ihn telefonisch zu erreichen. Wollte wissen, wie das Wetter in Warnemünde ist. In Rostock war es sehr windig und teilweise bedeckt. Er war leider nicht erreichbar. Zu Hause beschloss ich dann, nicht zum Strand zu fahren. Der Himmel sah nicht besonders einladend aus. Was mich unter anderen Umständen nicht abgehalten hätte. Wollte zwei Dinge damit erreichen. 1. Ich hoffte, dass er hinfährt und mich dort nicht antrifft. Ihn also eins auswischen. 2. Ich wollte mir nicht wieder sagen lassen, dass ich es wohl sehr nötig habe. Wenn ich bei dem Wetter hingefahren wäre und er nicht. Bereitete stattdessen das Abendbrot vor.
Jonas kam so gegen 18 Uhr hier an und fragte mich, wo ich jetzt herkomme! Das ist so seine Art, mir auf den Zahn zu fühlen. Dann gleich eine zweite Frage. Ob ich einen Toralf kenne? Ich kenne keinen Toralf, war meine ehrliche Antwort. Daraufhin erzählte er mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt, dass er um fünfzehn Uhr am Strand ankam. Ihm sei dort ein blonder Lockenkopf begegnet, nach dem er sich umgesehen habe. Während sich auch der Lockenkopf umgedreht habe, sei er vom Rad gestiegen. Beide hätten sich dann zusammen am Strand niedergelegt. Und erzählt. So Jonas. Toralf sei 19, habe sein Abi gemacht und wolle demnächst anfangen zu studieren. Hier in Rostock. Nachdem er ein Jahr gearbeitet habe. Einen Studienplatz habe er bereits. Medizin soll es werden. Als es Zeit war, mit mir zu rechnen, sei er zu unserer Stammstelle gefahren. Toralf wollte in die Stadt. Jonas betonte ausdrücklich, dass es keine weiteren Vorkommnisse gegeben hatte. Das will ich ihm durchaus glauben. Er musste ja jeden Moment mit meiner Erscheinung rechnen. Kann mir lebhaft sein Herzklopfen vorstellen. Und seine Enttäuschung. Toralf habe ihm versprochen, je nach Wetter, am Wochenende ihn weiter hinten am Strand aufzusuchen. Von mir hat Jonas ihm nichts erzählt. Er wir dann wohl das ganze Wochenende allein unten am Strand liegen wollen. Und ich oben. Mit einem Fernglas! Wir werden die Sache abwarten. Wahrscheinlich kommt sowieso nichts dabei heraus. Dass Jonas Frühschicht machen würde, hatte er mir übrigens nicht gesagt.