kaputte Gedichte - Abstrakte Irrwege

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kaputte Gedichte

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Der Baum


Brüllend stürzt ein alter Riese zu Boden, kämpft stöhnend um sein Leben. Mit ihm fiel auch die Legende von der Unsterblichkeit und eine Vergangenheit wechselvoller Zeiten. Unheilvolles Zittern erfüllt die Luft und schmerzender Donner weckt  taube Ohren. Ein blutender Schnitt legte runde Jahre frei, vom Henker unbeachtet. Der stolze Stamm, gerädert und gevierteilt, gleicht einer marmornen Säule ohne Kapitell.

Stark und gewaltig ragte er einst in den blauen Himmel, das Haupt jünger als sein greiser Fuß. Mit den Armen griff er nach den Wolken und mit seinen Fingern hielt er die Blätter fest. Aus dem Winterschlaf erwachend schüttelte er sich letzten  Schnee aus dem Gesicht. Der Sonne Lachen machte ihm ein Kribbeln in den Fingern und Knospen schoben sich ans Licht. Runder wurden sie mit den Frühlingstagen und ihr Platzen war den Bienen Freude. Ein Blütenmeer wogte in strahlender Pracht, ließ  die Herzen höher schlagen. Süßer Duft füllte die Lungen und die Waben. Hummeln tanzten Ringelrein bis in die späte Nacht. Dann wuchs ein grünes Blätterdach, Mosaik aus Millionen Steinen. Es sog die Sonne begierig ein und spendete  stillen Schatten dem schlafenden Reh, hielt fallende Tropfen fest für den rastenden Wanderer und wiegte sich im Wind, wie ein Segel auf den Wogen. Goldgelb warf im Herbst die Sonne ihre Strahlen durch verzaubertes Grün und munterem Blätterregen.  Er bedeckte ringsum den Boden mit einem Teppich von Goldocker und den Früchten seiner Triebe, wurde Vater seiner Kinder und Brotgeber für den Winter. Erster Schnee legte ihm einen Mantel um und schlief ein mit ihm. Tagein, tagaus, viele hundert  Jahre lang, war er Freund unter Freunden, hatte Kriege überlebt mit vielen Wunden, hatte Nestergenerationen großgezogen, war er eine feste Burg.


Nun gleicht er einer alten Säule ohne Chic. Beiseite geschoben, Platz zu machen Beton und Stahl.

Rostock, Feb. 1977
(28. April 2011)



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