Tagebuch einer Schlange / 21. Eintrag
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Dienstag, d. 20. Dez. 83 in Fürstenwerder, 15.30 Uhr
Gestern vor einer Woche rief mich meine Schwester an, um mir mitzuteilen, dass unser Vater in Templin im Krankenhaus liegt. Wegen einer linksseitigen Gesichtslähmung. Tante Luci aus Woldegk, meiner Geburtsstadt, sei bei unserer Mutter. Da die gute Tante nicht unnötig lange auf unsere Mutter aufpassen sollte und ich sowieso ab Donnerstag Urlaub hatte, bin ich am Freitagmittag aus Rostock in Richtung Fürstenwerder abgefahren. Gegen 17.30 Uhr hatte ich mein Ziel erreicht. Als erstes stellte ich fest, dass jemand meine Abwesenheit dazu genutzt hatte, mein Hauslatschen zu entsorgen. Ging deshalb am Sonnabendvormittag in den Schuhladen nebenan. Kaufte aber hohe Hausschuhe. Weil die Bude hier so kalt ist. Und ein Paar kunstlederne Pantoffeln für Rostock. Eine Zahnbürste musste ich mir auch noch besorgen. Hatte vergessen, meine einzupacken. Dann ging ich zu Sieg, einen Tannenbaum zu ergattern. Weihnachten in Fürstenwerder ohne Weihnachtsbaum wäre kein Weihnachten. Er hatte ein großes Angebot an kranken Fichten und astlosen Kiefern. Ich nahm zwei Fichten, die beide gleich traurig aussahen. Zwei würden reichen, dachte ich.
Um 11.30 Uhr kam ein gutaussehender, mir aber völlig unbekannter junger Mann auf den Hof. Er wollte Tante Luci nach Woldegk zurückfahren. Dazu holte er sein Auto aus dem Bretterschuppen. Hatte keine Ahnung, dass der unser ehemaliges Bretterlager als Garage benutzt. Ob er es mit seinem Auto auch bis Rostock schaffen würde?
Am Nachmittag besah ich mir die beiden Krücken genauer. Werde also mit Bohrer und Säge aus zwei Invaliden einen Weihnachtsbaum basteln. So, wie wir es schon immer getan hatten. Vorausgesetzt, die einzelnen Teile des Fußes lassen sich noch in ein Ganzes zusammenfügen. Behängt mit den Vorkriegskugeln und dem erst zweimal benutzten Lametta wird er aussehen wie neu.
Hatte eine fürchterliche Nacht hinter mir. Erst ließ mich die große Wanduhr in der Stube nicht einschlafen. Dieses fürchterliche laute Ticktack ging mir auf die Nerven. Dann das regelmäßige Schlagen. Je angestrengter ich versuchte, nicht hinzuhören, desto lauter wurde es. Stundenlang wälzte ich mich im Bett hin und her. Dann quälten mich Alpträume. In einem sah ich mich inmitten nackter Jünglinge mit aufgerichtetem Phallus. Das war noch der angenehmere. Ein anderer Traum war dagegen sehr blutig. Als schwerbewaffneter Ritter jagte ich durch eine Kathedrale oder Dom, der in Wirklichkeit eine Festung war, irgendwelchen Rivalen nach. Sie wollten mir auf der Suche nach einem imaginären goldenen Pfeil zuvorkommen. Der sollte irgendwo in den alten Gemäuern verborgen sein. Da wurde mit riesigen Zweihändern und scharfen Lanzen gefochten. Überall klaffenden Wunden, Blutlachen auf den Steinböden und rollende Köpfe. Es ging verborgene Wendeltreppen hinauf und durch Geheimgänge wieder runter. Es war grausig. Aber nur ich allein würde diesen goldenen Pfeil finden. Denn in einem Raum unterhalb einer riesigen Freitreppe, an deren Wänden aufgereiht zahllose Lanzen und Hellebarden standen, hatte ich eine Inschrift entdeckt und gelesen, die einen Hinweis auf das Versteck enthielt.
Ich wachte ohne Pfeil auf. Aber mit Schmerzen in allen Gliedern. In meinem Schädel hatte Volcanus seinen Amboss aufgestellt, auf den er mit seinem Hammer tüchtig eindrosch.
Mein Tagesablauf gestaltet sich hier grundlegend verschieden vom dem, der mich in Rostock beschäftigt hätte. Um neun Uhr stehe ich auf. Dann ist es hell genug. Mein altes Mütterchen war bereits vor einer halben Stunde aus ihrem Bett gekrochen und hatte in der Küche den Wasserboiler eingeschaltet. Ich stieg also aus dem Bett, in dem ich schon als Kind geschlafen hatte. Damals aber ohne Schmerzen am Morgen erwachte. Schon gestern hatte ich fürs Anziehen nur eine sehr kurze Zeit benötigt. Heute versuchte ich, sie noch zu unterbieten. Über den Rollkragenpollover noch eine Strickjacke. Und darüber noch eine Fellweste. Fehlte nur nach ein zerrissener Schal um den Hals und an den Händen fingerlose Handschuhe und ich könnte direkt aus einem Buch von Dickens gestiegen sein. So verpackt komme ich in die verqualmte Küche, deren Wände noch mit frostigem Reif bedeckt sind. Trotzdem reiße ich sofort das Fenster auf. Mutti hatte im Herd Feuer gemacht. Wie üblich weigerte sich der Rauch durch das kalte Ofenrohr und den nicht minder winterlichen Schornstein abzuziehen. Lieber erfrieren als ersticken. Putzte mir dann die Zähne und wischte die Augen aus.
Hier qualmt alles. Nicht nur der Herd in der Küche. Auch der Ofen in der Stube und im Schlafzimmer. Ich denke, daher rühren meine unerträglichen Kopfschmerzen. Tante Luci meinte, sie und Mutti wären fast einer CO-Vergiftung erlegen, als eines Nachts der Ofen im Schlafzimmer zu qualmen begann.
Kaum dass ich vom Fenster weg war, machte Mutti es wieder zu. Wohl in der Meinung, dass das bisschen Qualm nicht so schlimm ist. Oder weil sie ohne Qualm nicht leben kann. Vielleicht ist es nur Routine. Offenes Fenster bedeutet im Winter Kälteeinbruch. Möglicherweise registriert sie gar nicht, dass ihre Küche in blauem Dunst versinkt. Es nützt auch nichts, wenn ich zu husten anfange, um ihr zu zeigen, dass ich gleich ersticke und dann tot umfalle.
Nachdem ich meine Katzenwäsche beendet hatte, ging ich hinunter in die Werkstatt, wo schon seit Jahren kein Hobel mehr Späne produziert hatte. Füllte einen Korb mit Kohlen und etwas Kleinholz …
Tagesablauf:
Aufstehen
Anziehen
Kohlen holen (Schuppen)
Kaninchen + Hühner füttern
Heizen (Stube)
Waschen
Frühstücken
Einkaufen
…