Tagebuch einer Schlange / 22. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 22. Eintrag

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Sonnabend, d. 25.02.84

Hatte zugesagt, heute in der Mandatsprüfungskommission mitzuarbeiten. Zusammen mit Wolfgang H. tat ich diese Arbeit während der BFA-Delegiertenkonferenz. Um drei Uhr nachmittags war ich wieder zu Hause. Habe dann gewaschen. Bis sechs Uhr abends. Mit dem Abendbrot habe ich noch gewartet. Jonas sagte gestern, dass er heute zum Abendessen kommen wolle. Nachdem ich ihn aber gestern etwas unsanft rausgeschmissen habe, mochte er es sich anders überlegt haben. Ich gebe zu, ein wenig unbeherrscht gehandelt zu haben. Aber sein höhnisches Gegrinse war mir in dem Moment einfach zu viel. Das kam so:
Irgendwann im Januar. War bei Jonas in seiner neuen Wohnung. Ich war über ein Kreuzworträtsel gebeugt, als es klingelte. Immer wenn es dort während meiner Anwesenheit klingelt, was eigentlich recht selten vorkommt, bekomme ich sofort Herzklopfen. Ich befürchte dann, dass Jonas‘ Mutter vor der Tür steht und gleich in die Stuben kommen wird. Wie würde sie reagieren, wenn sie mich dort vorfände. Ein heftiger Auftritt wäre das Letzte, was ich dann verkraften könnte. Als Jonas noch keine eigene Wohnung hatte, wollte sie immer wissen, wo er sich solange rumtreibe. Hatte noch einmal Glück.
Seine Mutter war es nicht. Sondern Andreas. Dem hatte ich erzählt, wo Jonas wohnt. Drei Minuten von mir entfernt. Nun brauchte ich nur noch zu staunen, dass er sich das so gut gemerkt hatte. Auch Andreas staunte als er ins Zimmer kam. Nicht über mich, sondern über die Anbauwand! Ich hatte den Eindruck, dass er die Wohnung schon ohne Schrankwand kenne. Als er genug gestaunt hatte, begrüßte er mich. Jonas hatte bisher nicht erwähnt, dass Andreas ihn dort schon mal (oder mehrmals?) besucht hatte. Wenn es so wäre, dann hätte er es doch sicher getan. Oder? Wir unterhielten uns kurz. Als Jonas im Bad war, gab ich Andreas zu verstehen, dass ich in einer halben Stunde nach Hause gehen würde. Was ich dann auch pünktlich tat. Es war so gegen 20 Uhr.
Ich hielt es so für besser. Andreas wäre es vielleicht egal gewesen. Mein Herzklopfen wäre dort nicht ruhiger geworden. Mehr noch, mir fingen sogar die Finger an zu zittern. Hatte Mühe, den Bleistift still zu halten, mit dem ich die Buchstaben in die Felder kritzelte. Auch zu Hause kam ich nicht so bald zur Ruhe. Was ich empfand, war gar nicht mal Eifersucht, sondern eher Besitzneid. Jonas besaß gerade etwas, wenn auch nur für kurze Zeit, was auch ich nur allzu gern gehabt hätte. Tröstete mich damit, wie immer in solchen Fällen, dass ich die Geduld aufzubringen in der Lage bin, auf meine Chance zu warten. Fairerweise muss ich sagen, dass ich inzwischen wieder Besuch von Kay hatte. Wo dann Jonas um 21 Uhr nach Hause ging. Dummerweise weiß ich nicht mehr, ob es davor oder danach war.
Jonas verzeiht mir den Umgang mit Kay solange nicht, bis er selbst mit ihm im Bett war. Aber gerade das versuche ich solange wie möglich zu verhindern. Manchmal denke ich, es wäre gar nicht so schlimm, wenn Kay mit Jonas ins Bett ginge. Dann könnte ich auch weiterhin mit ihm etwas Abwechslung genießen. Ich befürchte nur, dass dann meine Lust auf Kay schlagartig nachlassen würde. Aber es wird wohl so sein, dass mein Egoismus Kay keinem anderen gönnt.
Neuerdings glaubt Jonas sogar, ich hätte Kay gegen ihn als Person eingenommen. Das stimmt aber nicht. Kay sollte Silvester zu uns kommen. Tat es aber nicht. Kay sollte zu Jonas’ Einweihungsfeier kommen. Tat es aber nicht. Jonas denkt, ich hätte es Kay ausgeredet. Stimmt auch nicht. Ich glaub sogar, ich würde wieder das Feld räumen, wenn Kay während meiner Anwesenheit bei Jonas auftauchte. Ich bin davon überzeugt, dass Kay seiner Annäherung nicht ablehnend gegenüberstehen würde. Im Gegenteil, er würde nicht lange fackeln. Es würde mir zwar an die Nieren gehen, aber nicht so schmerzen wie ein Stein darin. Und sterben würd ich schon gar nicht.
Da ich die Einweihungsfeier bereits erwähnt habe, kann ich auch ein paar Worte mehr dazu verlieren. Am 16. Februar hatte Jonas Geburtstag. Am Sonnabend darauf fand im kleinen Kreis eine Feier statt. Sie sollte gleichzeitig die Einweihungsfete für seine erste eigene Wohnung sein. Er hatte dazu Manfred aus Neubukow, Thomas mit Ulf, Kay und mich eingeladen. Insgeheim hoffte er, dass auch Andreas kommen würde. Der kam aber nicht. Dass auch Kay nicht kam, deutete ich schon an. Gegen halb fünf nachmittags holte ich Manfred vom Zug ab. Irgendwann überraschte uns Detlef mit seinem Besuch. Thomas und Ulf kamen erst um halb neun, als niemand mehr mit ihnen rechnete. Manfred sollte bei Jonas übernachten. Was er auch tat. Ziemlich intensiv sogar. Dafür sprach jedenfalls das Bettlaken, das am folgenden Tag im Bad über der Leine zum Trocknen hing. Die Frage ist nur, wie die Sache geendet hätte, wenn Kay und Andreas auch noch gekommen wären. Außerdem ist es taktisch unklug, die Jungs alle miteinander bekannt zu machen.
Am Donnerstag stieg ich von der Arbeit kommend am S-Bahn-Haltepunkt Marienehe aus. Vom Fischereihafen her wehte der Wind den Gestank verfaulter Fische herüber. Es war ekelerregend. Weil ich eine Sportfreundin in Lütten Klein besuchen wollte, ging ich zur Bushaltestelle. Dort stand Andreas. Wollte ihn aber nicht ansprechen, denn sein Kumpel ging gerade auf ihn zu. Ich weiß nicht, ob Andreas mich überhaupt bemerkt hatte. Beim Einsteigen sagte ich dann aber sicherheitshalber zu ihm: „Nicht drängeln, junger Mann!“ Natürlich so leise, dass nur er es hören konnte. Im Bus drehte er sich dann aber zu mir um und begrüßte mich, obwohl sein Kumpel bei ihm war. Er fragte mich sogar, ob er wohl zum Friseur gehen müsse. Ich riet ihm gut zu. Sein Freund stieg unterwegs aus. Wir fuhren zusammen bis zur Endhaltestell. Zum Abschied sagte ich, er könne am Abend zu mir kommen, wenn er Langeweile habe. Andreas nickte nur. Das ich allein sein würde, hatte ich ihm schon während der Fahrt beigebracht. Jonas wollte nämlich in der Wohnung seiner Mutter irgendwelche Schlösser aus- und wieder einbauen. Andreas nickte nur mit dem Kopf, wie gesagt, und ging zum Friseur. Zusammen mit einer Sportfreundin aus meiner Sektion stieg ich in den nächsten Bus. Fuhr aber nur eine Station. Hatte ja noch den Besuch zu absolvieren.
Als ich dann endlich zu Hause war, aß ich rasch Abendbrot. Hüpfte flugs in die Wanne, denn ich wollte für den Abend gerüstet sein. Der Mensch lebt ja von seinen Hoffnungen. Und ich hatte eben die Hoffnung, dass Andreas kommen würde. Obwohl mich sein Kopfnicken nicht besonders zuversichtlich gestimmt hatte. Es vermittelte sogar den Eindruck: aus und vorbei. Aber er klingelte tatsächlich. Freudig sprang ich zur Tür und öffnete sie. Draußen stand noch eine Sportfreundin! Keine Ahnung, was sie dachte, als das strahlende Lächeln schlagartig aus meinem Gesicht entwich? Und ausgerechnet die! Die hatte mir noch gefehlt. Sie tut immer so naiv doof. Vielleicht tut sie nicht nur so. Sie soll es aber faustdick zwischen ihren Schenkeln haben. Nachdem, was man so über sie spricht. Zum Glück blieb sie nicht lange.
Es klingelte erneut. Jetzt auch noch die Nachbarin! Es ist zum verrückt werden, dachte ich. Diesmal öffnete ich nicht so freudig, sondern machte ein angemessen böses Gesicht. Tatsächlich war es aber diesmal Andreas, der Mannhafte. Bei seinem Anblick ließ mich sofort ungeduldige Erregung erzittern. Andreas war doch gekommen und saß wenige Augenblicke später auf meiner Couch. Anstandshalber unterhielten wir uns kurz. Ich saß aber schon dicht bei ihm. Unterdessen sank er ganz sachte an meine Brust. Mit aller Zärtlichkeit streichelte und massierte ich sein schnell wachsendes Glied. Mühsam knöpfte ich seine Hose auf, damit der Adler darin nicht erstickte. Kaum befreit wollte er sich in die Lüfte erheben. Musste ihn greifen und zwingen. Ein wenig Speichel floss aus seinem offenen Schnabel. Dann legte ich Andreas‘ schön gemeißelten Oberkörper frei. Befreite ihn von der Last des Oberhemdes. So entblättert ließ ich Andreas auf der Couch sitzen, um rasch noch einmal ins Bad zu huschen.
Dort hörte ich mit Schrecken einen Schlüssel sich im Schloss drehen. Eine Sekunde später stand Jonas im Flur. Statt einer Begrüßung platzte aus mir nur heraus: „Scheiße, Andreas ist hier!“ Es gibt ganze Gebirge aus Verzweiflung und Endtäuschung. Und davon traf mich ein riesiger Brocken. So müssen sich Leute fühlen, die keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich von einer Brücke zu stürzen oder sich auf die Schienen zu legen. Mit einem gut unterdrückten Wutausbruch ging Jonas ins Zimmer und ließ sich in einen Sessel fallen, aus dem er sich erst um viertel zwölf wieder erhob. Dieser Abend hatte sämtliche mittelalterlichen Foltermethoden weit in den Schatten gestellt. Hatte gehofft, Jonas würde nach kurzer Zeit wieder verschwinden. Und Andreas mir überlassen. Würde zwar mit beißender Wut im Leibe gehen, aber Andreas mir überlassen. Nein, er tat es nicht. Das war seine Rache dafür, dass ich ihm nicht Kay ins Bett legte. Es wäre leichter zu ertragen gewesen, wenn er sich gleich Andreas unter den Arm genommen hätte und mit ihm verduftet wäre. Kurz und schmerzlos, wie man so unpassend zu sagen pflegt. Ich hatte es ihm angedeutet. Aber nein, er blieb sitzen. Um viertel zwölf meinte er dann wohl, mich genug gequält zu haben. Er tat die Absicht kund, nach Hause gehen zu wollen. Während er sich im Korridor anzog, bat ich Andreas, lieber mitzugehen. Es würde sich eine andere Gelegenheit für uns bieten. Ich weiß nicht, ob sich Andreas über uns amüsiert hat. Oder doch künftig besser auf derartigen Zirkus verzichten will.
So muss sich ein Hund fühlen. Mit einer schweren Kette an seine Hütte gebunden. Dem jemand außer Reichweite einen saftigen Knochen hin und her schwenkt. Der soll auch noch nach Stunden, mit blutig gescheuertem Hals, freudig hinzuspringen, wenn ihm endlich der Knochen vor die Füße geworfen wird.
Jonas nahm den Knochen mit. Und verbuddelte ihn in seinem Bett. Das weiß ich ganz sicher.
Ich ging jaulend zu Bett und leckte meine Wunden. Wieder und wieder gingen mir all die kleinen indiskreten Taktlosigkeiten durch den Kopf, die Jonas an dem Abend zum Besten gegeben hatte. Dann tröstete ich meinen Kleinen, der die Augen voller Tränen hatte weil er in seinen Erwartungen schamlos betrogen wurde. Und mir erleichterte es das Einschlafen.
Gestern Abend habe ich in der Stube die Gardine zur Seite gezogen. Und das Deckenlicht eingeschaltet. Alles in der vagen Hoffnung, Jonas würde denken, ich sei nicht zu Hause. Es war halb neun, ich saß gerade auf der Toiletten, als es klingelte. Wollte mich gerade erheben, um durch den Spion zu sehen, als auch schon die Tür aufging und Jonas in den Flur trat. Er brauchte noch irgendwelches Werkzeug aus dem Keller. Meine Bohrmaschine hatte ich ihm schon gegen 17 Uhr in seinen Flur gelegt. Damit er nicht deswegen zu kommen brauchte. Ich hatte nämlich kein Verlangen danach, ihn zu sehen. Ich war dann auch nicht gut ansprechbar. Recht abweisend, eigentlich. Ich nehme es ihm ja nicht übel, dass er mit Andreas ins Bett kriecht. Wer wollte das nicht? Aber was er mit mir am Donnerstagabend gemacht hat, mich derart zu demütigen, daran werde ich noch lange zu kauen haben. „Wenn das nun deine Reaktion darauf sein soll, da wüsste ich was Besseres!“, sagte Jonas und kam sich wohl dabei sehr überlegen vor. Ich hielt ihn nicht zurück, als er nach einer Weile gehen wollte. Dann meinte er noch: „Du hast ja wohl keine Lust, noch rasch mit mir ins Bett zu gehen?“ „Hast du nicht erst gestern Abend deinen Spaß gehabt?“, antwortete ich. Das quittierte er mit einem höhnischen Grinsen. Wenn ich eine Neigung zur Gewalttätigkeit hätte, wäre sein Leben in Gefahr gewesen. So aber schob ich ihn nur zur Wohnungstür und sagte: „Raus jetzt hier!“

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