Tagebuch einer Schlange / 24. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 24. Eintrag

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Donnerstag, d. 15.3.84

Habe mir vorbeugend oder besser gesagt um zu retten, was von meiner Gesundheit noch zu retten ist, einen „steifen“ Grog gezaubert. Den ich mir in diesem Moment einflöße. Ganz sachte, Schluck für Schluck.
Letzten Sonnabend prophezeite mir Jonas während des Abendessens, dass wir uns am Abend sicher noch das Streiten kriegen würden. So kam es dann auch. Mit seiner begabten Art zu reden, wenn er nicht meine politische Meinung teilt, brachte er mich bis kurz unter hundert. Vieles, was er kritisiert, mag ja stimmen. Ich gebe ihm dann ja auch im Stillen Recht. Aber die Art und Weise, wie er es vorbringt, kann ich einfach nicht verknusen. Ich schalte dann auf „Stur“. Dann läuft bei mir gar nichts mehr. Dann mit ihm ins Bett zu gehen ist völlig ausgeschlossen. Er ist dann auch ohne Beischlaf abgezogen. Ich ging am nächsten Abend nicht zu ihm. Aus Gnatz, versteht sich. Und er kam auch nicht zu mir. Auch aus Gnatz, versteht sich.
Gestern Abend wurde ich doch unruhig. Es war drei Viertel neun. Im Fernseher war nichts Gescheites mehr. Auf meiner linken Schulter saß ein kleines schwarzes Teufelchen, das mir unablässig ins Ohr flüsterte, ich solle doch spaßeshalber mal rübergehen und nachsehen, ob bei Jonas noch Licht brenne. Denn man könne ja nie wissen! Es gab nicht eher Ruhe, als bis ich mich anzog und tatsächlich spionieren ging. An der Rückseite des Blocks konnte ich in seine Wohnstube sehen. Allerdings sieht man von dort nur die Zimmerdecke. Und im Zimmer brannte noch Licht. Plötzlich ging es aber aus. Dann wird er wohl jetzt ins Bett gegangen sein, dachte ich und begab mich auf den Heimweg. Lust in dem Moment, wo ich an seiner Haustür vorbei ging, kam Jonas heraus. Zum Glück fragte er nicht danach, wo ich gewesen sei. In Gedanken aber zürnte ich dem Teufelchen. Jonas hatte einen Brief in der Hand, den er zum Briefkasten an der Kaufhalle bringen wollte. Der Brief war an seine Schwester gerichtet, wie er mir später erzählte. Nachdem der Brief eingesteckt war, gingen wir beide zu mir. Große Überredungskunst war dafür nicht vonnöten.
Heute Abend bin ich dann wieder zu Jonas gegangen. Ich weiß ganz genau, welches Teufelchen mich geritten hatte und dafür sorgte, dass ich an meiner Wohnungstür eine Nachricht mit meinem Verbleib hinterließ. Dagegen hätte ich mich wehren sollen. Oder nicht? Jetzt ist es ohnehin zu spät, darüber nachzusinnen. Wo doch nun das schöne Kind im tiefen und bösen Brunnen liegt.
Zuerst haben wir das Kreuzworträtsel in der neuen Wochenpost bearbeitet. Dann der Fernseher eingeschaltet. Ich wollte unbedingt den Film „Der Abenteurer von Tortuga“ sehen. Jonas ging derweil ins Bett und sah den Film von dort aus. Plötzlich klingelte es! Mein kleines Teufelchen flüsterte mir ins Ohr: „Das ist Kay!“ und begann schallend zu lachen. Da Jonas im Bett lag, ging ich öffnen. Es war tatsächlich Kay. Hab ihn natürlich reingelassen. Früher oder später musste es ja doch passieren. Während Kay und ich in den Fernseher starrten, ich wütend auf mich selbst, Kay sicher in froher Erwartung, zog sich Jonas wieder an. Dann schenkte er uns Weinbrandverschnitt und Brauselimonade ein. Wahrscheinlich sollten wir schon seinen Sieg begießen. Als der Film zu Ende war, wurde dem Fernseher der Saft abgedreht. Dafür dann der Rekorder in Gang gesetzt. Jonas schenkte nochmals großzügig nach. Ich beeilte mich, meinen Teil auszutrinken. Verschwand dann ins Bad. In Hut und Mantel trat ich zurück ins Zimmer und verabschiedete mich von beiden. Ich müsse jetzt unbedingt ins Bett, meinte ich. Und damit ließ ich sie allein. Uneigennützig, wie ich nun einmal bin.
Das es eines Tages genauso kommen würde, hatte ich vorausgesehen. Hatte wieder einmal Recht behalten. Zum Teufel noch mal.
Nach Hause ging ich natürlich nicht. Wer hätte das jetzt gekonnt? Ich ging ums Haus und beobachtete Jonas‘ Fenster. Eine alte Holzkiste, die in den Sträuchern lag, sorgte für einen besseren Blickwinkel. Zuerst zitterte ich vor Aufregung. Dann immer schneller vor Kälte. War ja nicht für derartige Überwachungsmaßnahmen ausgerüstet. Dann endlich hatte es Jonas geschafft. In relativ kurzer Zeit eigentlich. Ich ahnte ja, dass sich Kay nicht wehren würde. Punkt 22.47 Uhr MEZ begannen beide sich auszuziehen. Besprangen dann das Bett und anschließend sich gegenseitig.
Ich werde morgen kein Wort darüber verlieren! Hoffentlich tut es Jonas mir gleich. Aber wie ich ihn kenne, wird er mir alles und im Detail brühwarm auseinanderpflücken. Und sich an meinem Schmerz weiden.

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