Tagebuch einer Schlange / 25. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 25. Eintrag

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Sonnabend, d. 24.03.84

Freitag vor einer Woche hat Jonas mir alles haarklein erzählt. Was er mit Kay angestellt hat. Er hat es sich nicht verkneifen können. Musste mir alles mit erhöhter Herzfrequenz anhören. Darum möchte ich es auch nicht an dieser Stelle widerkauen. Eine Sache hat mich doch beeindruckt. Und zwar, dass sich Kay von Jonas hat bumsen lassen. Und das mit großem Spaß und williger Hingabe. Ausgerechnet Kay, auf den er schon immer so scharf war wie eine Rasierklinge aus dem Westen. Und schon wieder bekomme ich Herzklopfen. Ich brauche nur daran zu denken.
Weil es außer den Vögeln auch noch etwas anderes gib im Leben, zum Beispiel sowas wie Kultur, haben wir vor kurzem ein Großes Theateranrecht abgeschlossen. Gestern Abend haben wir davon im Großen Haus die ersten Karten abgesessen. Sie gaben „Wölfe und Schafe“. Angeblich eine Komödie. Auch wenn es zeitweise etwas langatmig war und kaum jemals zum Lachen anregte, so hat es doch gefallen.
In der Nacht habe ich dann bei Jonas geschlafen. Ich weiß jetzt nicht, ob es das zweite oder schon das dritte Mal war. Die richtige Ruhe finde ich nicht bei ihm. Ist doch nicht das eigene Bett. Es ist, glaube ich, ein schlechtes Zeichen, wenn man anfängt am eigenen Bett zu hängen. Ich werde alt, fürchte ich. Die jungen Burschen behaupten ja, ich sei schon alt. Dabei werde ich in Kürze erst vierunddreißig. Ich darf aber nicht den Fehler machen, auf andere Leute zu hören. Oder womöglich mir selbst eizureden, ich sei alt.
Für die Sportfreunde meiner Sektion steht eine Wanderung durchs Quellental an. Deswegen bat ich gestern Jonas, die Strecke mit mir vorab abzulaufen. Wir wollten mit dem Zug bis Bad Doberan fahren und später von Parkentin aus zurück nach Rostock. Heute Morgen entschlossen wir uns aber mit den Rädern zu fahren. Kalt war es nicht, aber der Wind machte uns ganz schön zu schaffen. Mittags haben wir etwas früher als sonst gegessen. Um halb zwölf sind wir dann los. Durch die neue Lichtenhagener Millionensiedlung, über Elmenhorst und Nienhagen. Von dort führt ein auf der Karte eingezeichneter Wanderweg links ab nach Bad Doberan. Unmittelbar vor dem Friedhof in Nienhagen bogen wir also nach links ab. Der Weg war mit Panzerplatten aus Beton ausgelegt. Mit dem Fahrrad keine Freude. Später ging er in Asphalt und noch später in Sand über. Im Sommer bei Sonnenschein zum Wandern nur bedingt geeignet. Man findet nirgends Schatten. Er bietet aber einen schönen Überblick über das Küstenflachland mit seinen Wiesen, Feldern und den darin eingestreuten Siedlungshäusern. Allerdings kamen wir nur bis zu einem Bach namens „Stege“. Die alte Brücke war abgerissen. Und die neue noch nicht fertig. Ein provisorischer Übergang nicht für notwendig befunden. Es war also kein Rüberkommen. Mussten uns südwärts neben dem Bach bis zur F 105 durchwurschteln. Auf der F 105 fuhren wir bis zum Bahnhof von Bad Doberan. Denn dort war der Startpunkt der Wanderung vorgesehen. Wir folgten einem markierten Wanderweg durch ein Waldstück. Passierten eine ganze Reihe von Kegelgräbern. Dann Feldwege bis ins Quellental. Durch Hohenfelde in den Hütter Wohld, der gespickt ist mit unzähligen Fischteichen. Sie wurden dereinst von findigen Klosterbrüdern gegraben. Auf der Karte waren kurz vor dem Waldrand weitere Kegelgräber eingezeichnet. Wir mussten nicht lange nach ihnen Ausschau halten. Wir fuhren geradenwegs darauf zu. Von einem Grab war die Erdbedeckung zur Hälfte abgetragen. Wir konnten in die steinerne Grabkammer sehen. Weil Sonnabend ist, war natürlich niemand zu Hause. Über Hütten gelangten wir nach Parkentin. Dort hielten wir uns nördlich. Durch Bartenshagen, einer Aneinanderreihung von ehemals großen Höfen, Bargeshagen, Admannshagen, Lichtenhagen Dorf und nach Hause in Lichtenhagen.
Wir schoben gerade unsere Räder über den Bürgersteig vor Jonas‘ Haustür. Sie öffnete sich und heraus kam Andreas. Das passt ja wieder wie die Faust aufs Auge. Dachte ich. Würde mich auch solch schöner Empfang erwarten? Nachdem wir unsere Sachen auseinandersortiert hatten, fuhr ich weiter zu mir. Hier kam ich genau fünf Minuten vor halb sechs an.
Ließ mir gleich die Wanne voll Wasser laufen. Brauchte Erholung von den Strapazen. Kurz vor halb sieben kam Jonas zum Abendessen. Alleine. Andreas wollte nicht mitkommen. Wollte lieber in Jonas‘ Wohnung auf dessen Rückkehr warten. Was ich ihm nicht verdenken kann. Zehn vor sieben ist Jonas wieder rübergegangen. Aber nicht ohne vorher zehnmal sein Bedauern bekundet zu haben.
Auf sein Bedauern ist geschissen! Ich hätte es nicht bedauert, wenn Andreas mit mir ins Bett gegangen wäre. Und ich hab Jonas auch noch gut zugeredet. Warum bloß? Es ist das Abbezahlen meiner Schuld gegenüber Jonas. Die ich mir aufgeladen habe. Jedes Mal, wenn er mit jemanden ins Bett geht, wird etwas Schuld von mir genommen. Und heute Abend wird mir sicher um Vieles leichter werden.

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