Tagebuch einer Schlange / 26. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 26. Eintrag

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Dienstag, d. 03.04.84

Irgendwo in der Bibel heißt es wohl: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Oder so ähnlich. Trotzdem war es nicht meine Absicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Es ist schon etwas länger her, dass Jonas unerlaubterweise, und heimlich versteht sich, meinen Schranksave durchstöberte. Er muss sehr enttäuscht gewesen sein. Denn es war nichts drin, was er hätte nicht sehen dürfen. Einzig meine Schnulli-Kartei hätte von Interesse sein können. Die war ihm von Anfang an ein Dorn im Auge. Wegen meines miserablen Gedächtnisses begann ich schon früh in Prenzlau über alle Jungs, mit denen ich „Kontakt“ hatte, eine Kartei anzulegen, die ich dann folgerichtig in Rostock fortführte. Auf den Kärtchen waren alle die Informationen festgehalten, die ich benötigte, um die Jungs mit meinem geistigen Auge wiederzuerkennen. Auch bei den gelegentlichen brieflichen Korrespondenzen erwiesen sich diese Anhaltspunkte als sehr hilfreich. Aber diese Kartei, in der sehr viele schöne Erinnerungen und einige wenige Fotos steckten, musste ich auf sein Betreiben schon bald nach unserem Kennenlernen beseitigen. Die Tatsache allein, dass Jonas den Schlüssel zu finden wusste und den Save öffnete, machte mich rasend. Selbst, wenn sie ganz leer gewesen wäre, hätte er es nicht tun dürfen.
Jonas hatte mir erzählt, dass er jetzt selbst sowas wie ein Tagebuch führe. Ich verstand das als Drohung. Letzten Sonntag habe ich mir darum die Freiheit genommen, ein wenig seine Sachen zu durchschnüffeln. Habe dabei zwar kein Tagebuch aber doch einiges zutage gefördert, das ich teils am Nachmittag, als er in der Badewanne saß, und gestern, als er noch in der Werft war, abschrieb. Ich werde es hier einfügen.
Zu den beiden Briefen, die Frank betreffen, muss ich zum Verständnis ganz kurz die Vorgeschichte erzählen. Es war im November vergangenen Jahres. War irgendeiner Veranstaltung wegen in der Stadt. Nach deren Ende bin ich über den Wall gegangen. Es war eben dunkel geworden. Dort sprach mich ein Junge an. Eben dieser Frank aus Berlin. Er fragte, ob ich eine Zigarette hätte. Hatte nicht. Dann erklärte er, dass er nicht wisse, wo er die Nacht über bleiben könne. Also bot ich ihm ein Nachtlager an. Plötzlich zauberte er eine ganze Reihe von prall gefüllten Plastebeuteln aus dem Gebüsch hervor. Sie stanken fürchterlich. Als hätten sie in einem Haufen Menschenscheiße gestanden. In Lichtenhagen gingen wir erst zu Jonas. Ihm erzählte ich, dass ich im Bahnhof ein obdachloses Würstchen aufgelesen hätte und diesem jetzt für eine Nacht ein Dach über dem Kopf böte. Damit dachte ich sein späteres Erscheinen bei mir zu verhindern. Was natürlich nicht funktionierte. Wir hatten uns bei mir zu Hause kaum die Schuhe ausgezogen, als auch schon Jonas vor der Tür stand und Sturm klingelte. Er beruhigte sich aber recht schnell. Wir drei gingen sogar zu ihm, um Abendbrot zu essen. Danach verdünnisierte ich mich. Hoffte, Frank würde bei ihm bleiben. Das wäre das Beste für die Erhaltung des Weltfriedens, meinte ich. Zumal ich mich in Frank verkuckt hatte. Es war auf dem Wall wohl doch schon zu dunkel gewesen. Wenig später kam mir Frank hinterhergedackelt. Vermisste seine scheiß Beutel. Zum Schlafen wies ich ihm die Couch zu. Die verließ er des Nachts, um zu mir ins Bett zu steigen. Weil er auch etwas nach Beutel roch, drängte ich ihn wieder hinaus. Am nächsten Morgen ist er dann vor mir aus dem Haus gegangen. War froh, ihn los zu sein. Das muss in der Wochenmitte gewesen sein. Ganz verblüfft war ich dann am darauffolgenden Montag. Kam aus der Stadt und klingelte bei Jonas. Ich hatte ihm einige Dinge mitgebracht und wollte sie ihm reinreichen. Aber statt Jonas öffnete Frank die Tür. Jonas selbst war gar nicht zu Hause. Ich legte die Dinge drinnen ab und verschwand wieder so schnell wie möglich. Ich habe mich dort die ganze Woche nicht sehen lassen. Jonas kam aber hin und wieder zu mir.
Hierzu der erste Brief. Datiert vom 27. November 19

Werter Herr Kunz!
Am Montag, den 21.11.83 rief mich gegen 11.00 Uhr Frank im Betrieb an und bat darum, bei mir übernachten zu dürfen. Er kam dann am selben Tag um 18.30 Uhr und blieb dann bis zum Donnerstag. Da ich von 6.15 Uhr bis 16.30 Uhr täglich außer Haus war, ließ ich ihn allein. Am Donnerstag wollte er dann zusammen mit seiner Schwester mit dem Zug gegen 18.30 Uhr nach Berlin zurückfahren.
Erst am 26.11.83 bemerkte ich, dass Frank „versehentlich“ verschiedene Sachen von mir mitgenommen hatte. Dazu gehören unter anderem ein grauer Pullover mit Römerkragen Gr. 50 der Marke „Stola“ mit helleren und dunkleren Streifen an den Armen (185,00 M), ein hellblau-weiß gestreiftes Überhemd der Marke „Ralley“ Gr. 39 mit aufgesetzter waagerecht laufender Vorderpasse (104,00 M), ein Schal der Marke „Belvedere Wien“ mit großem Karomuster (48,00 M), ein Kammteil zum Fön.
Ich bitte Sie, Frank zu veranlassen mir diese Sachen umgehend zurückzuschicken.
Sollte dies nicht geschehen, behalte ich mir weitere Schritte vor.
Mit freundlichem Gruß …
 
Jonas war damals dermaßen geschockt, sodass er mir seinen Verlust und den erlittenen Vertrauensmissbrauch nicht verschweigen konnte. Frank hatte mir seine Adresse hinterlassen. Für den Fall, dass ich mal nach Berlin käme. Er sagte auch, dass sie im Telefonbuch stehen würden. Das war dann das Erste, was ich kontrollierte. In der Hauptpost blätterte ich das Berliner Telefonbuch durch. Mit dem Ergebnis, dass darin unter der angegebenen Adresse keine Familie mit Telefon vermerkt war. Daraufhin hatte ich Andreas beauftragt, ins besagte Haus in Berlin zu gehen. Erfolg negativ. Dies erfuhren wir allerdings erst Ende Januar 84.
Wie der zweite Brief einzuordnen ist, weiß ich nicht so recht. Er lässt jedenfalls vermuten, dass der erste nicht abgeschickt wurde. Wenn ich den ersten Brief nicht kennen würde, müsste ich ernste Absichten dahinter vermuten. Vielleicht sollte er Frank nur nach Rostock locken, um ihn hier in aller Ruhe den Hals umdrehen zu können. Ob er tatsächlich hier war oder auch dieser Brief nie abgeschickt wurde, weiß ich auch nicht. Ich kann jetzt natürlich nicht danach fragen. Der Brief ist nicht datiert.

Hallo Frank!
In der Hoffnung, dass Du Dich an mich erinnerst und in der Absicht, mit Dir erneut einmal zusammenzukommen, sende ich Dir heute die allerherzlichsten Grüße aus Rostock. Wenn auch nach unserer ersten Begegnung eine geraume Zeit vergangen ist, so schreibe ich doch hoffentlich nicht umsonst.
Die Weihnachtszeit naht heran und da denke ich, dass Du ein paar Tage Zeit finden wirst, um mich in Rostock zu besuchen. Sollte es möglich sein, so schreibe mir, da ich mich darauf einstellen muss. 2 Tage Urlaub bleiben mir noch.
Und da ich weiß, dass Bodo zu seinen Eltern nach Fürstenwerder fährt, wäre es günstig, diese Tage sinnvoll zu nutzen.
Er tut es schließlich auch.
Zu Silvester ist er bislang immer in Rostock gewesen. Es wird auch in diesem Jahr so sein.
Da ich meinen Urlaub sehr früh einreichen muss, bitte ich Dich, mir baldigst eine Antwort zukommen zu lassen.
Es grüßt Dich Jonas
 
Was Jonas mit dem Satz „Er tut es schließlich auch.“ meint, geht aus dem ersten Satz des folgenden Schreibens hervor.
Mache morgen weiter.

 
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