Tagebuch einer Schlange / 31. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 31. Eintrag

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Sonntag, d. 15.4.84

Gestern Nachmittag sind Jonas und ich mit den Fahrrädern zum Strand gefahren. Das schöne Wetter war so verlockend, dass wir nicht widerstehen konnten. Im Gepäck hatten wir eine Flasche Brause und eine Tüte voller Apfeltaschen, die Jonas gebacken hatte. Auf unserem angestammten Platz zwischen den Sträuchern oberhalb der Uferböschung breiteten wir die Decke aus. Unter der schon recht warmen Sonne veranstalteten wir dann ein lustiges Picknick. Auf dem Sand am Strand war es noch zu kalt, denn die Briese, die übers Meer kam, wehte recht eisig. Oben und in der Sonne ließ es sich gut aushalten. Und dort verputzten wir genüsslich die Apfeltaschen.
Trotz des sonnigen Wetters hielt sich der Betrieb in Grenzen. Nur einige wenige hartgesottene Bekannte waren gekommen, um den Anspruch auf ihre Stammplätze zu erneuern.
Bald kam ein junger Mann den Strand entlang, der sofort Jonas‘ Aufmerksamkeit erregte. Als sich dieser dann oberhalb der Böschung einen windgeschützten Platz zum Sitzen suchte, wurde Jonas hibbelig. Mit wenigen aufmunternden Worten regte ich an, er möge ruhig sein Glück versuchen. Wahrscheinlich hätte es dieser Worte nicht bedurft, so fühlte er sich aber weniger schuldig. Hoffe ich. Jonas zog ab um herauszubekommen, wo sich der junge Mann niedergelassen hatte. Zwischen dem Strauchwerk gibt es viele Nischen, die vom Weg aus nur schlecht bis gar nicht einsehbar sind. Nicht etwa um Jonas nachher Vorwürfe machen zu können, sondern lediglich um mir Gewissheit zu verschaffen, behielt ich vorsichtig den Weg im Auge. So sah ich, dass Jonas in einer der Nischen etwas länger verweilte, bevor er wieder rauskam und in die nächste hineinging. Kurze Zeit später folgte ihm der junge Mann mit seinen Sachen unterm Arm. Dann blieben beide in einem Loch verschwunden. Jetzt wurde es höchste Zeit nachzusehen. Folgte also den beiden. Soweit es die spärliche Deckung zuließ, denn die Sträucher standen noch nicht in vollem Grün. Nachdem ich gesehen hatte, dass sie sehr innig miteinander umgingen, zog ich mich wieder zurück.
Sie hielten es ziemlich lange miteinander aus. Weil mir das dann doch gegen den Strich ging, begann ich, unseren Platz zu räumen. In dem Moment kam Jonas von seiner Vergnügungstour zurück. Er sprudelte vor Entzücken. Unter anderem erfuhr ich, dass der junge Mann Andreas heißt, 19 ist, in Lütten Klein im Wohnheim wohnt, beim WBK beschäftigt ist und zurzeit in Dirkow arbeitet. Und dass er Sonntag, also heute, an gleicher Stelle zu finden sei.
„Noch ein Andreas? Das fehlt mir gerade noch!“ sagte ich. Und Jonas meinte: „Das hab ich auch gedacht.“ Wie meinte er das? Ich deutete an, dass ich abends wieder ins Kino gehen werde, während er und sein erster Andreas Wiedervereinigung feiern würden. Daraufhin beklagte sich Jonas bitterlich. Er wolle nicht wieder den ganzen Abend alleine rumsitzen, wenn Andreas nicht kommen würde. „Das ist ganz allein dein Risiko!“ wehrte ich ab. Ich versprach aber, zum Abendbrot zu ihm zu kommen. Würde nur kurz zu mir, das Rad in den Keller bringen. Wir aßen und schnatterten. Und plötzlich war es fürs Kino zu spät. Blieb dann noch bis 21 Uhr bei Jonas. Andreas war wieder nicht erschienen. Kein Verlass auf die jungen Leute heutzutage.
Bin heut früh am Morgen zum Bahnhof. Ich traf auf einen ganz bescheidenen Haufen. Nur sieben Sportfreunde meiner Sektion hatten sich zur Fahrt nach Bad Doberan eingefunden. Von dort trieb ich sie im Eiltempo erst durchs Glashäger Quellental und dann bis Parkentin. Das Wetter war hierfür ideal. Der strahlend blaue Himmel hatte eine Menge Leute in die freie Natur gelockt, die ihren ausgeleierten Reflexen wieder zu Spannung verhelfen wollten. Alle wollten sie teilhaben am großen Erwachen ringsum. Es war wirklich eine Lust zu sehen, wie überall das neue Grün ans Licht drängte. Auf allen Seiten umflatterten uns Lerchen, Hochzeitslieder singend. Buschwindröschen, Vogelmire, das satte Gelb der Sumpfdotterblumen und die blaue Bescheidenheit der Veilchen säumten unsere Wege. An den Kastanien waren die braunklebrigen Knospen aufgerissen. Kraftvoll schob sich der hellgrüne Inhalt ins Freie.
Nachmittags Viertel nach drei war ich wieder zu Hause. Auf dem Weg hierher habe ich bei Jonas geklingelt. Er war aber nicht dort. Wollte ja wieder zum Strand. Ich habe die Fensterflügel weit geöffnet und mich eine Stunde lang nackt auf den Fußboden in die Sonne gelegt. Hat mir gutgetan. Habe dann Tee getrunken und Hemden und Pullover gewaschen. Einige Karten zum bevorstehenden Osterfest geschrieben. Um halb sieben bin ich rüber zu Jonas Abendbrot essen. Neugierig fragte ich danach, was losgewesen sei am Strand. Enttäuscht berichtete Jonas, dass er schon von weitem das Moped von Detlef habe stehen sehen. Habe sich aber nicht unbemerkt vorbeischleichen können. Notgedrungen habe er sich die ganze Zeit bei ihm aufhalten müssen. Ansonsten habe Hochbetrieb geherrscht. „Aber weiter ist nichts passiert, Bauer“, meinte er abschließend. Warum nennt er mich Bauer? Nur weil ich vormittags durch die Felder bin?
Während Jonas den Tisch abräumte, hing ich aus dem Fenster und sah ein paar hübschen Jungs beim Fußball spielen zu. Darüber wurde er ernsthaft böse. Machte mir heftige Vorwürfe, dass er wieder alle Arbeit alleine machen müsse. Ich denke, es war nur die Wut über den verpatzten Nachmittag. Und im Grunde war nicht ich sondern Detlef gemeint. Der Abend war jedenfalls wieder gelaufen. Um die brenzlige Lage nicht noch weiter anzuheizen, verkniff ich es mir, weiter aus dem Fenster zu sehen, obwohl ich es sehr gern getan hätte, sondern machte ich mich über den Abwasch her.
Irgendwann in den nächsten Tagen wird wohl Kay zu mir kommen. Wegen des Anstoßens zu meinem Geburtstag. Wird mich dann sicher bei Jonas finden. Und der wird sich dann kaum mit Händen und Füßen dagegen wehren, mit ihm anschließend ins Bett zu kriechen.
Ich weiß, wie und was ich bin. Ich bin eine Schlange! Und dass Jonas keinen Deut besser ist, werde ich ihm beweisen!!

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