Tagebuch einer Schlange / 32. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 32. Eintrag

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Dienstag, d. 08. Mai 84

Am Abend des 17. April saßen Jonas und ich zusammen und haben auf meinen Geburtstag angestoßen. Nachdem wir Letzteres oft genug wiederholt hatten, waren wir in der richtigen Stimmung, um uns wieder einmal gründlich auszusprechen. Wobei mir gründlich vielleicht doch etwas zu übertrieben erscheint. Denn jeder deckte nicht alle seine Karten auf. Und weder Jonas noch ich wissen, wieviel Karten der Andere noch im Ärmel versteckt hat.
Jonas hatte ganz richtig vermutet, dass dahinter eine Absicht bestand. Jetzt wollte er darum wissen, wieso ich ihm Kay und Manfred ins Bett gelegt habe. Die Frage wollte ich ihm aus verständlichen Gründen nicht beantworten. Sagte nur so viel dazu, dass ich dies auch in Zukunft so halten wolle. Gab aber zu, ihm beweisen zu wollen, dass er nicht besser ist als ich.
An dem Abend tat Jonas so, als müsse oder wolle er sein Gewissen erleichtern und beichten. Er erzählte mir, dass Andreas einmal bei ihm gewesen sei, kurz nachdem ich gegangen war. Und das sei das Einzige, was er mir bisher verschwiegen habe. Das wüsste ich, sagte ich, denn ich hätte ihn noch kommen sehen. Jonas hatte nämlich Andreas gefragt, ob er mich hat weggehen sehen. Der hatte das verneint. Was durchaus der Wahrheit entsprechen kann.
Vermute mal, Jonas hatte mir das nur erzählt, weil er befürchtete, ich habe in seinem Taschenkalender hineingeschaut, in dem er es dummerweise notiert hatte. Und nun meinte er, was ich sowieso schon gelesen habe, könne er mir getrost beichten. Dass er diese Befürchtung hegte, deutete sich schon ein paar Tage vorher durch komische Fragen an. Auf die ich natürlich nicht eingegangen bin. Aber jetzt erklärt sich auch, warum er mit den Eintragungen aufgehört hat. Sein Kalender liegt übrigens seitdem an anderer Stelle.
Über Ostern war ich zu Hause bei meinen Eltern in Fürstenwerder. War freudig überrascht über den relativ guten Gesundheitszustand, in dem ich beide vorfand. Sogar der große Garten war bereits bestellt und tipptopp in Ordnung. Hatte mich seelisch und moralisch darauf vorbereitet, Ostern zusammen mit Spaten und Hacke zu feiern. So aber blieb mir nichts weiter zu tun übrig, als zu schlafen, zu essen und zu trinken. Und in der Sonne zu liegen und auf die Geräusche zu lauschen, die einem nur auf dem Lande im Garten ans Ohr dringen.
Für den 20. April hatten wir zwar Theaterkarten. Da musste Jonas alleine hin. Hatte vorgeschlagen, seine Mutter mitzunehmen, aber das wollte er nicht. Heute habe ich die Karten für diesen Monat bekommen. „Romeo und Julia“ am 18. Mai im Großen Haus. Auch dahin muss Jonas alleine gehen. Ich werde an dem Wochenende mit fünfzehn weiteren Sportfreunden auf Rügen sein.
Zum 28. April hatte ich Manfred zu uns eingeladen. Wir wollten mit ihm auf meinen Geburtstag anstoßen. Hat meine Einladung aber nicht beantwortet. Planten deswegen für den Abend einen Kinobesuch. Dann kam doch noch ein Telegramm, in dem er sein Kommen ankündigte. Bin mit Jonas zur S-Bahn, ihn abzuholen. Manfred kam aber nicht. Bis kurz vor sieben hab ich bei mir zu Hause gesessen und auf ihn gewartet. Bin dann aber zu Jonas Abendbrot essen. Manfred nicht da und fürs Kino war es inzwischen auch wieder zu spät. Also musste der Fernseher herhalten. Gegen halb neun klingelte es dann. Manfred bat uns um Entschuldigung. Er habe länger arbeiten müssen und sei deswegen nicht eher weggekommen.
Wir haben dann vergnüglich solange vor uns hin gepichelt, bis Manfred und ich ganz schön einen sitzen hatten. Jonas versteht es immer, sich beim Trinken zurückzuhalten. Der Abend war schon sehr weit fortgeschritten. Jonas ging ins Bad. Ich setzte mich zu Manfred auf die Sessellehne. Obwohl ihm schon die Augen zufielen, meinte er, er würde zum Schlafen lieber mit zu mir kommen. Jonas kam zurück, sah mich dort sitzen und kehrte sofort wieder um. Ich sagte zu Manfred, dass ich das Jonas nicht antun könne. Der wäre dann sicher sehr enttäuscht. Bin dann raus in den Korridor. Während ich mich anzog erzählte ich Jonas davon. Dass ich aber nicht die Absicht hätte, Manfred mitzunehmen. Jonas war anscheinend ins Bad zurückgegangen, um sich mit den Fingern in der Steckdose aufzuladen, denn seine Augen sprühten Funken. Ich tat mein Bestes, um heil der Gefahrenzone zu entkommen. Den Weg nach Hause kannte ich auswendig. Hier stellte ich den großen Plasteeimer ans Bett, entkleidete mich sitzend und legte mich ganz vorsichtig ins Bett. Aber kaum lag ich waagerecht, trat der ganze Abend den Rückweg an. Entleerte den gut gefüllten Eimer ins Klo. Spülte erst das Becken und dann meinen Mund aus. Kroch wieder ins Bett und schlief ohne weitere Störungen durch bis zum nächsten Morgen. Wo ich dann mit einem riesigen Brummkreisel als Kopf aufwachte.
Mittags quälte ich mich zu Jonas rüber. Manfred war schon weg. Dem sei es auch nicht besser ergangen, klagte er. Bei passender Gelegenheit und noch immer verärgert darüber, dass aus der Nummer mit Manfred deswegen nichts wurde, konnte sich Jonas nicht verkneifen, mir ein paar saftige Nackenhiebe zu verpassen. Das war wohl nichts gestern. Der Schuss ging nach hinten los. Und was ich mir alles so im Suff erlaube. So in der Art.
Das mach ich wieder gut, hab ich mir am nächsten Tag gesagt. Und bin gegen Mittag an den Strand gefahren. War vormittags in einem Betrieb außerhalb und von dort dann nach Hause gefahren. Auch der Schuss ging nach hinten los. Trotz des ausgezeichneten Wetters war am Strand nichts zu holen. Musste ungetröstet wieder abziehen.
Heute kam Gerhard A. zu mir ins Büro. Er ist auch in meiner Sektion. Er berichtete, dass er auftragsgemäß gestern Abend bei Kay war. Hat ihn aber nicht angetroffen und deshalb einen Zettel mit der Bitte hinterlassen, er möchte sich wegen der Rügenfahrt umgehend mit mir in Verbindung setzen. Was er mir dann noch anvertraute, hat mich innerlich sehr erschüttert. Heute früh hat ihm Karsten in der Kantine erzählt, dass Kay neuerdings abends auf dem Boulevard in Rostock rumsteht. Wie Eckensteher Nante, meinte Gerhard. Ich dachte dabei mehr an was anderes. Sollte Kay auf die Idee gekommen sein, mit seinem Body Geld verdienen zu wollen. Werde wohl mal sein dortiges Treiben in Augenschein nehmen müssen. Nicht um ihm irgendwelche Vorwürfe zu machen. Möchte aber zu gerne wissen, was los ist mit ihm. Vielleicht muss ich ihn auf die Gefahren hinweisen. Vielleicht sollte ich ihn darauf ansprechen, wenn er wegen der Rügenfahrt zu mir kommt. Wenn an der Sache wirklich was dran ist, dann ist es klar wie Kloßbrühe, warum er sich in letzter Zeit hier so wenig sehen lässt. Er hat ergiebigere Quellen entdeckt!
Noch zwei Nachträge zu den Artefakten, die ich bei meinen archäologischen Grabungen in den Tiefen von Jonas‘ Wohnung zutage gefördert hatte.
Erster Fakt. In Jonas‘ Kollegmappe befand sich eine Klarsichthülle mit zwei Zetteln. Auf einem stand die Adresse des Berliner Jörg Kunz. Auf dem anderen war folgendes aufgelistet:

-  ca. 1,80
-  schlank
-  blaue Augen
-  Tätowierung am rechten Oberschenkel
-  mittelblondes, leicht gewelltes Haar
-  etwa 20-22 Jahre
-  wohnhaft in Marlow
-  arbeitet auf Montage
-  etwa im März Kontakt gehabt
-  nicht wiedergesehen!
 
Auf welche Person und welchen März sich diese Beschreibung bezieht ist mir nicht bekannt. Für diesen März ist in seinem Taschenkalender ein solcher Kontakt nicht bestätigt.
Zweiter Fakt. Die Kladde eines Briefes an einen gewissen Lars Wahl gerichtet. Gefunden in einer Küchenschublade.

Wenn Du nun diese Zeilen liest, wird es Dich wundern, von jemanden Post zu erhalten, den Du nicht kennst.
Und dennoch bin ich so frei, Dir ein paar Zeilen zu schreiben. Ganz unbekannt sind wir uns nämlich doch nicht, wohl glaube ich, dass Du Dich an mich nicht mehr erinnern wirst. Wir trafen uns am 15. August im Kunstgewerbeladen am Saarplatz. Ich frage mich natürlich, ob die dort erstandene Kette Deinen Hals ziert oder sich jemand anderes damit schmückt. Denn das sehr zufällige Zusammentreffen zweier Menschen in einer Verkaufseinrichtung führt sehr selten zum Briefwechsel zwischen diesen Personen. Ob Du nun diesem Brief Bedeutung beimisst und mir zurückschreiben wirst, oder sich ein Treffen zwischen uns anbahnt, entzieht sich meiner Kenntnis. Das wird mir die Zukunft zeigen. Dennoch bin ich sehr optimistisch, zumal Deine Schulbildung einen hohen geistigen Entwicklungsstand voraussetzt.
-  Lars Wahl
-  25 Rostock 1
-  Ulmenmarkt 3
-  EOS E. Thälmann
-  Goetheplatz
-  geb. am

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll? Glaube jedenfalls, dass Schulbildung nicht unbedingt bei allen Leuten einen hohen geistigen Entwicklungsstand nach sich ziehen muss.
Ich war damals im besagten Laden anwesend. Kann mich dunkel daran erinnern, dass der Junge blendend aussah. Mehr aber auch nicht. Ich meine, an mehr kann ich mich nicht erinnern. Jonas hatte seinen Schulausweis gelesen, den der Bengel ihm quasi unter die Nase gehalten hatte. Jonas kann sich natürlich solche Sachen merken. Wir haben damals noch mehrere Tage rumgeflachst. Man müsse da mal hinschreiben. Jonas hat aber nie erwähnt, dass er es wolle oder getan habe.
Vorausgesetzt, Jonas hatte tatsächlich einen solchen Brief abgeschickt. Ich glaube nicht, dass der Lars auf ihn reagiert hätte. Ich hätte es jedenfalls nicht getan. Wenn Jonas wenigstens den Mut aufgebracht hätte, sich ordentlich vorzustellen.

 
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