Tagebuch einer Schlange / 34. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 34. Eintrag

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Dienstag, d. 15.05.84

Es war am Freitagnachmittag. Hatte gerade die Zeitungsschau beendet und war im Begriff zu Jonas rüberzugehen. Plötzlich ging meine Wohnungstür auf und er stürmte herein. Aufgeregt und blass im Gesicht. Er berichtete, dass die Scheibe des Trabant eingeschlagen oder eingeworfen sei. Mein erster Gedanke betraf sofort die Windschutzscheibe. Es handelte sich aber um die Fahrertür. Wie ein Häuflein Unglück saß er auf der Couch, war am Boden zerstört und, wie immer bei solchen Gelegenheiten, vollkommen mutlos. Wir gingen erst in meinen Keller. Gruben dort eine große stabile Plastetüte und eine Rolle Klebeband aus. Dann zum Tatort. Nach einer kurzen Besichtigung holten wir aus Jonas‘ Wohnung Handfeger und Müllschippe, um damit die Scherben zu beseitigen, die im und vor dem Auto verstreut waren. Dann wurde das Loch mit der Tütenfolie notdürftig abgedichtet. In der Nähe machte sich ein Nachbar an seinem Wagen zu schaffen. Der fragte Jonas danach, wie das passiert sei, mit dem Loch. Jonas antwortete: „Als ich heute von der Arbeit kam …“ An dieser Stelle hakte sein Nachbar ein: „Ach was, das ist doch schon seit letztem Wochenende kaputt!“ Da war Jonas erst einmal platt. Keiner seiner Nachbarn hatte es für nötig gehalten, ihm einen Tipp zu geben. Auch ich war sehr erstaunt darüber. Der Trabbi gehört seiner Mutter und Jonas selbst fährt eher selten damit. Zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass es mir wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen wäre, wenn man mir mein Auto geklaut hätte. Jedenfalls nicht eher, als bis ich damit hätte fahren wollen. Wenn ich ein Auto gehabt hätte.
Nach dem Abendessen gingen wir wieder zurück zu mir. Hatte uns fürs Wochenende ein Suppenhuhn mitgebracht. Das wartete in meiner Kochnische und war damit beschäftigt aufzutauen. Wollte es mittels Schnellkochtopf in einen essbaren Zustand überführen.
Während ich mich am Sonnabendvormittag mit Wäschewaschen aufhielt, versuchte Jonas eine neue Scheibe fürs Auto zu erwischen. Und seiner Mutter die Sache schonend beizubringen. Von drinnen sah das Wetter draußen herrlich aus. Darum beschlossen wir, an den Strand zu fahren. Was wir sofort nach dem Mittagessen in die Tat umsetzten. Auf dem Weg dorthin hatten wir allerdings recht ordentlich zu strampeln, um gegen den Wind anzukommen. In unserem „Revier“ war dann aber trotzdem reges Treiben. Hatten Schwierigkeiten ein einigermaßen windstilles Plätzchen zu ergattern.
Was ich eben mit Revier bezeichnet habe, teile ich jetzt mal in mehrere Zonen ein. Aber ohne jede Maßangabe. Kann schlecht die Meterzahl abschätzen:
1. Der steinige Uferstreifen. Mit mal mehr und mal weniger Sand bedeckt. Je nach Belieben des Meeres. Im Sommer ohne Wind zu heiß, mit Wind zu kalt.
2. Die Steilküste. Nur an den Abschnitten passierbar, wo sie eher einer Böschung gleicht. Und sie besteht nicht aus Kreide wie auf Rügen.
3. Breiter Streifen mit unterschiedlichen Sträuchern bepflanzt. Darin eingeschlossen mehrere kleine Lichtungen, die gern von abenteuerlustigen Vertretern der männlichen Bevölkerung zum intimen Verweilen aufgesucht werden.
4. Küstenweg. In sehr schlechtem Zustand. Wird deswegen nur von eingeweihtem Publikum benutzt.
5. Küstenschutzwald. Um ein vielfaches breiter als 3. Mix aus Bäumen und Sträuchern. Nur auf wenigen Trampelpfaden zu durchdringen. Wird aber zu den sich daran anschließenden Feldern lichter.
Und an diese Naht zwischen Wald und Feld mussten wir ausweichen. Wir fanden ein gemütliches Plätzchen genau dort, wo wir vor Jahren Thomas kennengelernt haben. Auf ihn kamen wir dann auch prompt zu sprechen.
Jonas hielt es aber nicht lange auf der Decke aus. Er musste unbedingt nach vorne zum Weg um den Verkehr zu beobachten. Da es sowieso keinen Sinn gehabt hätte, ihn davon abzuhalten, sollte er ruhig gehen. Kaum dass er außer Sichtweite war, machte ich mich auf die Socken und ihm nach. Socken hatte ich natürlich keine an. Auch ich wollte sehen, was sich so tut. Vor allem Jonas‘ Anteil daran. War erst wenige Meter weit vorgedrungen, als Jonas dummerweise zurückgerannt kam. In Panik versetzt trat ich überstürzt und ungeordnet den Rückzug an. Wurde natürlich von Jonas überrumpelt. Aber entgegen meinen Befürchtungen ertrug er meinen aufgedeckten Spionageversuch mit Humor.
Von da an blieb ich brav auf meiner Decke liegen. Überdachte aber Strategie und Taktik. Musste unbedingt den Geländecharakter mehr Beachtung schenken. Als Jonas ein weiteres Mal von einem Erkundungsgang zurückkam, erzählte er, dass gerade ein Junge auf einem Fahrrad nach „oben“ gefahren sei. Also in Richtung Armeegelände. Mit beiger Jacke und Jeans. Der würde mir bestimmt auch sehr gefallen. Ich solle zum Weg gehen und warten. Vielleicht käme der gleich wieder zurück. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und sprang von der Decke auf. „Gut“, sagte ich: „hol du inzwischen den Kuchen raus.“ „Aber nur zehn Minuten!“ gab er mir als Frist. Kämpfte mich zum Weg vor. Und wartete. Nichts zu sehen von beiger Jacke und Jeans. Klapperte nebenher einige „Liegeplätze“ ab. Nur um zu sehen, wer alles so da ist. Wollte nach zwei Jungs sehen, die gerade zum Strand runter waren, als Jonas angerannt kam. In erhitztem Ton gab er mir unmissverständlich zu verstehen, dass es längst Zeit wäre, mich zur Decke zurückzubewegen. Das hat mich sehr erschreckt. Und automatisch eine Kontrareaktion ausgelöst. Von dem schönen Kuchen habe ich dann nichts gegessen. Aus Gnatz. Damit war der Nachmittag beendet. Jonas packte seine Sachen zusammen. Und auf seinem Rad sitzend, wartete er darauf, dass auch ich endlich soweit war. Während der Heimfahrt besserte sich die Stimmung dann doch wieder. Er lotste mich durch Warnemünde. In der löblichen und versöhnlichen Absicht, uns ein Eis zu spendieren.
In Jonas‘ Wohnung hatten wir uns in die bequemen Polster vor dem Fernseher niedergelassen. Als plötzlich die Alarmklingel aufschrie. Es war gegen halb acht. „Bestimmt wieder Detlef“, meinte ich wieder etwas beruhigt. Und wen brachte Jonas mit in die Stube? Andreas! Hat dieser Mensch ein Schwein, dachte ich. Gemeint habe ich beide. Es wurde nicht viel gesprochen. Nur gewartet. Um Viertel nach acht bin ich dann endlich abgehauen. Beim Abschied an der Wohnungstür fragte Jonas, ob er anschließend zu mir kommen solle? Es wäre besser, wenn er das unterlassen würde, antwortete ich. Das wäre ja noch schöner, dachte ich. Erst mit Andreas rumnummern und anschließend mich wieder kontrollieren kommen. Zu Hause hab ich dann meinen Unmut darüber an den eingeweichten Socken und einer Jeanshose ausgelassen.
Ich war noch nicht eingeschlafen, als ich die Tür aufgehen hörte. Sofort stieg meine Temperatur in Richtung Siedepunkt. So viel Dreistigkeit hatte ich nun doch nicht erwartet. Als Jonas dann bei mir auf der Bettkante saß und ihm das Licht der kleinen Lampe in die glasigen Augen schien, sah ich sofort, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Er erzählte mir, dass Andreas sich nicht hat ankommen lassen. Dass er nicht mal seine Jacke ausziehen wollte. Zweimal hätte er versucht, ihn zärtlich auf der Liege niederzuzwingen. Beide Male habe sich Andreas dagegen gewehrt. Zum Schluss habe Andreas gesagt, dass er jetzt gehen müsse, denn er wolle noch packen. Weil er Sonntagfrüh nach Berlin fahre. Dann weiter nach Cottbus. Jonas‘ erster Gedanke war, dass Andreas jemanden von dort kenngelernt hatte. Einen neuen Freund, den er besuchen wolle. Er fragte Andreas. Der sagte nur: „Nein, ich will zu meiner Freundin!“ Da Jonas noch nie eine ausreichende Kontrolle über seine Tränendrüsen hatte, war ihm sofort das Wasser in die Augen gestiegen. Er meinte dann wohl: „Sowas hab ich schon lange befürchtet.“ Er werde aber noch einmal vorbeikommen, habe Andreas gesagt. Und Jonas seltsamerweise zum Abschied einen Kuss gegeben. Während Jonas noch immer auf meiner Bettkante sitzend mir das alles erzählte, rannen zwei kleine Bäche über seine Wangen. Ab und an von einem heftigen Schluchzer geschüttelt, wartete er wohl darauf, von mir getröstet zu werden. Ich konnte ihn sehr gut verstehen und mit ihm mitfühlen. Aber gezeigt habe ich es ihm nicht. Sinngemäß sagte ich zu ihm, dass er es ganz sicher überleben werde. Auch wenn er jetzt von „Strick nehmen“ spreche, werde er darüber hinwegkommen. Wenn er erst einmal einen Neuen gefunden habe, werde der alte Kummer in Rauch aufgehen.
Am Sonntag fuhren wir wieder an den Strand. Als wäre nichts gewesen. Die Sonne schien mit unverminderter Freundlichkeit. Auch der Wind war noch genauso frisch. Diesmal breiteten wir unsere Decke im Küstenwald aus. Auf der wohl einzigen sonnenbeschienenen Lichtung. Zum Weg hin befestigten wir eine zweite Decke und an der rechten Seite stellten wir die aufgepustete Luftmatratze als Windschutz auf. Dieser Platz war der einzig noch freie gewesen. Aber strategisch günstig gelegen. Von diesem Posten aus konnten wir den Küstenweg und den Trampelpfad durch den Küstenschutzwald kontrollieren, ohne selbst gesehen zu werden.
Nach einer Weile ging Jonas trotzdem zum Weg vor. Kurz darauf holte er mich nach. Denn der Junge vom Vortag sei wieder „hoch“ gefahren. Diesmal hatte ich Glück. Bekam ihn auf seiner Rückfahrt zu Gesicht. Jonas hatte Recht, der Bursche sah zum Anbeißen aus. Leider verbietet es der Anstand, und das Gesetz, sowas spontan vom Rad runterzuholen. Jonas ging hinterher. Und ich zur Decke. Erst nach einer ganzen Weile kam Jonas zurück und berichtete von seinem ersten Teilerfolg. Er habe den Jungen weiter unten an der Steilküste sitzend vorgefunden und ihn sogar angesprochen. Jonas hatte aber nicht den Eindruck, dass daraus was werden könne. Wenig später sahen wir ihn erneut den Weg erst hoch und dann wieder runter fahren. Jonas nicht faul, ging ihm wieder nach. Diesmal blieb er aber erschreckend lange fort. Ich machte mir schon Sorgen. Ich schlug mich seitwärts in die Büsche und sicherte unseren Posten mit einer Tretmine. Dann zog ich mich an und ging zum Weg, um nach Jonas Ausschau zu halten. Ich konnte ihn sofort in östlicher Richtung ausmachen. Statt erleichtert war ich verdattert. Er kam zusammen mit dem Jungen den Weg hoch. Der Junge saß auf der Mittelstange seines Fahrrades und stieß sich mit einem Bein ab. Jonas schlenderte gemütlich nebenher. Beide schienen sich intensiv zu unterhalten. Ich zog mich ungesehen zurück. Aber mit hoher Beschleunigung. Beobachtete beide wie sie vor dem Eingang zum Trampelpfad einen längeren Halt machten. Bewundere Jonas dafür, dass er die Leute mit Gesprächen solange bei der Stange halten kann. Dann setzten sich beide wieder in Bewegung. Jonas ging in den Trampelpfad hinein. Und der Junge? Der schob sein Rad hinterher. Dürfte ihm aber schwergefallen sein, sein Fahrrad dadurch zu lavieren. Ich ging in Deckung. Und tat ein wenig überrascht, als beide vor mir auftauchten. Jonas machte uns miteinander bekannt.
Der Bursche heißt also Hagen. Aber nicht von Tronje. Geht in die zehnte Klasse. Will Seemann werden. Und segeln in die weite Welt hinaus. Ist dann nachher mit uns zusammen nach Hause gefahren. Hagen ist aber nicht mit reingegangen. Ist weiter nach Lütten Klein zu seiner Tante. Jonas hatte ihm aber vorsorglich gezeigt, wo er wohnt und gleich mal eine Einladung ausgesprochen. Bleibt abzuwarten, ob und was daraus wird. Am Abend sagte ich dann zu Jonas: „Siehst du, so schnell kann es gehen. Gestern Abend wolltest du dich noch mittels Strick zu Tode baumeln und heute hast du schon wieder einen Neuen.“ Hoffnung leuchtete aus seinen Augen. Im weiteren Verlauf des Abends gab ich ihm Tipps aus meinem Erfahrungsschatz für das taktische Herangehen zur Lösung des Falles „Hagen“. Da ich das ganze kommende Wochenende zu einem Sportfest auf Rügen sein werde, hat er dafür genügend Zeit. Ich werde ihm also nicht im Weg stehen, wenn er am Strand wieder auf Hagen stößt. Das heißt, wenn Hagen nicht schon früher bei Jonas besuchsweise erscheint, um sich mit ihm zu beschnuppern. Ich sagte: „Nehme stark an, dass Hagen dir nicht wird widerstehen können. Deshalb werde ich Sonntagabend sicherheitshalber nicht mehr zu dir kommen, wenn ich von Rügen zurück bin.“ Jonas‘ Antwort darauf ganz typisch: „Das könnte dir so passen, zu sagen, dass du nicht mehr zu mir kommst. Damit willst du dir nur eine Hintertür offenhalten, um mit Kay ins Bett zu gehen. Ich weiß doch Bescheid!“ Darüber gerieten wir in heftigen Streit. Ließ mich in einem unbeherrschten Augenblick dazu hinreißen, ihm mit den Knöcheln meiner Faust vielleicht ein wenig zu stark an die Stirn zu schlagen. Es hat ihm bestimmt sehr wehgetan. Mich selbst hat es sehr erschreckt, dass ich dazu fähig bin. Noch nie in meinem Leben hatte ich jemanden geschlagen. Ich wollte einlenken. Erklärte ihm, dass ich mit dem Auto zurückkommen werde. Kay werde ganz spät zusammen mit den Anderen den Zug nehmen. Es nützte nichts. Jonas schnitt mir noch vier Scheiben Brot für den nächsten Tag ab, gab mein Fahrrad in seinem Keller frei und setzte mich dann kurz und bündig an die Luft. Es tut mir aufrichtig leid, ihn geschlagen zu haben. Ich werde ihn übermorgen um Entschuldigung bitten.
Für die Zukunft muss ich mir unbedingt vornehmen, mich besser unter Kontrolle zu behalten. Es kam zwar schon öfter vor, dass ich verbal aggressiv reagierte, wenn Jonas hinter meine geheimen Gedanken kam. Manchmal waren sie allerdings so geheim, dass nicht einmal ich sie kannte.
 
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