Tagebuch einer Schlange / 35. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 35. Eintrag

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Montag, d. 21.05.84

Auch am Mittwoch bin ich nicht zu Jonas gegangen. Bis dahin hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, wann und ob ich überhaupt jemals wieder zu ihm gehen werde. Musste auf alle Fälle solange abwarten, bis sich die Wellen seiner Erregung geglättet haben würden. Zuerst hatte ich ja vor, ihn am Donnerstag um Entschuldigung zu bitten für meine Grobheiten. Ob ich dies wirklich schon am Donnerstag getan hätte, ist fraglich. Hin zu Jonas musste ich dann aber doch. Und zwar aus folgendem Grund.
Am Mittwochabend nahm ich mir die Wanderwegekonzeption vor, um sie ein letztes Mal zu überarbeiten. War lange damit fertig und lag auch schon im Bett, als es klingelte. Mir war jedenfalls so, als hätte es geklingelt, denn ich war wohl schon weggedämmert. Bin aber automatisch aufgestanden. Was für ein Unsinn, dachte ich auf dem Weg zur Wohnungstür, nachzusehen, wer geklingelt hat, wenn man doch nur geträumt hat, dass es klingelt. Sah sicherheitshalber durch den Spion. Im Hausflur stand Kay. Und wartete darauf, dass ihm jemand die Tür öffnet. So leise wie möglich ließ ich ihn ein. Aber mit Sicherheit nicht unbemerkt. Obwohl die Uhr bereits 22.45 war. Kay meinte, er komme gerade von Jonas. Der sei aber nicht zu Hause gewesen. Jedenfalls habe er auf sein Klingeln hin nicht geöffnet. Darauf sagte ich, dass Jonas, wenn er erstmal eingeschlafen sei, nichts mehr wecke. Nicht mal das Feuerwerk zu Silvester. Vielleicht habe er es gehört und trotzdem nicht aufgemacht, denn momentan ist Stimmung angesagt. Kay schickte einen tiefen Seufzer voraus, bevor er erklärte, dass Jonas sich angeboten hatte, seine Abschlussarbeit abzutippen. Mit diesen Worten drückte er mir einen Packen beschriebener Blätter in die Hände. Und zu kommenden Montag, also gestern, müsste die Arbeit fertig sein. Dann ist Abgabetermin. „Schön, dass du jetzt schon damit ankommst!“ sagte ich begeistert, denn ich liebe langfristige Sachen. Und wie sehe es mit Schreibmaschinenpapier aus, fragte ich ihn. Das wisse er auch nicht! Da ich manchen Leuten gegenüber kein Unmensch bin, versprach ich, am kommenden Tag mit Jonas darüber zu sprechen und ihm die Papiere zu übergeben. Also letzte Woche Donnerstag. Um der Dringlichkeit und dem Ernst der Angelegenheit Nachdruck zu verleihen, begann Kay sich auszuziehen. Es ist immer wieder eine Freude, seinen Körper in Aufregung zu sehen. Bei der Körperreinigung nach dem Vollzug des Beischlafs gab ich zu bedenken, dass es angeraten sei, dass Kay auch persönlich mit Jonas über die Arbeit spreche. Dies wollte Kay dann am Donnerstag auch tun. Aber erst nach 22 Uhr, denn er habe Spätschicht.
Deswegen ging ich am Donnerstag mit klopfendem Herzen zu Jonas. Er tat zwar, als hätte es keinen Streit gegeben, ich bat ihn aber trotzdem um Entschuldigung. Und besah mir verstohlen seine Stirn. Die keinen sichtbaren Schaden davongetragen hatte. Ich erzählte ihm von Kay. Und übergab ihm dessen lose Blätter. Seinen versprochenen späten Besuch kündigte ich ihm auch an.
Kay ging aber nicht zu ihm. Nicht am Donnerstag, nicht am Freitag und auch am Sonnabend kümmerte er sich nicht um seine Abschlussarbeit! Man glaubt es nicht, wie sorglos die jungen Leute heutzutage durchs Leben gehen. Es ist ganz normal, dass sich Fehler und andere Unstimmigkeiten in eine solche Arbeit einschleichen. So auch in Kays. Jonas hatte die Abschrift deswegen nicht beenden können, als Kay endlich am Sonntagabend aufkreuzte.
Das war also gestern. Jonas erzählte mir heute davon. Als ich am späten Nachmittag zu ihm kam, saß er noch immer über seiner Reiseschreibmaschine gebeugt und hämmerte auf die unschuldigen Tasten ein. Gestern Abend habe er endlich die noch offenen Fragen mit Kay durchsprechen können. Danach sei Kay dabei gewesen, sich die Schuhe zuzubinden, als Jonas zu ihm gesagt haben will, und er beschwört, dass es so war: „Wenn du nun schon mal hier bist, könntest du wenigstens mit mir ins Bett gehen!“ Soviel Witz hätte ich Jonas gar nicht zugetraut. Er hat es offengelassen, ob sich Kay die Schuhe wieder ausgezogen hat. Und ich hab lieber nicht weiter nachgefragt. Bis halb acht wollte Jonas mit dem Tippen fertig sein. Zu dann hatte er Kay zu sich bestellt. Ich ging um sieben. Jonas meinte zwar, ich könne ruhig bleiben, denn er werde sowieso nicht mehr mit Kay schlafen. Nie wieder! Das brauche er auch nicht, wenn er nicht wolle, sagte ich anerkennend. Ich bin sicher, dass das nur eine rhetorische Redensart war. Es ist jetzt 22.40 Uhr. Und möglicherweise sind beide noch immer drinnen.
 
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