Tagebuch einer Schlange / 38. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 38. Eintrag

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Sonntag, d. 28. Okt. 84

Am 24. September, einem Montag, fuhr ich um 6.51 Uhr aus Rostock ab. Musste zu einem Lehrgang nach Magdeburg. Für ganze zwei Wochen. Die drei Briefe, die ich während dieser Zeit an Jonas schrieb, sollen dazu genug sein.

                                                                                                                                                           Magdeburg, d. 24.09.84
Hallo Jonas!
Wie gewünscht gleich einen Brief von hier und mir.
Es ist jetzt 20.35 Uhr. Bin gerade aus der Hotelgaststätte gekommen, wo ich mir ein Glas Saft zu 1,20 M eingeholfen habe.
Ich kann Dir sagen, meine Begeisterung schlägt jetzt schon haushohe Wellen! Wär ich bloß nicht hierher gefahren. Angekommen bin ich mit 1,5 Stunden Verspätung, weil der Zug unbedingt von Stendal aus über Oebisfelde nach Magdeburg fahren musste. Übrigens, Dein Nachbar (der vom Strand) saß ein Abteil Weiter.
An dem Hotel bin ich mit meinem schweren Koffer natürlich vorbeigelaufen, weil es den beiden „Windmühlen“ (wie die Hochhäuser in Lütten Klein) von der Straße aus nicht anzusehen war, dass darin das Bauarbeiterhotel versteckt ist. Im Schreiben stand drin, man habe sich bis 12 Uhr im Haus 2 zwecks Anmeldung einzufinden. Stimmte nicht. Ich wurde zurück nach Haus 1 geschickt. Und Anmeldung sollte erst ab 14 Uhr sein. Ich sah mich schon wieder mit meinen Koffer durch Magdeburg schwitzen, denn eine Abstellmöglichkeit für mein „Köfferchen“ gäbe das ganze Haus nicht her, sagte man mir. Die Dame am Empfang war bei aller Unzulänglichkeit doch recht freundlich und wies mir zu guter Letzt noch ein Zimmer zu. Ein Zimmer mit zwei Betten. Schöne Scheiße! Meinen Zimmergenossen hatte sie gerade wieder weggeschickt. Der arme Kerl. Er begegnete mir. Konnte ihn natürlich nicht als solchen erkennen. Es ist hier zwar recht sauber, aber an Service hat das Hotel nicht viel zu bieten. Außer die drei Zahnputzbecher für sechs Mann und immerhin ein Handtuch pro Nase.
Das Stärkste an diesem Haus ist aber, dass man im Fahrstuhl auf die 10 drücken muss, wenn man in die 9. Etage will. Es sind tatsächlich zwei Windmühlen, wie sie auch in Lütten Klein stehen. Dies hier oben scheint eine Drei-Zimmer-Wohnung zu sein. Eine Toilette für alle. In der Küche hängen drei Waschbecken. Nirgends ein Stück Seife. Ein Glück, dass ich die wenigstens mithabe.
Nach der Eröffnung des Lehrgangs wurde als Erstes der Plan umgestellt. Wo wir essen sollen, ist noch nicht raus. Tagen werden wir jedenfalls jeden Tag woanders. Na, Mahlzeit!
! Ich komme am Wochenende nicht nach Hause. !
Sei ganz lieb gegrüßt von Bodo

                                                                                                                          Magdeburg, d. 29.09.84
Hallo!
Die Wellen meiner „Begeisterung“ haben sich noch immer nicht geglättet.
Als Positivum kann ich einzig und allein anführen, dass sich sowohl gestern als auch heute die Sonne von ihrer besten Seite zeigte bzw. zeigt. Gefallen an dieser Stadt habe ich inzwischen aber nicht finden können.
Im Moment sitze ich in der „Marietta-Bar“. Das ist eine Pizzeria, wo ich vor wenigen Minuten ein Apfelwürzfleisch und davor eine Zwiebelsuppe als Mittagessen verspeist habe. Hier drin kann man sehr gut sitzen. Es gibt hier noch mehrere kleine Lokalitäten, in denen es sehr gemütlich ist. Allerdings sind auch die Preise sehr gemütlich! Gestern Abend habe ich im Ratskeller das erste Mal was Vernünftiges gegessen. Hat sehr gut geschmeckt und war wirklich sehr reichlich. Nicht, dass es zu viel war. Du weißt, das gibt es für mich nicht. Ich war davon aber rundum satt. Dazu eine Flasche Cola und einen lumpigen Weinbrand. Machte zusammen 15 Mark.
Am Dienstag war ich in den Städtischen Gewächshäusern. Die sind wirklich sehenswert. Leider sind die vielen Pflanzen, zumeist aus tropischen Ländern, sehr schlecht ausgeschildert. Das scheint mir überhaupt ein allgemeines Qualitätsmerkmal dieser Stadt zu sein. Die haben dort einen Gummibaum zu stehen, zu dem man wirklich Baum sagen kann. Wenn Du Dich an den Birnenbaum im Garten meiner Eltern erinnern kannst, dann hast Du von seiner Größe die richtige Vorstellung. In Prenzlau hatte ich auch einen Gummibaum. Der sah aber mehr einer mit Blättern dekorierten Peitsche ähnlich. Palmen gab’s in den unterschiedlichsten Varianten. Was mich daran verwundert hat, waren die Holzkübel, in denen sie standen. Sie erschienen mir im Verhältnis zur Größe der Palmen etwas zu klein geraten. Ananaspflanzen gab es auch zu sehen. Allerdings ohne Ananas.
Draußen, vor dem Fenster der Pizzeria, ziehen massenhaft Leute vorbei. Ganz Magdeburg ist mit Buden und Hüttchen zugepflastert. Der Grund dafür hat sich mir bisher noch nicht erschlossen. Jedenfalls rennen jetzt die Menschen hektisch von einer Bude zur nächsten. Darunter strömen auch einige hübsche Jungs. Die gibt es hier also auch.
Mittwoch war ich in der Sauna. Die Schwimmhalle steht gleich neben dem „Hotel“. Man vergleicht ja immer und alles mit bereits Bekanntem. Und auch hierbei ist die Sauna nicht gut weggekommen. Zu sehen gab es nichts.
Am Donnerstag war ich dann in der Kino-Bar. Habe mir den blonden Schmetterling angesehen. Ein US-amerikanischer Film.
Selbstverständlich will ich nicht verschweigen, dass ich bei all meinen hiesigen Freizeitunternehmungen auch immer gleichzeitig ein Auge für das bessere Geschlecht übrig hatte. Denn wie überall laufen auch in Magdeburg hübsche Knaben herum. Wo man aber die süßesten davon findet, habe ich bis jetzt leider noch nicht herausbekommen.
Gestern ging ich nachmittags in den Zoo. Dort konnte ich trostweise wenigstens das Ding von Zebra, Nashorn und einigen Ponys besichtigen.
So, ich werde jetzt bezahlen und mich anschließend im Museum umsehen. Und dann vielleicht noch in die „Cafébar Liliput“.
Es ist gleich 17 Uhr. Im Moment sitze ich vor eine Mokka-Milch-Eis-Bar. Gegenüber dem Centrum-Kaufhaus. Habe mir zu 3,30 M ein Schokoeis mit Eierlikör gegönnt. Im Museum habe ich mich über zwei Stunden herumgetrieben. Es gibt dort viele sehenswerte Exponate: Mineralien, Fossilien, Maschinen, Ur- und Frühgeschichte und eine sehr schöne Jugendstil-Ausstellung. Eine Jungenstiel-Ausstellung wäre sicher noch schöner gewesen! In der Abteilung „Insekten“ sind wunderschöne und riesengroße Schmetterlinge zu bestaunen. Leider alle tot. "Liliput" ist am Wochenende leider nicht auf Gäste eingestellt. Darum sitze ich jetzt hier.
Trotz des schönen Wetters ist es hier doch recht langweilig. So ganz allein! Ich hätte doch nach Hause fahren sollen. Ich hoffe, dass auch Dir die Zeit lang werden wird.
Du glaubst gar nicht, was hier für Typen rumlaufen. Was die sich alles drunter und drüber ziehen. Und was die alles in den Ohrläppchen stecken haben. Das geht in kein Ochsenfell. Hier sitzen nämlich auch welche davon rum. Deswegen komme ich darauf. Manche sahen ursprünglich nicht schlecht aus. Sich so zu verstümmeln! Wer weiß, was sie an sich noch durchstochen und behängt haben? Das müsste dann sehr hinderlich sein, oder? Dazu kommt noch erschwerend ihre widerliche Sprechweise, die sie am Leibe haben. Es gibt aber trotzdem ein paar besonders hübsche Exemplare darunter, wie ich gerade bemerke. Ich weiß nicht, aber in Rostock ist es wohl nicht so extrem wie hier. Oder? Oder gehe ich zu Hause zu wenig unter die Leute?
Wenn ich jetzt mit dem Schreiben Schluss mache, dann hat das nichts weiter zu bedeuten, als das ich jetzt genug geschrieben habe. Freitag sehen wir uns wieder. Bis dahin verbleibe ich mit den herzlichsten Grüßen und Küssen als
Dein Bodo

                                                                                                                                  Scheißstadt, d. 01.10.84
Hallo Jonas!
Das ist nun der letzte Lehrgang, zu dem ich mich habe treiben lassen. Wahrscheinlich gibt es eine bestimmte Lehrgangsgebührenhöhe, ab der die Kammer der Technik zu glauben scheint, dass der Lehrgang sich selbst organisiert. In unserem Fall hat er es jedenfalls nicht für nötig gehalten, sich mit organisatorischen Dummheiten aufzuhalten.
Heute fing nun das sogenannte Betriebspraktikum an. Um 10.30 Uhr trafen wir uns, das heißt, der Teil, der für diesen Betrieb vorgesehen war, an der Straßenbahn-Haltestelle vor dem SKET. Für den Fall, dass Du auch nicht weißt, was das heißen soll: Schwermaschinenkombinat „Ernst Thälmann“. Hier werden unter anderem die Anker für die Schiffe fabriziert. Das Erste, was nicht vorbereitet war, waren unsere Passierscheine. Machte aber nichts, wir waren ja nicht bei Werftens. Also beschloss man, so etwas nicht zu brauchen. Alsdann wurden eiligst Helme für unsere weichen Birnen beschafft. Danach wurden wir durch die Abteilung rundgeführt, in der wir ab morgen 6.00 Uhr tätig werden sollen. Was uns erwartet ist Lärm und Dreck nicht ohne Gestank. Was kann man auch anderes von einem Gießereibetrieb erwarten.
Da die Schufte von Kollegen/Kolleginnen mir nicht meine Arbeitsklamotten aus dem Betrieb nachgeschickt haben, musste ich mich heute Morgen gezwungenermaßen neu einkleiden. Und zwar mit einem ganz flotten Schlosseranzug in modischem Dunkelblau, einem poppigen Hemd aus Vietnam zu 10 Mark und zeitlosen Arbeitsschuhen aus schwarzem Panzerlader. Habe mir für alles eine Quittung geben lassen, versteht sich.
Kurz bevor wir die Gießerei wieder verlassen haben, sind wir zusammen mit drei Meister in einen Umkleideraum gegangen. Dort haben wir diverse Schränke gewaltsam aufgebrochen, um herauszubekommen, ob eventuell ein paar leere für uns darunter sind.
Ich schätze, so oder ähnlich wird es die ganze Woche weitergehen.
Ich hoffe, am Freitag um 11.36 Uhr von hier abfahren zu können. Wenn wir nicht noch vorher wegen der aufgebrochenen Schränke in Gewahrsam genommen werden. Du wirst mich dann unberührt von fremder Hand in Empfang nehmen können. Denn hier ist viel Mangel an Gelegenheit. Also bin ich tugendhaft!
Herzliche Grüße von Bodo
 
Der Gerechtigkeit halber muss ich noch anmerken, dass wegen meiner Arbeitsklamotten die Schufte nicht unter meinen Kollegen/Kolleginnen zu suchen sind, sondern in den Reihen unserer Deutschen Post.


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