Tagebuch einer Schlange / 39. Eintrag - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Tagebuch einer Schlange / 39. Eintrag

Texte > Tagebuch Schlange
  
Sonntag, d. 18. Nov. 84

Nicht weit von unserer Haustür entfernt beleuchtet eine Straßenlaterne um sich herum eine runde Fläche im frisch gefallenen Schnee. Da hindurch führt der mit Sand bestreute Plattenweg. Es war am Freitag, als uns der schneeträchtige Himmel die ersten hilflosen Flocken bescherte. Und seit gestern Abend bedeckt nun eine geschlossene Schneedecke die Umgegend.
Aus den Boxen meines Plattenspielers erklingt Berlioz‘ Symphonie Fantastique. Nicht wegen des rotlodernden Feuers auf dem Titelbild ausgewählt, sondern mehr zufällig herausgegriffen aus der linken Seite der langen Plattenreihe. Vor mir auf dem Tisch hält ein Teelicht den am Nachmittag übriggebliebenen Tee warm. Von weit draußen blicken leuchtende Fensteraugen anderer Häuser herüber.
Es kann auch an einem anderen Tag gewesen sein. Aber ich glaube, es war am Sonnabend, den 20. Oktober, als Enrico vormittags kam, um Altstoffe abzuholen. Hatte schon lange auf seinen Besuch gewartet. War aber trotzdem darauf vorbereitet. War gerade damit beschäftigt, einen Kuchenteig anzurühren als er klingelte. Ich hatte ihn reingelassen und gebeten, in der Stube Platz zu nehmen. Denn dort hatte ich vorsorglich auf dem Couchtisch ein Pornoheft positioniert. Ich begab mich wieder in die Küche. Denn ich müsse weiter in dem Teig rühren. Das tat ich aber nicht, sondern goss mir einen tüchtigen Schluck Weinbrand in ein Glas. Eigentlich wollte ich den für den Kuchen verwenden. Mit dem Erscheinen von Enrico erfasste mich eine prickelnde Nervosität, ein Herzklopfen und ein Zittern in den Fingern, wie ich es schon lange nicht mehr so deutlich erlebt hatte. Beim Einschenken bebte die Flasche so sehr, dass sie klirrend gegen das Glas schlug. Ohne zu genießen goss ich den Weinbrand in mich hinein. Und hoffte auf seine beruhigende Wirkung.
Enrico fiel sofort das Heft ins Auge. Ohne Hemmungen griff er zu und begann darin zu blättern. Und auch ohne sich zu genieren stellte er die scheinheilige Frage, was das für ein Heft sei. Natürlich erwartete er darauf keine Antwort, kam aber trotzdem blätternd in die Küche, um anzudeuten, dass er nur sehr wenig Zeit habe. Was ich im Stillen sehr bedauerte. Zumal ich nicht umhin konnte, in seiner Trainingshose ein reges Leben zu bemerken. Der zuckende Hügel hätte erforscht werden sollen. Stattdessen händigte ich ihm die gesammelten Altstoffe aus und lud ihn zum Nachmittag ein, um den Kuchen zu verkosten.
Er kam tatsächlich. Setzte sich in einen Sessel und langte sofort zu dem Heft, das noch immer auf dem Tisch lag. Ich bereitete in der Küche den Tee zu und brachte das nötige Geschirr in die Stube. Enricos waches Interesse an den erotischen Bildern war überdeutlich am begeisterten Aufschwung abzulesen, den seine Hose nahm. Von der Seite her liebkosten meine Blicke seine männliche Stärke.
Nach dem Kuchen, ich hatte zwischenzeitlich den Fernseher eingeschaltet, legte ich ihm weitere von diesen aufklärenden Heften vor. Meinte, wir könnten sie uns gemeinsam ansehen. In meiner Vorstellung würde die Sache genauso ablaufen wie in Prenzlau mit Kuno. Der hatte sich ohne zu zögern zwischen meine Schenkel gesetzt, sich an mich gelehnt und verwöhnen lassen. Es geschah wie von selbst. Ich setzte mich also zu Enrico, der unermüdlich blätterte. Als ich aber endlich eine Hand auf seinen Schenkel legte, sprang er auf und stürmte ans Fenster. Just in dem Moment begann es fürchterlich zu hageln. Er kam zurück, setzte sich aber vorsichtshalber auf die Couch, wohl weil ihm die Sache nicht ganz geheuer vorkam. Er fuhr fort, zu blättern. Ich, nicht faul, setzte mich daneben. Während wir miteinander sprachen, gelang es mir, wenigstens einmal seinen ganzen Stolz zu umfassen. Ganz sicher nur, weil er es probehalber zuließ. Leider fühlte er sich für derartige Zärtlichkeiten noch nicht bereit. Nach diesem ersten Erlebnis ist er bald aufgebrochen. Er erbat sich einige Hefte zum Mitnehmen, was ich natürlich nicht zulassen konnte. Meine Furcht, er werde mir den Nachmittag übelnehmen und sich künftig von mir fernhalten, war aber unbegründet, denn letzten Donnerstag war er wieder hier und hat nach Altstoffen gefragt. Ich hoffe, ihm eines Tages mit mehr als Altstoffen dienlich sein zu können.
Ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Obwohl es unter ihr schon überall juckt und kribbelt. Es kann aber nicht mehr lange dauern. Bis die Erlösung kommt.
 
Zurück zum Seiteninhalt