Tagebuch einer Schlange / 40. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 40. Eintrag

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Dienstag, d. 20.11.84

Heute bekam ich mit der Post endlich die Übersetzung meines Briefes an Juri. Den hatte ich in Sotschi kennengelernt. Hatte diesen Brief wohl schon Mitte Oktober geschrieben. Die gute Tamara, die mir die Übersetzungen meiner Briefe besorgt, kam leider nicht eher dazu. Weil sie nebenher an ihrer Doktorarbeit schreibt, kann ich ihr nicht einmal böse sein. Im Gegenteil, ich muss ihr in doppeltem Maße dankbar sei, dass sie dennoch Zeit für meine Briefe findet. Außerdem hat sie momentan riesige Probleme. Ihr Mann, der sie aus der Sowjetunion mitgebracht hatte, will sich von ihr scheiden lassen. Sie tut mir wirklich leid. Sie befürchtet, wieder zurück in die SU zu müssen. Im Betrieb will man mir nun in scherzhafter Weise einreden, dass ich Tamara heiraten müsse, denn ich hätte es für diesen Fall versprochen. Wenn die guten Leute wüssten!
Was ich nicht alles zu machen gezwungen bin, um vor den Kollegen/Kolleginnen so zu erscheinen, wie ich in Wirklichkeit gar nicht bin. Ich rede über Dinge, die Frauen betreffend, die mich in keinster Weise interessieren und von denen ich gar keine, aber auch nicht die mindeste Ahnung habe. Ich reiße hin und wieder einen kleinen anrüchigen Witz und lasse alle in dem Glauben, dass ich das „stille Wasser“ in Person bin. In der vergangenen Woche habe ich sogar ein Foto mit zur Arbeit genommen, auf dem ein kleines süßes Mädchen abgebildet ist. Das Bild hatte mir deren Mutter geschickt, ohne zu behaupten, dass ich der Vater sei. Neun Monate vor der Geburt des Mädchens waren wir in jungen Jahren zusammen auf einem Lehrgang an der Sonderschule des Zentralrates der FDJ in Neu Buckow. Weil sie zu Hause einen Freund hatte, war ich damals so taktvoll ihr zu verschweigen, dass noch vor meinem Samenerguss das Kondom wegen nicht fachgerechter Anwendung verlorengegangen war. Dieses Foto, die Kleine darauf mag vielleicht fünf Jahre alt sein, legte ich in die oberste Schublade meines Schreibtischs. In der Gewissheit, dass es eine der Frauen dort finden wird, so neugierig wie sie sind. Es hat auch nicht lange gedauert. Noch am gleichen Tag muss es jemand entdeckt haben, denn als ich wieder nachsah, lag es verkehrt herum drin. Bis jetzt hat aber noch keine der Frauen deswegen nachgefragt. Mal abwarten, wie lange sie es aushalten.
Wenn Dieter tatsächlich bei uns anfangen sollte, dann wäre er eine ungeheure seelische und moralische Stütze für mich. Aus diesem Grund unterstütze ich seine Bewerbung so gut es mir heimlich möglich ist. Kenne darf ich ihn vorher nicht. Meine Chefin hat mich diesbezüglich schon befragt. Irgendetwas will sie an seinem Schriftbild erkannt haben.
Dieter war übrigens am 27. Okt. bei mir. Er hatte einen Jörg mitgebracht, den Jonas und ich noch nicht kannten. Wir hatten zu einer intimen Party geladen. Um 21 Uhr, wir waren schon in bester Stimmung, stieß auch noch Kay dazu. Er wollte wie schon zwei Wochen vorher wieder zu Jonas, hatte ihn aber diesmal nicht zu Hause angetroffen. Es war ein gelungener Abend. So gut habe ich mich hier noch nicht amüsiert. Wir hatten eine Kirschbowle vorbereitet, die uns ausgezeichnet behilflich war. Beim Schein der Petroleumlampe schmetterten wir Lieder, von denen keiner den Text kannte. Dieter dirigierte, was er immer tut, wenn er in Stimmung ist. Was er dirigiert hat, war nicht ersichtlich. In seinen Pausen bemühte er sich sehr um Kay, dem das nicht unangenehm zu sein schien. Währenddessen umwarb Jörg meinen Jonas, was dem zu schmeicheln schien. Nur ich saß dumm da und versuchte krampfhaft von alledem nichts zu bemerken.
Jonas hatte bereits am Vorabend auf eine eindringliche Beglückung durch Kay gehofft, wurde aber versetzt. Als es hieß, das Feiern habe ein Ende, es wird aufgebrochen, glaubte er, doch noch zu seinem Recht zu kommen. Kay war auch drauf und dran mit ihm zu gehen, aber Dieter, der auch kein Kostverächter ist, überredete ihn, mit zu sich zu kommen. Jonas musste seine ganze Kraft aufwenden, um seinen heruntergeklappten Unterkiefer wieder hoch zu bekommen. Ob Jörg auch noch mit zu Dieter oder lieber mit zu Jonas ging, entzieht sich meiner Kenntnis.
Am 3. oder 4. Nov. waren Dieter und Jörg noch einmal hier. Aber nur auf ein kurzes Schwätzchen. Am 15. kam dann Dieter gegen 21 Uhr nach einer Dienstreise allein noch zu uns, um sich wegen seiner Bewerbung auf den neuesten Stand bringen zu lassen.
Momentan machen Jonas und ich eine 14-Tage-Phase durch. In der ersten Zeit suchte Kay uns, oder besser gesagt Jonas, in größeren und unregelmäßigen Abständen auf. Dann kam er alle vier Wochen. Und jetzt alle zwei Wochen. Entweder an einem Freitag- oder einem Sonnabendabend. Kommendes Wochenende wäre es dann wieder soweit. Jonas sieht dann immer zu, dass er rechtzeitig bei sich zu Hause ist. Und ich verkrümele mich beizeiten, wenn ich bei ihm bin. Kay gibt uns immer genügend Zeit, so dass jeder unbehindert seiner Wege gehen kann, bevor er auf der Bildfläche erscheint. Jonas bittet mich zwar jedes Mal zu bleiben. Rein rhetorisch, denn er wird mich nicht ernstlich so quälen wollen. Und ich will nicht ein Stützrad an seinem Fahrrad sein.
 
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