Tagebuch einer Schlange / 41. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 41. Eintrag

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Sonntag, d. 25. Nov. 84, Totensonntag

Die Berliner Philharmoniker spielen die Metamorphosen von Richard Strauss, dirigiert von Herbert von Karajan. Ein Werk, das ich bisher nicht kannte.
Ich fange mit letztem Donnerstag an. Von der S-Bahn kommend ging ich schnurstracks in die große Kaufhalle. Ich hatte eine Bahn eher erwischt und wollte die gewonnenen zehn Minuten zum Einkaufen nutzen. Dann wäre das schon mal erledigt, wenn Jonas von der Arbeit nach Hause käme. Schob also zielstrebig den plumpen Einkaufswagen durch die Regalreihen und legte Brot, Butter und eine kleine Ente, die fürs Wochenende bestimmt war, hinein. Nach dem Bezahlen wartete ich vor der Kaufhalle auf Jonas. Er würde auch mit der S-Bahn kommen und auf dem Weg nach Hause dort vorbei müssen. Unter dem Vordach hatte sich nicht weit von mir ein junger Mann postiert. Dafür, dass es regnete und sehr windig war, war er zu leicht bekleidet. Beständig wehte ihm das lange braune Haar ins Gesicht. Dann legte er seinen Kopf in den Nacken und schüttelte es nach hinten, wo es nur für Sekunden verblieb. Ihm war ganz offensichtlich kalt, denn er hatte seine rechte Hand tief in seiner Hosentasche vergraben. Ganz gern hätte er wohl auch seine Linke in die Hose gesteckt, aber in der hielt er eine weiße Sammelbüchse. Ohne den leisesten Anflug von Enthusiasmus erwartete er, dass die vorüberziehenden Passanten ihr überschüssiges Kleingeld rausrückten. Da er während meines Wartens nicht einen Pfennig erhielt und nicht ein einziges Mal die Klingelbüchse schüttelte, erfuhr ich nicht, ob er schon irgendwelche Einnahmen hatte. Da er recht ansehnlich war musterte ich ihn gelegentlich von oben bis unten. Er aber hatte damit zu tun, seine offene Jeansjacke zu beobachten, die der Wind immer wieder wie ein Segel aufblähte. Nach ein paar Minuten kam Jonas. Zusammen gingen wir zu ihm nach Hause.
Der Abend blieb ruhig. Wir blätterten ein wenig in der Wochenpost, lösten die leichteren Fragen des Kreuzworträtsels darin, hatten Abendbrot gegessen und ferngesehen. Kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich nach Hause gegangen bin. Die Ente hatte ich in Jonas‘ Kühlschrank vergessen.
Auch am Freitag habe ich auf Jonas gewartet. Des Regens wegen aber in der Bushaltestelle. Meine Schuhe und auch die Hose waren gut durchnässt. Obwohl ich alle Leute genau beobachtete, die von der S-Bahn kamen, haben wir uns verfehlt. Als ich die Schnauze vollgenug hatte bin ich nach Hause. Habe mir dort trockene Socken und andere Schuhe angezogen, eine zweite Hose regensicher verpackt und mit Einkaufsbeuteln versehen bin ich in die kleine Kaufhalle gegangen, die am Weg zu Jonas steht.
Bei Jonas angekommen, er bastelte gerade am Schloss der Wohnungstür herum, vergeblich, wie sich später herausstellte, zog ich die quitschnasse Hose aus und hängte sie im Bad zum Trocknen auf. Dann stülpte ich mir die trockene über. Kaum damit fertig, erzählte Jonas, dass am späten Vorabend, so gegen drei Viertel elf, Kay auf einen Sprung vorbeischaute. Und damit einen Tag früher als erwartet. Eine knappe Stunde war er da. Es sei alles ziemlich schnell vonstattengegangen, denn er habe ja die nassen Klamotten ohnehin ausziehen müssen. Und weil sich Kay selbst ins Auge gespritzt hatte, wenn ich Jonas‘ Worten trauen kann, muss es auch sehr intensiv zugegangen sein. Nur gut, dass Kays Zeug nicht übermäßig ätzend ist, denn dann wäre er jetzt auf einem Auge blind. Auf meine Frage, ob sie sich auch über irgendetwas unterhalten hätten, meinte Jonas nur, dass dazu keine Zeit war. Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Und mit vollem Mund spricht man sowieso nicht. Kay muss anschließend dermaßen geistig erschöpft gewesen sein, dass er im Weggehen sogar seine Armbanduhr vergaß. Vertrottelt kann er ja wohl noch nicht sein. Die Uhr hatte ich übrigens beim Eintreten auf der Flurgarderoben liegen gesehen.
Kay muss ganz schön unter Druck gestanden haben, wenn er bei strömendem Regen mit Sack und Pack von der S-Bahn aus gleich zu Jonas marschiert, statt nach Hause. Da fällt mir ein, dass es damals auch ein Donnerstag war, als Kay abends aus Greifswald kommend zu mir kam und die Nacht hier verbrachte. Seither habe ich ein Badehandtuch zu viel.
Ich hatte angenommen, dass sich Kay am Freitagabend, oder wenigstens am Sonnabendabend seine Uhr abholen käme. Im Stillen hatte ich sogar den Verdacht, er habe sie gerade deswegen vergessen. Doch er kam nicht. Wie ich hörte, will er bereits am kommenden Wochenende wieder nach Rostock kommen. Und zu Jonas, nehme ich an. Denn dann bringt er endlich das Geld mit, welches ich noch von ihm zu bekommen habe.
 
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