Tagebuch einer Schlange / 42. Eintrag - Abstrakte Irrwege

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Tagebuch einer Schlange / 42. Eintrag

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Dienstag, d. 4. Dez. 84

Ein Kollege brachte in der vergangenen Woche ein Korb voller Baumpilze mit in den Betrieb. Habe davon zwei größere wunderschöne und mehrere kleine Exemplare ausgesucht. Dazu hatte ich in der näheren Umgebung von Büschen und Hecken verschiedene Zweige abgeschnitzelt. An denen hängen gelbe, rote oder schwarze Beeren. Alles zusammen hatte ich auf den Couchtisch geworfen und dann daraus zwei brauchbare Adventsgestecke gezaubert. Der Zweite steht bei Jonas. In meinem brennt jetzt eine dicke gelbe Kerze vor sich hin. Nebenher dudelt eine Platte mit Christimas Carols of European Nations von Supraphon.
Am Sonnabendvormittag haben wir bei mir wieder einmal umdekoriert. Zu Weihnachten, sozusagen. Zwei blühende Jünglinge schauen nun von der Wand herunter ins Zimmer und auf alle seine Besucher. Diese Aktion wurde kurzfristig beschlossen und ausgeführt, denn wir hatten zum Nachmittag eigentlich Besuch erwartet. Dieter wollte uns seinen neuen Berliner Freund vorstellen. Sie kamen aber nicht. Vielleicht hatte er auf die Schnelle keinen finden können.
Jonas erwartete bereits ab Donnerstag mit Ungeduld den Augenspritzer. Deswegen zog ich mich schon Donnerstagabend beizeiten zurück. Freitagnacht schlief dann Jonas bei mir. Wir waren zuvor im Theater. „Kabale und Liebe.“ Auch das hat uns gut gefallen. Es war eine sehr temperamentvolle Aufführung. Jedenfalls an den Stellen, die es erforderlich machten.
Auch am Sonnabend wartete Jonas vergeblich. Der arm Junge! Kay kam erst am Sonntagnachmittag. Er sei erst am Vormittag nach Rostock gekommen. Und seinen Besuch begründete er damit, dass er etwas vergessen habe. Von meinem Geld war nicht die Rede. Ich war gerade in der Küche beschäftigt. Und weil Jonas sich nicht in meinem Beisein zu sehr um Kay bemühen mochte, war er nach wenigen Minuten wieder verschwunden.
Am Montag hatte ich mich kurz nach 21 Uhr von Jonas verabschiedet. Bald darauf war Kay zu ihm gekommen, um sich ebenfalls zu „verabschieden“. Denn er wollte heute Vormittag wieder abfahren und erst zu Weihnachten zurückkommen. Dann werde ich in Fürstenwerder sein.
Ich habe heute nicht nach Kay gefragt. Und werde es auch möglichst nicht tun und solange es sich vermeiden lässt, ihn auch nicht erwähnen. Jonas beklagte sich darüber, dass ich ihm sein ausgezeichnetes Verhältnis zu und mit Kay vorwerfe bzw. vorhalte. Ich täte es nicht, würden sie nur gemeinsam Topflappen häkeln!
Ich halte es nicht mehr lange aus. Es strämmt und zwickt an allen Enden. Ich wünschte, es würde endlich anfangen und schnell zu Ende gehen.
 
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