Tagebuch einer Schlange / 43. Eintrag - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Tagebuch einer Schlange / 43. Eintrag

Texte > Tagebuch Schlange
  
Dienstag, d. 8. Jan. 85

Das neue Jahr ist heute eine Woche alt. Es sieht ganz so aus, als wird es genauso werden, wie auch das alte war.
Hatte mit Dieter vereinbart, dass wir zusammen Silvester feiern wollten. Er sollte dann seinen Freund mitbringen. Jonas und ich warteten jeden Tag darauf, dass er sich mal bei uns zwecks genauerer Absprache meldet. Er hat sich aber lange Zeit nicht sehen lassen. Wir haben zwischenzeitlich zweimal an seiner Tür geklingelt, aber jedes Mal vergeblich. Nach dem ersten Anlauf gingen wir auf dem Rückweg beim Schauspieler Thomas O. vorbei. Auch dort trafen wir niemanden an. So vergingen die Tage. Dann endlich fing der Winter an. Laut Kalender. Es war Freitag, der 21. Dezember. Um 22.45 Uhr klingelte es dann bei Jonas. Ich wollte die Nacht bei ihm verbringen. Und da ich auf der blöden Couch nur schlecht schlafen kann, hatte ich mich auf der Liege, die eigentlich Jonas vorbehalten ist, eingerichtet. Weil ich Kay vor der Tür vermutete, wechselte ich wegen der besseren Übersicht rasch meinen Schlafplatz, während Jonas öffnen ging. Ich hatte ihn gebeten, so zu tun, als schliefe ich. Aber es stand weder Kay, der Winter noch sonst jemand vor der Tür. Die ganze Aufregung war umsonst. Bin wieder zurück auf die Liege und Jonas auf die Couch. An Schlafen war aber nicht zu denken. Hatte schon den ganzen Abend mit einem Klingelzeichen gerechnet. Und das tat ich auch weiterhin.
Gegen 23.15 Uhr klingelte es erneut. Nun begann der ganze Zirkus von vorn. Ich wieder rüber auf die Couch, Jonas zur Tür. Diesmal kam Jonas nicht so bald zurück. Da wusste ich, dass der ersehnte Heiland erschienen ist. Sein Leuchten drang sogar durch die Zimmertür. Jonas kam und stellte mir eine alberne und belanglose Frage, die sich Kay ausgedacht hatte. Keine Ahnung, warum Kay noch immer irgendwelche Alibis vorschiebt. Er muss sich doch keine Vorwürfe machen. Ich schärfte Jonas noch einmal ein, dass ich tief und fest schlafe. Er ging ins Bad, wo Kay wartete. Dort zog er ihn aus und brachte ihn so vorbereitet zu seiner Liege. Jonas hatte mir mal erzählt, dass er stets das Decklicht anlässt, wenn er mit Kay schlafe. Diesmal musste er es auslassen und darauf verzichten, Kays strammen Körper auch noch mit Blicken zu streicheln. Und mir reichte das Licht, das die Nacht durchs Fenster schickte. Diesmal hatte die Liege nicht darunter zu leiden, denn die Sache lief sehr gehemmt und kein bisschen stürmisch ab. Zudem waren beide mucksmäuschenstill und bereits nach fünfundvierzig Minuten fertig. Ein Dritter stört eben gewaltig. Wenn er nicht mitmachen will.
Mich fragte niemand, wie ich mich während dieser knappen Stunde gefühlt habe. Und es hätte auch nichts genützt, wenn ich nicht ganz verstohlen zugesehen hätte. Ich denke, dass ich künftig solche Situationen vermeiden kann.
Am 24. Dezember fuhr ich zu meinen Eltern, um mit ihnen das Weihnachtsfest und am 29. ihrer beider Geburtstag zu feiern. Für gewöhnlich kam ich gleich nach den Feiertagen zurück. Aber diesmal wurde meine Mutter fünfundsiebzig. Da wollte ich dabei sein. Es ist nicht unbedingt das Leben, das ich in Rostock führe, das mich immer so schnell zurückverlangt. Nein, es ist im Winter die eisige Bude meiner Eltern, die mich forttreibt. Am wärmsten habe ich es dort im Bett. Und das ist auch nicht immer hundert prozentig. Am Ofen sitzend verbrennt man sich hinten den Rücken, während einem vorne die Knie frieren.
Weitere Geburtstagsgäste: Tante Lucie aus Woldegk, Wilhelm Buschatz, langjähriger Geselle meines Vaters, Irma Zimmermann, die Gemeindeschwester, Frau … als Vertreterin der Volkssolidarität, zwei Frauen vom Rat der Gemeinde, meine Schwester mit Mann, meine Nichte, ein Neffe mit Freundin und der Gemeindepfarrer.
Am 30. Dezember war ich um 19 Uhr wieder zurück bei Jonas. Er erzählte von Dieters Besuch am Nachmittag, der diesmal seinen Freund dabei hatte. Detlef sei inzwischen auch dagewesen. Weitere Besucher scheint er während meiner Fernreise nicht gehabt zu haben. Er hatte aber alle Verabredungen und Vorbereitungen für Silvester getätigt, sodass nur noch weniges gemeinsam zu tun übrig war.
Start unserer Silvesterparty war Punkt neunzehn Uhr. Ich will nicht alle Jungs aufzählen, die hier gegessen und getrunken haben. Ich weiß nicht mal wie viele es waren. Detlef und sein Freund Werner zusammen mit einem Bekannten namens Gerd (24) waren jedenfalls die Ersten. Dieter und sein Freund haben uns bis 22 Uhr warten lassen. Alle anderen hatten schon gegessen und auf dem Tisch stand dafür ein 20-Liter-Aquarium, in dem statt Fische Apfelsinenscheiben und Kirschen dümpelten. Jeder konnte nach Belieben aus der Bowle schöpfen.
Dafür, dass so viele Schwule auf einem Haufen beisammen hockten, war es eine gelungene Feier. Detlef war zwar zeitweise etwas muffelig und Jonas machte mir auch Sorgen. Aber sonst ging es ganz lustig und friedlich zu. Dieter und sein Freund kamen zuletzt und gingen folgerichtig auch zuerst. Dieter hatte mit dem Neuen einen guten Griff getan. Mir hat er auch sehr gefallen. Er war gleich sehr aufgeschlossen und zutraulich. Ich brachte beide runter zur Haustür. Als ich wieder hochkam und noch im Korridor stand, sah ich Jonas, der sich unter den Augen aller noch Anwesenden, die ja wussten, dass wir zusammen sind, von Gerd befummeln ließ. Beide hatten zu meinem Verdruss schon den ganzen Abend rumgeknutscht und mich vor allen lächerlich gemacht. Das sich Jonas das nicht hatte verkneifen können, wird er noch lange zu spüren bekommen. Bin nicht zurück ins Zimmer gegangen, sondern in die Küche. Ein Berg schmutzigen Geschirrs ist in solchen Momenten ein gutes Mittel, sich abzureagieren, ohne dabei gesehen zu werden. Es hatte nicht mehr lange gedauert, bis beide auch verschwunden waren. Ich habe weiter Geschirr abgewaschen und mir dabei die Diskussion zwischen Detlef und Werner über die Unmöglichkeit von Jonas‘ Verhalten anhören müssen. Plötzlich war ich gar nicht mehr so sauer auf Jonas, sondern hätte am liebsten Detlef zusammen mit seinem Freund zum Teufel gewünscht. Beim Abschied hatte Jonas mich zu um 10 Uhr zum Frühstück bestellt. Es fiel mir sehr schwer, in Ordnung zu sagen. Gedacht habe ich aber, du kannst mich mal!
Am Neujahrsmorgen bin ich um halb neun aufgestanden, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen, so brummte mir der Schädel. Dabei war ich höchstens angeschwipst. Allerdings hatte ich erst um viertel fünf ins Bett gehen können, nachdem die letzten beiden Gäste wirklich zum Teufel gegangen waren. Zuerst versuchte ich ein wenig aufzuräumen, musste mich aber wieder hinlegen. Kurz vor dem Mittag kam Jonas. Als wenn nichts gewesen wäre. Half mir, die noch verbliebenen Schäden zu beseitigen. Der Verlust hielt sich aber in engen Grenzen. Anschließend haben wir bei ihm zu Mittag gegessen
Am 2. Januar haben wir im Hansatheater Asterix bei der Eroberung von Rom beobachtet. Für den 4. lagen Theaterkarten bereit, verzichteten aber wegen der eisigen Kälte und des Schneesturms auf diesen Genuss. Da es wieder Freitag war und das letzte Mal zwei Wochen her, verbrachte ich nur den ersten Teil des Abends bei Jonas. Am nächsten Tag bestätigte sich meine Vermutung. Diesmal benutzte Kay sein Startbuch als Vorwand. Vergessen hatte er aber seine Handschuhe. Na, ihm wird noch heiß genug gewesen sein. Ab 15. Januar hat er zwei Wochen Urlaub.
 
Zurück zum Seiteninhalt