Tagebuch einer Schlange / 44. Eintrag
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Sonnabend, d. 12.01.85
Bin um 8.45 Uhr aufgestanden, holte nach dem Frühstück einen Beutel Kartoffeln aus der Kaufhalle und stand danach bis mittags in der Küche, um Jonas was Vernünftiges zum Essen vorsetzten zu können, wenn er sich um 12 Uhr hier einfinden würde. Seit Tagen schon sitzt er an seiner Nähmaschine, um seinem kleinen Bruder zur Jugendweihe eine Hose zusammenzubasteln. Bin zwar nicht in der fachlichen Lage, zu erkennen, was genau er da treibt, aber wenn er sagt, dass es eine Hose wird, dann wird es wohl eine Hose werden.
Kurz bevor er mich mit dem Abwasch allein ließ, fragte er: „Hast du was? Du bist so komisch. Bist du traurig?“ Wäre er nur um mein körperliches und seelisches Wohlergehen besorgt gewesen, dann wäre es in Ordnung gewesen. Hätte da nicht sein typischer bemitleidender Unterton voller Hohn mitgeschwungen! Hierfür hätte ich ihm in die Nase beißen mögen. Ich antwortete lediglich: „Wenn du nichts hast, ich habe auch nichts.“ Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, keinen einzigen Gedanken an Andreas zu verschwenden. Konnte aber nichts dagegen tun, dass der mir die ganze Zeit im Kopf herumspukte. Andreas war nämlich gestern Abend zu Jonas gekommen. Just in dem Moment, als ich mir die Stiefel anzog. Es war bereits 18.30 Uhr und ich musste mich sputen, denn ich wollte mit dem Gewerkschaftskollektiv ins Kabarett gehen.
Jonas hatte vor Tagen erzählt, dass er Andreas in Evershagen an der Bushaltestelle getroffen und eingeladen hatte. Ich könnte Jonas zugutehalten, dass er nicht gewusst hat, dass Andreas ausgerechnet gestern Abend kommen wollte. Wenn er es allerdings doch gewusst hat, dann wäre das eine Erklärung dafür, dass er von meinem Vorschlag überhaupt nicht begeistert war, für den Abend Eddi einzuladen, damit er nicht allein rumsitzen brauchte. „Na gut, dann nicht“, hatte ich gesagt, als er meinen Vorschlag ablehnte. „Ich verspreche dir, mich in Zukunft zu bessern und dir keine Jungs mehr ins Bett legen.“ Weil ich das auf Eddi bezog sollte es sich wie ein Scherz anhören. Ich glaube aber, ich hab es sehr ernst gemeint. Beim Essen hatte Jonas nebenbei erwähnt, dass er gestern Abend noch bis um zehn genäht habe. Daraus sollte ich wohl schlussfolgern, dass das mit Andreas nicht so toll war. Oder das sie erst danach angefangen haben?
Eddi lernten wir über einen lustigen Umweg kennen. Detlef hatte damals, es war eine Woche vor Weihnachten, eine Kontaktanzeige in die Zeitung setzen lassen. Weil wir davon wussten, antworteten wir darauf mit einer Weihnachtskarte. Leider ist unser Scherz bei ihm nicht gut angekommen, denn er bekam zusammen mit unserer nur ganze drei Zuschriften. In der Zeitung lasen wir noch eine andere Annonce. Auf die antworteten wir auch mit einer Weihnachtskarte. Die hatten wir allerdings frankiert und mit Jonas‘ Anschrift adressiert in einen Umschlag gesteckt. Wir dachten, wer zu Weihnachten Kontakt sucht, ist bestimmt einsam, und so erwarteten jeden Tag die Karte zurück in Jonas’ Briefkasten. Stattdessen klingelte es bei Jonas. Weil wir Dieter erwarteten, sagte ich: „Er hat wohl gerochen, dass es bei uns Glühwein gibt!“ Deswegen war ich nicht wenig erstaunt, als Jonas statt Dieter den Eddi mit ins Zimmer brachte. Vom Sehen her war er uns kein Unbekannter. Ich hatte Jonas im Sommer am Strand einmal auf ihn hingewiesen und gemeint, dass der auch in der Werft arbeitet. Eddi ist Kumpel durch und durch, mit ihm würde ich zwar die letzten Pferde stehlen, aber nicht ins Bett gehen.
Heute vor einer Woche am frühen Nachmittag. Hatte ein wenig geschlafen und lag noch immer auf Jonas‘ Liege als er die Zeitung und einen Brief ins Zimmer brachte. Ich rührte mich nicht. Jonas öffnete zuerst den Brief und las ihn, dann blätterte er die Zeitung durch. Den Brief ließ er anschließend in einer der vielen Schubladen der Anbauwand verschwinden, die Zeitung im Altpapier. Dass er den Brief später nicht erwähnte, machte mich ohne es zu wollen neugierig. Hier eine Abschrift davon.
Lübbenau, 02.01.‘85
Lieber Jonas!
Auch wenn Du mir gesagt hast, dass Du sehr schreibfaul bist und ich Dir nicht so oft (nur zum Geburtstag und zu Ostern) eine Karte oder einen Brief schreiben soll, schreibe ich Dir heute schon. Ich verspreche aber, mich zu bessern und die mir zugewiesenen Termine zu beachten, es sei denn, ich bekäme Gelegenheit, auf einen Gruß von Dir zu antworten (dann hätte ich nämlich wieder eine Ausrede). Ich bedaure es nämlich sehr, dass wir nicht wenigstens so in Kontakt bleiben können, denn neben und ganz davon abgesehen, was in der Zeit von – bis passierte und dass ich jetzt noch bedauere, nicht vor 5 Jahren schon in Rostock gewisse Leute (einen Leut) gekannt zu haben, hat mir sehr gefallen, was Du da so von Dir gegeben hast. Lass Dir gesagt sein: Du bist mit Deiner Identitätsfindung weiter als Detlef. Und Du akzeptierst sie auch mehr. Bei Detlef ist vieles wohl bloß „Mache“.
Heute habe ich in Berlin schon mal nach diesem Stoff gefragt. Du müsstest mir auch mal irgendwie zukommen lassen, wie der Stoff heißt, und wieviel m² Du benötigst. Wenn ich etwas bekomme, schicke ich es Dir zu.
Am Neujahrstag habe ich Detlef und Werner geweckt. Am Nachmittag waren wir im „Alten Hafen“. Es war eine ganz nette Party. Werner musste eher gehen und als er weg war, hatte Detlef viel Zeit, sich um den „AK Homosexualität“ und um mich zu kümmern. Die Atmosphäre war recht offen und einer der 3 älteren anwesenden Herren fand Gefallen an mir. Das musste er unbedingt in einem Kuss zum Ausdruck bringen, von dem ich gar schön überrumpelt war. Detlef zischte mir daraufhin zu: „Wenn Du über Nacht wieder woanders bleiben willst, dann sag‘ mir gleich Bescheid!“, und das in einem Ton … Ich versuchte daraufhin ganz ruhig zu bleiben und ihm beizubringen, dass er keine Rechte auf mich habe (Jalousie ganz runter) und dass unser beider Zusammensein eine Sache zwischen Bodo, Dir und mir sei, in die er sich nicht einzumischen brauche. Er beruhigte sich aber erst nach einer ganzen Weile. Ich zog es dann vor, nicht bei Detlef zu nächtigen. Allerdings auch nicht bei eben jenem älteren Herrn, sondern bei einem netten Mann, der außer mir noch 4 Jungen Unterkunft bot und wo nichts passierte.
Das alles wollte ich Dir nur mitteilen, damit Du nicht nur Detlefs Version hörst. Und weil ich mich eigentlich auch noch einmal Deiner Meinung über den Ausgang der Silvesterfeier versichern wollte. Bodo und Detlef müssen diesen Brief sicher nicht unbedingt lesen, aber entscheide Du das.
In der Hoffnung auf ein freundschaftliches Wiedersehen verbleibt (Dich noch spürend)
Gerd ®
Lieber Jonas!
Auch wenn Du mir gesagt hast, dass Du sehr schreibfaul bist und ich Dir nicht so oft (nur zum Geburtstag und zu Ostern) eine Karte oder einen Brief schreiben soll, schreibe ich Dir heute schon. Ich verspreche aber, mich zu bessern und die mir zugewiesenen Termine zu beachten, es sei denn, ich bekäme Gelegenheit, auf einen Gruß von Dir zu antworten (dann hätte ich nämlich wieder eine Ausrede). Ich bedaure es nämlich sehr, dass wir nicht wenigstens so in Kontakt bleiben können, denn neben und ganz davon abgesehen, was in der Zeit von – bis passierte und dass ich jetzt noch bedauere, nicht vor 5 Jahren schon in Rostock gewisse Leute (einen Leut) gekannt zu haben, hat mir sehr gefallen, was Du da so von Dir gegeben hast. Lass Dir gesagt sein: Du bist mit Deiner Identitätsfindung weiter als Detlef. Und Du akzeptierst sie auch mehr. Bei Detlef ist vieles wohl bloß „Mache“.
Heute habe ich in Berlin schon mal nach diesem Stoff gefragt. Du müsstest mir auch mal irgendwie zukommen lassen, wie der Stoff heißt, und wieviel m² Du benötigst. Wenn ich etwas bekomme, schicke ich es Dir zu.
Am Neujahrstag habe ich Detlef und Werner geweckt. Am Nachmittag waren wir im „Alten Hafen“. Es war eine ganz nette Party. Werner musste eher gehen und als er weg war, hatte Detlef viel Zeit, sich um den „AK Homosexualität“ und um mich zu kümmern. Die Atmosphäre war recht offen und einer der 3 älteren anwesenden Herren fand Gefallen an mir. Das musste er unbedingt in einem Kuss zum Ausdruck bringen, von dem ich gar schön überrumpelt war. Detlef zischte mir daraufhin zu: „Wenn Du über Nacht wieder woanders bleiben willst, dann sag‘ mir gleich Bescheid!“, und das in einem Ton … Ich versuchte daraufhin ganz ruhig zu bleiben und ihm beizubringen, dass er keine Rechte auf mich habe (Jalousie ganz runter) und dass unser beider Zusammensein eine Sache zwischen Bodo, Dir und mir sei, in die er sich nicht einzumischen brauche. Er beruhigte sich aber erst nach einer ganzen Weile. Ich zog es dann vor, nicht bei Detlef zu nächtigen. Allerdings auch nicht bei eben jenem älteren Herrn, sondern bei einem netten Mann, der außer mir noch 4 Jungen Unterkunft bot und wo nichts passierte.
Das alles wollte ich Dir nur mitteilen, damit Du nicht nur Detlefs Version hörst. Und weil ich mich eigentlich auch noch einmal Deiner Meinung über den Ausgang der Silvesterfeier versichern wollte. Bodo und Detlef müssen diesen Brief sicher nicht unbedingt lesen, aber entscheide Du das.
In der Hoffnung auf ein freundschaftliches Wiedersehen verbleibt (Dich noch spürend)
Gerd ®