kaputte Gedichte - Abstrakte Irrwege

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Glaube an den schwarzen Blues


Im trägen Dahin des großen Flusses schwimmt matt ein ferner Rhythmus, der Rhythmus sich wiegender Leiber, von himmelwärts gestreckten Armen. Rhythmus geschlagener Trommeln. Sich aus der tiefen Flut erhebend, steigt der Blues das Ufer empor, geht  in jede Hütte. Da bist du, sitzend und lauschend. Geboren als Kind eines Kindes in der Nacht eines Torbogens am Rande der Stadt. Aufgewachsen im tosenden Wellblechmeer, grundlostief mit steilen Ufern, im stinkenden Sog einer Gosse, die schwarztriefend  deine Seele befleckt. Alt siehst du aus, gebrochen, in deiner schönsten Jugend. Auf deinem Gesicht kleben tausende der zugeschobenen Nieten aus einer Lotterie, die für dich kein einziges Los der Freude birgt. Allein die Flasche bringt Vergessen,  allein der Stoff zaubert bunte Farben, wo grauer Nebel die Welt verhüllt. Der schwarze Blues durchströmt die Adern, wallt durchs Herz und nährt dein Hirn. Er reißt dich heraus aus diesem Meer, treibt dich dorthin, wo funkelndes Licht in den  Straßen ist, wo lackglänzendes Leder die Sonne spiegelt. Hierher trugen dich die Träume von Millionen, hier schmeckt die Sünde süß, das Laster macht den guten Ton. Du aber darfst hier bleiben, solange du den Lack polierst, hier darfst  du atmen, solange du dir unterstehst zu leben. Deine Hände dürfen den Abfall kehren, solang sie nicht die Trommel rühren zum schwarzen Blues, der wachrüttelt, der die Augen schärft, der die Gedanken vereint. Das Verlangen, zu leben, treibt  dich, treibt dich durch die große Stadt, hinein in den Glanz einer fremden Welt. Du bist verloren, sobald der Glanz dein Auge trifft, sobald dein Ohr die süßen Melodien erkennt, die aus dem Paradiese kommen. Den Rausch, der jetzt über deine  Sinne kommt, darfst du nicht bis zur Neige kosten. Dir ist nicht vergönnt, deine Hände aufzuhalten unter dem Füllhorn der Göttin, die auch Freiheit heißt. Gehetzt wirst du mit Lackschuhen, zurück in die Gosse gestoßen, aus die dich einst der Blues kraftvoll gezogen hatte. Hörst du ihn? Hörst du, wie er wieder leise ruft, wie fernes Rauschen eines Baches? Wie er im Ton schwillt, wie er brüllt? Donnern eines Orkans zwischen Wellblech! Hörst du ihn denn nicht schreien? Du hörst ihn! Und wieder läßt er dich aufstehen, der schwarze Blues, aufbegehrender Gesang dunkler Kehlen. Treibt dich fort, fort aus Not und Elend, läßt dich der Stadt entfliehen, in der du geboren, in der du keinen Platz. Fliehen zu würdigerem  Leben, fliehen zu Brot und Wein! Treibt dich im Kampf den Berg hinauf, Berg aus schweren Fesseln. Treibt dich vorwärts, ihn zu bezwingen, Fessel um Fessel. Hoch vom Gipfel des Berges sollst du den Frieden sehen, der dann im Tal eine Stadt erbaut, die  dir gehören wird, dir und deinen Brüdern! Du sollst die Zukunft sehen, die euch gehören wird! Blues, mein zweites Ich, wer sagt mir denn, daß im Tal wirklich die Zukunft liegt, wenn meine Augen nur Nebelschleier schauen werden? Wer sagt mir, daß die Fesseln wirklich alle gesprengt, wer, daß Not und Elend ertrunken sind? Folge seinem Rhythmus, seinen geschlagenen Trommeln, folge seinem schwarzen Gesang und glaube an ihn, denn er hat das Tal gesehen! Folge und glaube ihm!


Rostock, Nov. 1977
(05. Mai 2011)



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